Eine französisch-deutsche Debatte um die Währungsunion in Le Monde und Libération
Ein Beitrag des früheren französischen Ministerpräsidenten Laurent Fabius (PS), der am 7. September 1996 unter der schrillen Überschrift "Eine letzte Chance, Europa zu retten", in der Pariser Tageszeitung "Le Monde" erschien, löste in diesem Blatt und weit darüber hinaus eine lebhafte Debatte aus. Neben prominenten Franzosen wie dem gaullistischen Parlamentspräsidenten Séguin beteiligten sich daran frühzeitig auch deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter. Auf ein "Le Monde"-Interview mit dem Präsidenten der Deutschen Bundesbank antwortete schließlich der "Doyen der französischen Soziologie" Pierre Bourdieu in der Tageszeitung "Libération" mit einer schneidenden Polemik "contre la 'pensée Tietmeyer'" - das Tietmeyerdenken, eine Abwandlung der in Frankreich heiß umstrittenen "pensée unique", des einseitig ökonomistischen Diskurses der "mondialisation" alias Globalisierung. Überhaupt unterscheidet sich die nachstehend in Auszügen dokumentierte Kontroverse wohltuend von den offiziellen Eurokommuniqués: Man spricht Klartext. (Die Ausführungen von Werner Hoyer, Karl Lamers und Hans Tietmeyer werden im deutschen Original wiedergegeben. Die Übersetzung besorgte Martin Kopischke.) D. Red.
Laurent Fabius: Eine letzte Chance, Europa zu retten
Es wird Zeit, zwischen drei Lösungen zu wählen. Die Zukunft eines Kontinents läßt sich nicht mit verbundenen Augen skizzieren. Entweder man beläßt alles beim jetzigen Zustand. Taub gegenüber der Unzufriedenheit der Arbeitnehmer, stumm gegenüber der Wut der Verbraucher, blind gegenüber der Beunruhigung der Bürger dümpelt Europa vor sich hin. Alle sechs Monate stolpert es von einem Gipfel (Thema: fast nichts) zu einer Konferenz (Thema: sehr wenig) und bietet dem Auge der Kameras nur die esoterische Aufregung seiner bei angehaltenen Uhren laufenden "Marathonsitzungen"... Den Leuten wird es einfach reichen: Sie werden "Nein" sagen und Währung, Sicherheit, Regulierung en bloc verwerfen.
Dann wird die Chance verwirkt sein: Es folgt die traurige Zeit der Rückzüge. Oder man schreitet in eine zweifelhafte Richtung voran und überläßt das Schicksal der Europäischen Union denjenigen, die davon träumen, sie zu ersticken. Paris' und Berlins Nähe täuscht: In Wirklichkeit sind beide leider recht weit von einander entfernt. Ein Europa, das unter dem kalkulierten Druck der britischen Konservativen nicht aufhört zu wachsen, wurde das Opfer seiner zu empfindlichen, zur Entscheidungsfindung zwischen 20 oder 30 Parteien ungeeigneten Institutionen. Es bliebe ein freihandelndes Niemandsland, ein vom Atlantik bis zum Ural gestreckter, in einem Wettrennen zur wirtschaftlichen Deregulierung gefangener Popanz, der schließlich seine eigenen sozialen Schutzwälle einreißt. Es gibt eine letzte Möglichkeit, Europa zu retten und seine Einwohner zu beruhigen: Statt einer Regierungsstrategie zu folgen, die sich gegen eine verschwundene Inflation richtet, entscheidet sich Frankreich zu einer flexibleren Geldpolitik, einer dynamischeren Wirtschaftspolitik, einer offeneren Lohnpolitik, einer wachsamen Finanzpolitik. Diese neue Politik würde von einer merklichen europäischen Anstrengung getragen: Nach einem ehrlichen Gespräch mit Deutschland besteht bis zur Regierungskonferenz genug Zeit, diese Anstrengung zu organisieren. Falls man den Mut zur Aussprache findet. Aus: "Le Monde", 7.9.1996 (Auszüge).
