Tucholsky vor Gericht
Es ist ein bewährter Brauch, politische Entscheidungen, für die keine Partei und keine Regierung die alleinige Verantwortung übernehmen möchte, dem Verfassungsgericht zuzuspielen. Die Prozedur ist dankbar. Man kann seine Hände in Unschuld waschen und gleichzeitig das Hohelied von der Gewaltenteilung und der unabhängigen Justiz intonieren. Jetzt wäre Gelegenheit gewesen, dem Verfassungsgericht für solche Dienste Dank abzustatten. Statt dessen gibt es, je nach Temperament, Distanzierung, Unverständnis, Empörung im Plenum des Bundestages, und zwar von Regierung und Opposition gleichermaßen. Wieder einmal ist es das gerichtsnotorische Tucholsky-Zitat, das zeigt, nach welchen Regeln das Spiel zwischen Justiz und Politik gespielt wird. Am 19. September hat die 3. Kammer des Ersten Senats geurteilt, das Zitat "Soldaten sind Mörder" sei eine zulässige, nicht strafbare Meinungsäußerung und könne schon darum nicht auf Soldaten der Bundeswehr gemünzt sein, weil es die zu Tucholskys Zeiten noch gar nicht gegeben habe. Das ist wahrhaft salomonisch!
Gleichzeitig sorgen aber die unteren Instanzen dafür, daß niemand allzu leichtfertig mit der gewährten Zitierfreiheit umgehe.