Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission *)
Am 28. Oktober 1993 verabschiedete die von Bundestag und Bundesrat eingesetzte "Gemeinsame Verfassungskommission" nach fast zweijährigem Bestehen einstimmig ihren Abschlußbericht. Zur Kritik der Kommission und des Verfahrens vgl. den Beitrag von Walter Boehlich in den "Blättern", 12/1993, S. 1028-1032.) Aus dem 167 Druckseiten umfassenden Bericht Bundestagsdrucksache 12/6000 vom 5.11.1993) dokumentieren wir den Wortlaut der "Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission" sowie im Anhang daran das "5. Kapitel: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid". Wir werden auf die Tätigkeit der Gemeinsamen Kommission und den Umgang mit der Verfassungsfrage zurückkommen. D. Red.
ARTIKEL 3 GG
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
ARTIKEL 20a GG
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
ARTIKEL 20b GG
Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten.
ARTIKEL 23 GG
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union und für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Absätze 2 und 3.
(2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.
(3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz.
(4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären.
(5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.
(6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren.
(7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
ARTIKEL 24 GG
(1 a) Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen.
ARTIKEL 28 GG
(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar.
(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung.
ARTIKEL 29 GG
(7) Sonstige Änderungen des Gebietsstandes der Länder können durch Staatsverträge der beteiligten Länder oder durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 50 000 Einwohner hat. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf. Es muß die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise vorsehen.
8) Die Länder können eine Neugliederung für das jeweils von ihnen umfaßte Gebiet oder für Teilgebiete abweichend von den Vorschriften der Absätze 2 bis 7 durch Staatsvertrag regeln. Die betroffenen Gemeinden und Kreise sind zu hören. Der Staatsvertrag bedarf der Bestätigung durch Volksentscheid in jedem beteiligten Land. Betrifft der Staatsvertrag Teilgebiete der Länder, kann die Bestätigung auf Volksentscheide in diesen Teilgebieten beschränkt werden; Satz 5 2. Halbsatz findet keine Anwendung. Bei einem Volksentscheid entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wenn sie mindestens ein Viertel der zum Bundestag Wahlberechtigten umfaßt; das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Der Staatsvertrag bedarf der Zustimmung des Bundestages.
ARTIKEL 45 GG
Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. ARTIKEL 50 GG Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. ARTIKEL 52 GG (3 a) Für Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundesrat eine Europakammer bilden, deren Beschlüsse als Beschlüsse des Bundesrates gelten; Artikel 51 Abs. 2 und 3 Satz 2 gelten entsprechend.
ARTIKEL 72 GG
(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.
(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne von Absatz 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann.
ARTIKEL 74 GG
(1) Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: 5. -; (Überführung der Materie in die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes als Artikel 75 Abs. 1 Nummer 6 (neu)) 8. -; 18. den Grundstücksverkehr, das Bodenrecht (ohne das Recht der Erschließungsbeiträge und das landwirtschaftliche Pachtwesen, das Wohnungswesen, das Siedlungs- und Heimstättenwesen; 25. die Staatshaftung; 26. die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben.
(2) Gesetze nach Abs. 1 Nummer 25 bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.
ARTIKEL 75 GG
(1) Der Bund hat das Recht, unter den Voraussetzungen des Artikels 72 Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder zu erlassen über: 1 a. die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, soweit sie die Zulassung zum Studium, die Studiengänge, die Prüfungen, die Hochschulgrade, das wissenschaftliche und künstlerische Personal betreffen; 2. die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse; 6. den Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland.
(2) Rahmenvorschriften dürfen nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten.
(3) Erläßt der Bund Rahmenvorschriften, so sind die Länder verpflichtet, innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen.
ARTIKEL 76 GG
(2) Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrate zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. Verlangt er aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Die Bundesregierung kann eine Vorlage, die sie bei der Zuleitung an den Bundesrat ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat nach drei Wochen oder, wenn der Bundesrat ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, nach sechs Wochen dem Bundestag zuleiten, auch wenn die Stellungnahme des Bundesrates noch nicht bei ihr eingegangen ist; sie hat die Stellungnahme des Bundesrates unverzüglich nach Eingang dem Bundestag nachzureichen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder 24 beträgt die Frist zur Stellungnahme neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung.