Werner Hoyer: Laurent Fabius irrt sich
Am 6.9.1996 hat Laurent Fabius in dieser Zeitung dazu aufgerufen, die Regierungskonferenz der Europäischen Union als letzte Chance für Europa zu nutzen, Laurent Fabius hat recht. Er zeigt in seinem Beitrag drei Alternativen auf, mit denen Frankreich, Deutschland und die ganze Europäische Union die "letzte Chance" nutzen können. Die erste Alternative ist nichts zu tun, und es ist ihm zuzustimmen, daß wir nicht so weitermachen können wie bisher. Die zweite Alternative ist eine große Freihandelszone vom Atlantik bis zum Ural. Auch hier hat Laurent Fabius recht. Eine solche Entwicklung würde einen Rückschritt gegenüber dem schon Erreichten bedeuten. Ein solches Europa wäre nicht in der Lage, die genannten großen Herausforderungen zu meistern. Als dritte Alternative schlägt Laurent Fabius für Frankreich und in Abstimmung mit Deutschland auch für die Europäische Union Korrekturen in der Geld-, Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Hier jedoch irrt Laurent Fabius gleich mehrfach. Sein Vorschlag, die Geldpolitik zur Ankurbelung der Wirtschaft zu nutzen und in der Inflationsbekämpfung nachzulassen, würde das Ende der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bedeuten, bevor sie überhaupt begonnen hat.
Die WWU ist nicht Thema der Regierungskonferenz. Die Kriterien und der Zeitplan für die WWU sind in Maastricht 1991 beschlossen worden. Sie gelten uneingeschränkt weiter. Laurent Fabius irrt auch, wenn er vorschlägt, die Beschäftigung als Ziel im den EU-Vertrag aufzunehmen. Die Arbeitslosigkeit von beinahe 20 Millionen Menschen in Europa ist ohne Zweifel zur Zeit die allergrößte Herausforderung für die Politik. Die nationalen Regierungen dürfen jedoch nicht die Chance erhalten, die Verantwortung für die Schaffung von Arbeitsplätzen auf die Europäische Union abzuschieben. Würde die Beschäftigung Vertragsziel, wäre genau das der Fall. Die Europäische Union muß Grenzen und Hindernisse beseitigen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas fördern. Strukturelle Schwächen beseitigen und dadurch Arbeitsplätze schaffen. Europaweite, kreditfinanzierte Beschäftigungsprogramme, wie sie vielleicht manchen Politikern vorschweben, sind Instrumente aus der Mottenkiste einer überholten Konjunkturpolitik. Sie lösen nicht die der Arbeitslosigkeit zugrundeliegenden Probleme, sondern perpetuieren sie. Was Deutschland und Frankreich bei der Regierungskonferenz gemeinsam erreichen müssen, ist deshalb eine vierte Alternative. Wir müssen die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union dauerhaft sichern.
Die Entscheidungsfähigkeit, d.h. das Abstimmungsverfahren im Rat, die Rotation beim Vorsitz, die Beteiligung des Europäischen Parlaments und die Größe und Rolle der Kommission, muß so gestaltet werden, daß die Union demokratisch und transparent auch bei 25 oder 30 Mitgliedstaaten zu schnellen Problemlösungen gelangen kann. Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union muß vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Justizzusammenarbeit verbessert werden. Um diese Handlungsfähigkeit zu erreichen, brauchen wir vor allem mehr Flexibilität bei der Zusammenarbeit. Flexibilität bedeutet, daß Staaten wie Frankreich, Deutschland und andere, die gemeinsam handeln wollen, dies auch tun können. Auf diese Weise wird der Integrationsprozeß vorangebracht und die Geschwindigkeit des Geleitzugs nicht durch das langsamste Boot bestimmt. Gleichzeitig müssen wir aber auch das Subsidiaritätsprinzip ernstnehmen. Es darf nicht alles europäisch geregelt werden, nur weil Bürokraten oder Politiker dies so wollen. Aus: "Le Monde", 12.9.1996. (Auszuge. Die deutsche Fassung ist überschrieben "Die Chance für Europa nutzen".)
Philippe Séguin: "Warum Laurent Fabius recht hat"
Man könnte glauben, unter der Bild- und Tonlawine hätten alle zu lesen verlernt. Denn der Aufruf von Laurent Fabius, die letzte Chance zur Rettung Europas zu ergreifen, bedeutet einen Bruch mit den traditionellen Ansichten der französischen Sozialisten und dem Nachlaß Fran?ois Mitterrands. Nur Werner Hoyer hat die Lage richtig eingeschätzt - zumindest, was die Tragweite des Ereignisses angeht. Nach dem Lamers-Papier *) wird die französische Europadebatte nun zum zweiten Mal aus Deutschland angeregt.