(3) Vorlagen des Bundesrates sind dem Bundestage durch die Bundesregierung innerhalb von sechs Wochen zuzuleiten. Sie soll hierbei ihre Auffassung darlegen. Verlangt sie aus wichtigem Grunde, insbesondere mit Rücksicht auf den Umfang einer Vorlage, eine Fristverlängerung, so beträgt die Frist neun Wochen. Wenn der Bundesrat eine Vorlage ausnahmsweise als besonders eilbedürftig bezeichnet hat, beträgt die Frist drei Wochen oder, wenn die Bundesregierung ein Verlangen nach Satz 3 geäußert hat, sechs Wochen. Bei Vorlagen zur Änderung dieses Grundgesetzes und zur Übertragung von Hoheitsrechten nach Artikel 23 oder 24 beträgt die Frist neun Wochen; Satz 4 findet keine Anwendung. Der Bundestag hat über die Vorlagen in angemessener Frist zu beraten und Beschluß zu fassen.
ARTIKEL 77 GG
(2 a) Soweit zu einem Gesetze die Zustimmung des Bundesrates erforderlich ist, hat der Bundesrat, wenn ein Verlangen nach Abs. 2 Satz 1 nicht gestellt oder das Vermittlungsverfahren ohne einen Vorschlag zur Änderung des Gesetzesbeschlusses beendet ist, in angemessener Frist über die Zustimmung Beschluß zu fassen.
ARTIKEL 80 GG
(3) Der Bundesrat kann der Bundesregierung Vorlagen für den Erlaß von Rechtsverordnungen zuleiten, die seiner Zustimmung bedürfen.
(4) Soweit durch Bundesgesetz oder auf Grund von Bundesgesetzen Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, sind die Länder zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt.
ARTIKEL 87 GG
(2) Als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt. Soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, werden abweichend von Satz 1 als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt, wenn das aufsichtführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist.
ARTIKEL 87d GG
(1) Die Luftverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt. Über die öffentlich-rechtliche oder privat-rechtliche Organisationsform wird durch Bundesgesetz entschieden.
ARTIKEL 88 GG
Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können einer Europäischen Zentralbank übertragen werden.
ARTIKEL 93 GG
(2 a) Bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes.
ARTIKEL 115e GG
(2) Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. Zum Erlaß von Gesetzen nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 2, Artikel 24 Abs. 1 oder Artikel 29 ist der Gemeinsame Ausschuß nicht befugt.
ARTIKEL 118a GG
Die Neugliederung in dem die Länder Berlin und Brandenburg umfassenden Gebiet kann abweichend von den Vorschriften des Artikels 29 unter Beteiligung ihrer Wahlberechtigten durch Vereinbarung beider Länder erfolgen.
ARTIKEL 125 a GG
Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen nachträglicher Änderung dieses Grundgesetzes nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, gilt als Bundesrecht fort. Es kann durch Landesrecht aufgehoben und ergänzt werden.
Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid
Im 5. Kapitel ihres Berichtes resümiert die Gemeinsame Verfassungskommission ihre - ergebnislose - Befassung mit den vielfältigen Anstößen zur Einführung plebiszitärer Elemente ins Grundgesetz. Nachstehend der Wortlaut dieses Kapitels. D. Red.
I. Empfehlung Die Gemeinsame Verfassungskommission gibt keine Empfehlung zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid oder von anderen Formen unmittelbarer Demokratie ins Grundgesetz ab.
II. Problemstellung Die Diskussion um die Einführung von Formen unmittelbarer Demokratie in das Grundgesetz ist seit der Entscheidung des Parlamentarischen Rates für das demokratisch-repräsentative System nicht verstummt. Durch die Herstellung der deutschen Einheit und insbesondere durch die Verfassungsgebung in den neuen Ländern erhielt diese Diskussion neue Nahrung. Nach der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates (BR-Drucksache 360/92, Rz. 177 ff.) nahm sich daher auch die Gemeinsame Verfassungskommission dieses Themas an. Sie stieß damit auf ein außerordentliches öffentliches Interesse, wie mehr als 266 000 Eingaben belegen. Kein anderes Thema hatte eine solche Resonanz.
III. Verfahrensablauf Die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zu dieser Thematik wurden in der 6. Sitzung am 14. Mai 1992 aufgenommen. Dabei bestand Einigkeit darüber, daß die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie nicht in Frage gestellt werden sollte, weil diese sich nach übereinstimmender Auffassung prinzipiell bewährt habe. Meinungsunterschiede bestanden nur darüber, ob dieses gegebene System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie um Elemente unmittelbarer Demokratie, insbesondere um Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, ergänzt werden könne und solle. Die Gemeinsame Verfassungskommission fand zu keiner einheitlichen Beurteilung. Nach einer Anhörung von Sachverständigen am 17. Juni 1992 und einem Berichterstattergespräch erreichte in der abschließenden Beratung der 17. Sitzung vom 11. Februar 1993 keiner der von der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen und der SPD eingereichten Anträge die erforderliche Zweidrittelmehrheit: Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen (Kommissionsdrucksache Nr. 32), der ein abgestuftes Verfahren von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid vorsah, wurde bei 4 Ja-Stimmen und 8 Enthaltungen abgelehnt. Über den Antrag der SPD (Kommissionsdrucksache Nr. 35) wurde absatzweise abgestimmt.
Dabei votierten für die Einführung der Volksinitiative 29 Kommissionsmitglieder, 27 lehnten die Einführung ab, Enthaltungen gab es nicht. Für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid stimmten 28 Kommissionsmitglieder, 27 stimmten dagegen. Es gab keine Enthaltung. Da somit der Antrag insgesamt nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit erhielt, wurde die Folgeänderung in Artikel 76 Abs. 1 GG mit 27 Nein-Stimmen bei 26 Ja-Stimmen und 1 Enthaltung abgelehnt. Der weitere Antrag der SPD (Kommissionsdrucksache 51), der vorsah, daß auf Verlangen von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages über ein verfassungsänderndes Gesetz ein Volksentscheid stattfinden solle (Fakultatives Verfassungsreferendum), wurde von 23 Kommissionsmitgliedern unterstützt. 29 stimmten dagegen, es gab 1 Enthaltung. Ein dritter Antrag der SPD (Kommissionsdrucksache Nr. 36) richtete sich auf eine Ergänzung von Artikel 45c GG.
Der Petitionsausschuß sollte danach verpflichtet werden, bei sogenannten Massenpetitionen, die von mindestens 50 000 Stimmberechtigten unterzeichnet sind, die Petenten oder ihre Vertreter anzuhören. Dieser Antrag erhielt 28 Stimmen bei 28 Gegenstimmen und wurde damit ebenfalls nicht angenommen. IV. Begründung 1. Die Befürworter von Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid und anderen Formen unmittelbarer Demokratie begründeten ihre Vorschläge damit, daß die Zeit gekommen sei, den Bürgerinnen und Bürgern über die Teilnahme an Wahlen hinaus weitere Möglichkeiten unmittelbarer Einflußnahme auf die politische Willensbildung und staatliche Entscheidungen einzuräumen. Viele Bürgerbewegungen und -initiativen auf kommunaler wie auf Landes- und Bundesebene zeigten den Willen der Bevölkerung, sich aktiv für das Gemeinwesen einzusetzen und an seiner Ausgestaltung mitzuwirken.
Auf der anderen Seite müßten der zunehmende Anteil von Nichtwählern und die Hinwendung zu radikalen Parteien als deutliche Hinweise dafür aufgenommen werden, daß wachsende Teile der Bevölkerung sich von den etablierten Parteien und ihren Vertretern in den Staatsorganen nicht mehr hinlänglich repräsentiert fühlten. Diesem Zustand der Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern, zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, vielfach als Politik- oder Parteienverdrossenheit bezeichnet, könne dadurch begegnet werden, daß der bestehenden Bereitschaft zur Teilhabe an der Politikgestaltung erweiterte Handlungsmöglichkeiten eröffnet würden. Als Handlungsformen kämen insbesondere die Volksinitiative, das Volksbegehren und der Volksentscheid in Betracht.
Auch an Verfassungsreferenden, d.h. Volksabstimmungen über verfassungsändernde Gesetze, sei zu denken. Diese Formen direkter Bürgerbeteiligung stellten das parlamentarisch-repräsentative System des Grundgesetzes nicht in Frage, sondern ergänzten es sinnvoll und entwickelten es zu einer partizipativen Demokratie fort. Das Parlament bleibe der Hort der politischen Auseinandersetzung und Entscheidung; das Volk als Träger der Staatsgewalt gewinne aber einen effektiveren Einfluß auf deren Ausübung, indem es das Parlament zwingen könne, sich mit bestimmten Themen zu befassen, oder indem es Entscheidungen an seiner Stelle treffe. Da die Demokratie auf aktive, interessierte und verantwortungsbewußte Bürgerinnen und Bürger angewiesen sei, führe ein Mehr an direkter Bürgerbeteiligung auch unmittelbar zur Festigung und Belebung der parlamentarischen Demokratie. Ihre Schwächung sei dagegen nicht zu gewärtigen. Anders als bei der Verabschiedung des Grundgesetzes könne sie sich auf ein in 40 Jahren gefestigtes demokratisches Selbstverständnis des deutschen Volkes stützen.