Allerdings nimmt dieser Beitrag vor allem die Form einer Ermahnung an, sich an die vereinbarten Regeln zu halten, in diesem Fall die strikte Anwendung der Konvergenzkriterien für die Währungsunion. Es geht eher darum, die Diskussion zu ersticken, als sie zu eröffnen. Diese Nichtzulassung einer Klage ist paradox und, aus meiner Sicht, gefährlich. Paradox, weil es widersprüchlich ist, zuzugeben, daß die Europäische Union stillsteht, um dann als einzigen Ausweg aus der Krise die Beibehaltung derjenigen Entscheidungen anzubieten, die erst zur Krise geführt haben. Widersprüchlich ist es auch, Arbeit und Arbeitslosigkeit zu Problemen zu erklären, die für die Union zu wichtig seien und daher der Hoheit eben jener Nationalstaaten unterlägen, die das LamersPapier zu leeren, der Vergangenheit angehörenden Hüllen herabgestuft hat. Wir müssen uns frei machen von jeglichem Dogmatismus. Allen sollte klar sein, daß die Währungsunion nicht auf der Basis von Mißverständnissen und sich überkreuzenden Hintergedanken ins Leben treten kann.
Jede Grundlage fehlt, wenn Deutschland beabsichtigt, an Frankreich für sein Zögern bei der Wiedervereinigung Revanche zu nehmen, während Frankreich seinerseits versucht, Wiedergutmachung dafür zu erlangen, daß es diese Vereinigung durch rückläufige Wirtschaftsaktivität und Arbeitsplatzabbau finanziert hat. Der Versuchung dieses "Lügen-Poker" muß widerstanden werden, indem eine wirkliche Debatte über Europas Zukunft eröffnet wird und indem man geduldig versucht, dem Verstand über das Wiederaufleben kollektiver Leidenschaften zum Sieg zu verhelfen. Werner Hoyer unterbreitet ebenso wie Laurent Fabius in seinem Artikel eine Diagnose, ein Ziel und eine Verfahrensweise. Für den ersten geht es vor allem darum, den ursprünglichen Kurs ohne Abweichung zu halten. Für den zweiten geht es um nichts geringeres als eine neue Politik auf europäischer Ebene. Im Namen des Verantwortungsprinzips, durch das Max Weber den Staatsmann definierte, kann nur festgestellt werden, daß man Laurent Fabius recht geben muß. Seine Vorschläge handeln vom wirklichen Europa, während Werner Hoyer von einem allzu virtuellen Europa spricht, das halb in der Utopie und halb in der Treue zu vergangenen Entscheidungen verankert ist. Ja, es ist mehr als Zeit, zur Wirklichkeit zurückzukehren und einige Punkte auf die Tagesordnung der Dubliner Konferenz zu setzen: eine flexible Interpretation der Konvergenzkriterien, die Verbindung von Wachstum und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als Ziele der zukünftigen Europäischen Zentralbank, die Anbindung der Eurowährung an die Währungen jener Staaten der Union, die nicht zum ursprünglichen harten Kern gehören. Ja, es ist mehr als Zeit, die Beteiligung der Völker und ihrer gewählten Vertreter an der Sanktionierung der beschlossenen Reformen im Sinne jener demokratischen Garantien vorzusehen, die der Karlsruher Gerichtshof zur Einführung der Währungsunion verlangt hat. Darum hat Laurent Fabius recht. Der einzige Vorwurf, den man an ihn richten kann, ist zweifellos, sich solange geirrt zu haben, daß er erst so spät recht hat. Aus "Le Monde", .19.9.1996 (Auszüge). *) Wortlaut in "Blätter", 10/1994, S. 1271-79.