Zudem habe die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR, die als gelungenes Beispiel unmittelbarer Demokratie ("Wir sind das Volk!") durch die Einführung verstärkter Bürgerbeteiligung honoriert werden müsse, gezeigt, daß die Bevölkerung reif sei, verantwortlich und rational von ihren Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Dem könnten auch nicht angeblich negative Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik entgegengehalten werden. Diese sei keinesfalls an Volksentscheiden gescheitert, was schon die historische Tatsache belege, daß keiner der beiden reichsweiten Volksentscheide Erfolg gehabt habe. Die Erfahrungen in Staaten des - vor allem europäischen - Auslandes, deren Verfassungen Formen direkter Bürgerbeteiligung kennen, ließen erkennen, daß auch schwierige und komplexe Sachverhalte vom Volk sachgerecht beurteilt und entsprechend entschieden werden könnten.
Insofern stelle eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetes auch einen Schritt zu mehr europäischer Gemeinsamkeit dar. Zudem gebe es bereits in 9 der 11 alten Länder der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit des Volksentscheides, und alle neuen Bundesländer hätten ihn ebenfalls in ihren Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfen vorgesehen. Es gebe keinen Grund, das, was sich auf Länderebene bewährt habe, auf Bundesebene nicht zuzulassen.
Daher sei das folgende gestufte Verfahren der direkten Demokratie ins Grundgesetz einzufügen: - Mit der Volksinitiative erhalten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit den Deutschen Bundestag mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen, Gegenstand einer Volksinitiative kann auch ein mit (Gründen versehener Gesetzentwurf sein. - Stimmt der Deutsche Bundestag innerhalb einer bestimmten Frist einem solchen Gesetzentwurf nicht zu, findet auf Antrag der Vertreterinnen und Vertreter der Initiative ein Volksbegehren statt. - Kommt es - durch Zustimmung eines festzulegenden Anteils der Wahlbevölkerung (Quorum) - zustande, so ist ein Volksentscheid über den Gesetzentwurf durchzuführen. Bei positivem Ausgang des Volksentscheides, d.h. bei Zustimmung einer - gegebenenfalls qualifizierten - Mehrheit der Abstimmenden, ist der Gesetzentwurf angenommen. Die Einzelheiten könnten so festgelegt werden, daß Mißbräuche ausgeschlossen seien.
So könnte man bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung, z.B. den Bundeshaushalt oder öffentliche Abgaben von der Volksinitiative ausnehmen. Durch die Höhe der Abstimmungsquoren und die Bestimmung von Untergrenzen für die Beteiligung könne die Durchsetzung von Sonderinteressen verhindert werden. Genügend lange Fristen könnten für eine umfassende Information der und Diskussion in der Bevölkerung vorgesehen werden; sie seien auch geeignet, Manipulationen durch starke Interessenverbände und einseitige Berichterstattung oder Entscheidungen aufgrund momentaner Stimmungen entgegenzuwirken. Dem Deutschen Bundestag könne das Recht eingeräumt werden, einen AlternativEntwurf zur Abstimmung zu stellen.
Schließlich werde durch Länderquoren auch der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland und damit Artikel 79 Abs. 3 GG Rechnung getragen. Es sei nicht erkennbar, was aus den Einwänden, die gegen den Volksentscheid und damit gegen eine Volksgesetzgebung gerichtet werden, gegen die Volksinitiative hergeleitet werden könne. Diese sei unbedingt zu befürworten, da sie bürgernahe Entscheidungen der Staatsorgane fördere.
2. Gegen die Aufnahme von Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid und anderen Formen unmittelbarer Demokratie ins Grundgesetz wurden sowohl verfassungssystematische als auch verfassungspolitische Gründe geltend gemacht. Der Parlamentarische Rat habe gerade mit seinem strikten Bekenntnis zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie die entscheidenden Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen. Selbst wenn in der Weimarer Republik nur relativ wenig plebiszitäre Entscheidungen getroffen wurden, habe die parlamentarische Demokratie damals doch unter dem permanenten Druck plebiszitärer Entscheidungsmöglichkeitengestanden, was entscheidend zu ihrer Schwächung beigetragen habe. Gerade auf der Grundlage dieser historischen Erfahrung habe der Parlamentarische Rat für das Grundgesetz auf Formen unmittelbarer Demokratie bewußt verzichtet - von den Ausnahmen im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung (Artikel 28 GG) und im Bereich der Neugliederung (Artikel 29 GG) abgesehen. Diese Entscheidung des Parlamentarischen Rates sei auch heute noch richtunggebend.