Karl Lamers: "Nein Herr Séguin, es gibt keine andere Politik"
In seinem Artikel vom 19. September in Le Monde distanziert sich Phillippe Séguin von bestimmten "Mißverständnissen und Hintergedanken" in Verbindung mit der Währungsunion. Seiner Meinung nach neige man dazu, zu glauben, daß "Deutschland mit dem Euro versuche an Frankreich für sein Zögern bei der Wiedervereinigung Revanche zu nehmen", und daß "Frankreich Wiedergutmachung dafür zu erlangen suche, daß es diese Vereinigung durch rückläufige Wirtschaftsaktivität und Arbeitsplatzabbau finanziert hat". Ich kann und mag nicht glauben, daß viele Franzosen ernsthaft diese sonderbare Meinung teilen; und ich wundere mich, daß man sie überhaupt anspricht. Möchte Frankreich an der Währungsunion nur deshalb teilnehmen, um sich für die Kosten der Wiedervereinigung schadlos zu halten und um das zu beenden, was man als die "Herrschaft der Bundesbank" empfindet? Man muß an dieser Stelle auf den tieferen Zweck der Wirtschafts- und Währungsunion eingehen die vor allem ein durchgredendes Modernisierungsund Gesundungsprogramm unserer Volkswirtschaften ist. Durch die Festlegung auf eine strenge Stabilitatspolitik haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, die Schwachen ihrer Wirtschaftssysteme nicht länger - wie in der Vergangenheit - mit Schulden, Abwertung und Subventionen zuzudecken.
Mit diesen Instrumenten wurden allzu lange die durch die immer schnelleren wirtschaftlichen Veränderungen geforderten Anpassungen hinausgezögert. Jetzt wollen wir uns endlich der Wirklichkeit stellen und die notwendigen Reformen in die Wege leiten. Natürlich ist dieser Spar- und Reformprozeß schmerzlich, aber vor allem wegen der Sünden der Vergangenheit, die alle in nationaler Verantwortung liegen. Wurde der Vorschlag von Philippe Séguin einer weichen Interpretation der Kriterien und einer Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages von der französischen Regierung aufgegriffen - wozu gottlob nicht der geringste Verdacht besteht -, dann wären die Folgen mit absoluter Sicherheit katastrophal. Es gibt keine Patentrezepte zur Überwindung der Geißel der Arbeitslosigkeit. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß eine Stabilitätspolitik und die durch sie erzwungenen Reformen unersetzliche Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und damit auch die Grundlage für neue Arbeitsplätze sind. Es gibt auf diesem Weg keine Abkürzungen; obwohl er noch eine zeitlang hart sein wird, dürfen wir ihn nie mehr verlassen. Durch das Festhalten an den Konvergenzkritenen zeigen wir unsere Entschlossenheit, diesen Weg zu gehen - dies ist auch ihre eigentliche Funktion. Würden wir unsere Interpretation des Defizitkriteriums aufweichen, so würden die bisherigen Erfolge wieder hinfällig.
Das ist weniger eine Frage der Logik, als vielmehr der Psycho-Logik, denn die Märkte richten sich mehr noch nach dem, was voraussichtlich sein wird, als nach dem, was im Augenblick ist. Oft frage ich mich, warum man uns immer wieder die gleichen alten Rezepte anbietet, obwohl sie doch nachweislich unserer Wirtschaft geschadet haben. Wenn es nur einen einzigen neuen Ansatz gäbe! Die Politik der Verschuldung ist nicht nur wirkungslos - sie bewirkt bestenfalls ein "Strohfeuer" -, sie ist auch zutiefst unmoralisch. Sie begünstigt die Befriedigung des aktuellen Bedarfs zu Lasten der künftigen Generationen. Sie nimmt von den Schwachen und gibt den Reichen. Warum also hält man in Frankreich trotz dieser Tatsachen und der eindeutigen Erfahrungen immer noch diese alten Rezepte hoch? Der Weg, der vor uns allen liegt, ist wahrscheinlich für Frankreich noch schwerer zu gehen als für Deutschland. Ich glaube, daß eine solche Politik ein radikales Umdenken in Frankreich mehr noch als in Deutschland erfordert. Anscheinend ist es für die Franzosen ungleich schwieriger als für die Deutschen einzusehen, daß der Staat sich darauf beschränken muß, den allgemeinen Rahmen für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand der Nationen vorzugeben. Der öffentliche Dienst ist keine Gewähr für Gerechtigkeit und ist in der heutigen Situation kaum noch finanzierbar. Die Politik muß sich nach den supranationalen Realitäten richten, die sich u.a. in den Erwartungen der internationalen Finanzmärkte zeigen. All dies rüttelt an den Grundfesten des französischen Staatsbürgertums und zwar wesentlich mehr, als die meisten Deutschen sich vorstellen können. Die im Vertrag von Maastricht festgelegten Regeln für die Europäische Währungsunion sind außerdem vom Vorbild Deutschlands beeinflußt und erscheinen vielen Franzosen als Ausdruck eines deutschen "Diktats".
Aber es handelt sich nicht um ein deutsches "Diktat", sondern um das der supranationalen Realität und des globalen Wettbewerbs. Diese Realität bietet uns keinerlei Alternative. Wir benötigen einen öffentlichen Dialog über Europa darüber stimme ich mit Philippe Séguin überein -, aber dafür brauchen wir keine Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages. Die "Beteiligung der Völker" kann nicht heißen, ihnen die Schwierigkeiten zu ersparen, die sie auf sich nehmen müssen; ihnen etwas vorzugaukeln von einer anderen Politik, die es nicht gibt, kann nicht heißen, ihre Unzufriedenheit als Druck auf eine Änderung der Politik umzuleiten. Damit würden wir nur die eigene Schwäche kaschieren, um zu vermeiden, die Wahrheit sagen zu müssen. Die Wahrheit ist: Wir müssen uns anstrengen. Aus: "Le Monde", 12.10.1996 (Auszüge).
Elisabeth Guigou: Der Gaukler vom Palais-Bourbon
Philippe Séguin hat in seinem Beitrag eine Gauklernummer vorgeführt, wie sie nur ihm gelingen konnte. Erster Trick: Er behauptet, daß Laurent Fabius und die Sozialisten ihre Meinung geändert hätten. Tatsächlich aber ist es der Präsident der Nationalversammlung, der seine Meinung geändert hat, der heute "Ja" zu einer Währungsunion sagt, deren Prinzip er noch gestern ablehnte. Tatsächlich gibt die Art, in der Frankreich und Deutschland seit 1991 ihre Wirtschaftsbeziehungen gestaltet haben, Anlaß zur Sorge. Ab 1993 aber sind es die Regierungen Balladur und Juppé, die die Rezession verschlimmert und das Wachstum erstickt haben, indem sie den Haushalten beträchtliche Belastungen aufgebürdet haben. Die Fehlentscheidungen der Regierungen Balladur und Juppé wurden nicht von der Währungsunion erzwungen. Ganz im Gegenteil: Erst deren Politik steuert uns von der Währungsunion weg. Währungsunion und Deflation dürfen nicht länger verwechselt werden.
Philippe Séguin und Laurent Fabius sind sich darin einig, eine deutsch-französische Initiative in diese Richtung zur Regierungskonferenz zu verlangen; hier aber greift Philippe Séguins zweiter Trick: Er hütet sich davor, zu unterstreichen, daß eine solche Initiative fehlt, weil Jacques Chirac sie nicht will. Warum läßt Jacques Chirac auf seine Reden zum Sozialen Bruch und zum europäischen Dritten Weg gegenüber dem entfesselten Liberalismus der USA keine europäischen Taten folgen? Würde Deutschland, wenn Frankreich bei der Konferenz die Ergänzung des Maastrichter Vertrags beantragt, sich dem versperren? Im Gegensatz zu Philippe Séguin glaube ich das nicht. Werner Hoyers negative Antwort auf Laurent Fabius beweist nichts. Werner Hoyer ist nicht der Kanzler. Ich behaupte nicht, daß es einfach wäre, Helmut Kohl zu überzeugen. Ich behaupte, daß es unter einer Bedingung möglich ist: daß Frankreich einer tiefere politische Integration Europas akzeptiert. Weigert sich Frankreich, von Institutionen zu sprechen und weigert sich Deutschland, von Wachstum und Arbeitsplätzen zu sprechen, stecken wir in der Sackgasse. Das ist heute der Fall. Aus: "Le Monde", 12.10.1996 (Auszüge). - Das Palais-Bourbon ist Sitz der französischen Nationalversammlung, als deren Präsident Philippe Séguin seit 1995 fungiert.
Jean-Marie Messier, Henri Lachmann, Edzard Reuter, Michael Rogewski: Das Bleigewicht der Realzinssätze
Europa, insbesondere Frankreich und Deutschland leiden zur Zeit unter einem Mangel an Wachstum und Zukunftsperspektiven. Wird die gemeinsame Währung Europa zu dem bitter benötigten neuen Atem verhelfen? Wir wünschen uns von Herzen, daß sie zustande kommt, und das zum vorgesehenen Zeitpunkt, wenn nicht früher.