Denn das bewährte System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie könne durch plebiszitäre Verfahren nachhaltig geschwächt werden - Verfahren, die die Gefahr einer schleichenden Abwertung des Parlaments in sich trügen. Wegen des Anscheins einer "höheren Legitimität des unmittelbaren Volksgesetzes" gegenüber dem "nur mittelbaren Parlamentsgesetz" könne eine Entwicklung dahin gehend eintreten, das Parlament nur noch in weniger wichtigen Fragen entscheiden zu lassen. Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Parlaments könnten auch dadurch beeinträchtigt werden, daß in schwierigen, politisch sensiblen Fragen Plebiszite dem parlamentarischen Entscheidungsträger die Flucht aus der Verantwortung ermöglichten. Plebiszite seien der modernen pluralistischen Gesellschaft und Demokratie nicht gemäß.
Denn Plebiszite seien nur dem Ja oder Nein zugänglich. Gerade die pluralistische Demokratie fordere jedoch Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren, die auf ein Höchstmaß an Kompromißfindung und Kompromißsuche angelegt seien. Solche Verfahren ermögliche nur das parlamentarische Verfahren. Zudem wäre der Minderheitenschutz gefährdet, da weder die Gruppen, die für die "richtige" Entscheidung werben, noch die Stimmbürger dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Angesichts der Komplexität politischer Entscheidungen bestehe die Gefahr, daß sich die Bürger nicht von objektiven Kriterien, sondern von der subjektiven Betroffenheit oder von mediengeprägten Stimmungen leiten ließen.
Damit seien eine Entrationalisierung von Entscheidungen und Populismus zu befürchten. Tagesstimmungen der Bevölkerung gelangten unmittelbar zu rechtlicher Wirkung. Plebiszite gäben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht noch stärker als bisher auf Bundesebene durchzusetzen. Die Bürger könnten angesichts der erforderlichen Quoren ihre Initiativen in aller Regel nicht selbst vorantreiben, sondern wären auf die Unterstützung von Verbänden und Vereinigungen angewiesen. Infolgedessen bestehe die Gefahr der Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen. Die Erfahrung mit Plebisziten in den Nachbarstaaten und den Bundesländern ließen sich nicht verallgemeinern und schon gar nicht auf den Bund übertragen.
So seien Plebiszite auf Länder oder kommunaler Ebene wegen der besseren Überschaubarkeit der Verhältnisse und der geringeren Komplexität der Probleme eher praktikabel als auf Bundesebene. Erfahrungen im Ausland ließen überdies befürchten, daß zahlreiche Plebiszite neben regelmäßigen Wahlen zu Abstimmungsmüdigkeit führten. Auch die Vorgänge in der ehemaligen DDR aus dem Herbst 1989 könnten die Einführung von mehr Bürgerbeteiligung ins Grundgesetz nicht rechtfertigen, da die Situation dort mit der des demokratischen Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland nicht zu vergleichen sei. Plebiszite zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Daran ändere sich auch nichts durch die Einführung eines Länderquorums. Dem Bundesrat, der nicht lediglich eine Summe der Länder, sondern eine selbständige Einheit innerhalb unseres Systems sei, wäre die Möglichkeit der Mitgestaltung genommen.
Damit ginge die ausgewogene Balance zwischen zentral- und gliedstaatlichen Entscheidungsbefugnissen in der Bundesgesetzgebung, vermittelt durch das Miteinander von Bundestag und Bundesrat, verloren.
Schließlich werde der Ausschluß bestimmter, insbesondere finanzwirksamer Politikbereiche wie Haushalt und Steuern wahrscheinlich dazu führen, die Politikverdrossenheit zu vergrößern. Es sei zu befürchten, daß sich das Volk dadurch bevormundet fühle. Es sei schließlich illusionär zu erwarten, daß die Einführung plebiszitärer Verfahren die sogenannte Parteienverdrossenheit überwinden könne. Eher sei das Gegenteil zu befürchten.
Denn wenn Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit in das Grundgesetz aufgenommen würden, so würden sich künftig - legitimerweise - auch die politischen Parteien dieser Verfahren bedienen - nicht zuletzt auch deshalb, weil die Durchführung solcher Verfahren in aller Regel der Organisation und Initiierung bedürfe. Wenn die politischen Parteien aber die freie Entscheidung darüber hätten, ob sie ein bestimmtes Anliegen auf plebiszitärem oder parlamentarischem Wege verfolgen sollten, drohe erneut die Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung.
Darüber hinaus wüchse die Macht der politischen Parteien gegenüber dem heutigen Rechtszustand noch dadurch, daß ihnen neben ihren parlamentarischen Entfaltungsmöglichkeiten auch die Wege zur Anrufung wie die Organisation von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid eröffnet würden.
*) Die empfohlene Änderungen bzw. Ergänzungen des Grundgesetzes sind kursiv gesetzt. D. Red.