Aber etwas beunruhigt uns dabei sehr: Wie wird sich die Parität des Euro zu den anderen Währungen verhalten? Wir sagen es deutlich: Wenn der Euro die heutige Parität des Duos D-Mark/Franc zu Dollar, Yen und den südeuropäischen Währungen übernimmt, wird er zur Mißgeburt werden. Das Duo D-Mark/Franc ist gegenüber den wichtigen Währungen deutlich überbewertet. Durch diese Überbewertung subventionieren wir den amerikanischen und japanischen Aufschwung und nähren in Europa ein anormales, historisch einmalig hohes Niveau an Arbeitslosigkeit. Diese währungspolitische "Ungleichheit" ist ein ständiger Anreiz zur Auslagerung unserer Produktionsmittel in andere Länder und entmutigt jedes unternehmerische Denken. Wie können wir sicher sein, daß die zukünftige Parität des Euro die richtige ist? Die Rückkehr zu einer vernünftigen Parität des Duos D-Mark/Franc gegenüber dem Dollar erfordert unbedingt eine erhebliche, gemeinsame Zinssenkung in Deutschland und Frankreich. Sie ist die einzige verständliche Botschaft. Aus: "Le Monde". 12.10.1996 (Auszüge).
Hans Tietmeyer: Die Rigiditäten an den Arbeitsmärkten abbauen
Frage: Die Einheitswährung wird vorbereitet und dürfte am 1. Januar 1999 eimgeführt werden. Glauben sie, daß dieses Datum wirklich das richtige sein wird? Antwort: Gegenwärtig spricht vieles dafür, daß der Zeitplan des Vertrages eingehalten wird, jedenfalls von einer begrenzten Gruppe von Ländern. Der Vertrag sieht ja diese Möglichkeit vor. Ich gehe davon aus, daß, wenn nichts Überraschendes passiert, die Währungsunion Anfang 1999 beginnt.
Aber die endgültige Entscheidung können die Staats- und Regierungschefs erst im Frühjahr 1998 treffen auf der Grundlage der Prüfberichte und der Vorlage der Finanzminister. Frage: In Frankreich mehren sich die Stimmen, die ein Übergewicht des deutschen Stabilitätsgedankens in der Währungsunion befürchten. In Deutschland hingegen wird befürchtet, der Euro käme einem Abenteuer ohne gewissen Ausgang gleich. Wo liegt die Wahrheit? Antwort: Der Vertrag hat zunächst eine Grundentscheidung getroffen, und zwar in Richtung auf Währungsstabilität als Grundlage für den weiteren wirtschaftlichen und politischen Prozeß in Europa.
Insofern ist es kein Thema, das noch kontrovers sein sollte. Jetzt kommt es darauf an daß die Voraussetzungen für eine stabile Währung geschaffen werden, in der Ausgangslage, aber auch für die Folgezeit. Frage: Besteht durch die Sparprogramme, die derzeit in Europa im Hinblick auf die Einheitswährung durchgeführt werden, nicht die Gefahr, daß die Konjunktur gedrosselt wird und es - wie man in Frankreich fürchtet - zu deflationären Spannungen kommt? Antwort: Inflation ist nie endgültig tot. Sie kann immer wieder beginnen, wenn Fehler gemacht werden. Wichtig ist aber, daß das Wachstum bei uns in Deutschland und auch in den meisten europäischen Ländern gegenwärtig nicht durch die Geldpolitik gehemmt wird. Es ist genügend Liquidität verfügbar, genügend Geldvolumen da. Die Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor, jedenfalls soweit die Notenbanken darauf Einfluß haben können. Ich sehe insofern auch keine Deflationsgefahr. In allen europäischen Ländern geht es darum, Voraussetzungen für ein dauerhaftes Wachstum und Vertrauen für die Investoren zu schaffen, indem man die öffentlichen Haushalte unter Kontrolle bringt, das Steuer- und Abgabenniveau auf ein dauerhaft erträgliches Maß absenkt, die sozialen Sicherunssysteme reformiert und die Rigiditäten an den Arbeitsmärkten abbaut, damit neues Wirtschaftswachstum auch wieder mehr Beschäftigung schafft.
Die Geldpolitik kann hier so gut wie nichts mehr leisten, sie hat die ihr möglichen Voraussetzungen geschaffen. Frage: Sie sagten kürzlich in einer Rede, daß der Euro kein "Beschäftigungsprogramm" wäre. Könnte die Einheitswährung Ihrer Meinung nach zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen? Antwort: Man darf nicht Illusionen wecken, als könnten die Strukturprobleme, die ich gerade genannt habe, durch den Euro gelöst werden. Wenn wir diese Probleme nicht im Rahmen der nationalen Politikentscheidungen nachhaltig lösen, wird der Euro keine Beschäftigung schaffen. Im Gegenteil, der Euro wird den Wettbewerb zwischen den Ländern und den Märkten stärken. Es gibt dann keinen "Airbag" mehr in Form einer Anpassung des Wechselkurses. Das heißt: Die Wettbewerbsfähigkeit wird nur bei hinreichender Flexibilität am Arbeitsmarkt zuückgewonnen werden können. Wenn aber mehr Flexibilität gegeben ist, dann könnte der größere Euro-Markt sehr wohl dazu beitragen, mehr Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Aus: "Le Monde", 17.10.1996 (Auszüge). - Die Titelformulierung der "Blätter" greift eine Äußerung des Bundesbankpräsidenten auf (mit der sich Pierre Bourdieu nachstehend auseinandersetzt).
Pierre Bourdieu: Wider das "Tietmeyerdenken", für einen europäischen Wohlfahrtsstaat
"Le Monde" vom 17. Oktober 1996 präsentiert ein Interview mit Bundesbankpräsident Tietmeyer, den die Zeitung als "Hohepriester der Deutschen Mark" vorstellt. Zu Recht, hier geht es tatsächlich um Religion. Hans Tietmeyer bietet uns ein wunderbares Beispiel der Redekunst, wie sie heute auf den Finanzmärkten (und anderswo) gepflegt wird, ein Beispiel für jene Rhetorik des Euphemismus, die nötig ist, wenn man das Vertrauen der Investoren - den Schlüssel zum ganzen System - gewinnen will, ohne das Mißtrauen oder die Verzweiflung der Arbeiter zu wecken, mit denen man trotz allem rechnen muß, wenn man die Wachstumsphase erreichen will, die man ihnen vorgaukelt.
Denn von den Arbeitern - und nur von den Arbeitern - wird der Abbau der "Rigiditäten" an den Arbeitsmärkten" verlangt. An die Arbeiter ist auch die dumpfe, fast erpresserische Drohung gerichtet, die den Abbau dieses "Rigiditäten" zur Bedingung dafür macht, daß "neues Wirtschaftswachstum auch wieder mehr Beschäftigung schafft." In Klartext: Verzichtet im Namen des Wachstums, das morgen folgen wird, heute auf eure sozialen Errungenschaften. Daß ein derart außerordentlicher Text beinahe unbemerkt geblieben wäre, liegt daran, daß er perfekt dem "Erwartungshorizont" der Mehrheit seiner Leser angepaßt ist. Tatsächlich sind Tietmeyers Worte in aller Munde: dauerhaftes Wachstum, Vertrauen der Investoren, Öffentliche Haushalte, Soziale Sicherungssysteme, "Rigiditäten", Arbeitsmarkt, Flexibilität; aber auch Globalisierung, Flexibilisierung, Senkung der Abgabenlast, Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Deregulierung und so weiter und so fort. Was ist nun das "Tietmeyerdenken"?
Zunächst einmal ein neuer Glaube an den gesetzmäßigen Gang der Geschichte, der auf dem Primat der Produktivkräfte (und der Technik) fußt, das heißt eine Form jenes Ökonomismus, der früher - und häufig mit denselben Gläubigen - unter dem Banner des Marxismus daherkam. Dieser Glaube ist einer Wirtschaftstheorie eigen, die auf der scharfen Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft beruht und dabei übersieht, daß die Marktmechanismen (die sie im übrigen hypostasiert) sozialen Mechanismen gehorchen, welche in gesellschaftlicher Gewalt ihre Wurzel haben. Daneben besteht es aus einer Anzahl nicht weiter diskutierter Ziele (die implizit in den vermeintlich neutralen Begriffen der Theorie enthalten sind): größtmögliches Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität; außerdem einem Menschenbild, das nichts humanistisches an sich hat, das des Überarbeiteten berechnenden und karriereorientierten Managers, der sich gelegentlich erlaubt, über den "Verlust sozialer Bindungen" und die Einsamkeit der "Modernisierungsverlierer" wohlmeinende Reden zu halten sowie eine Wirtschaftspolitik mit Euphemismen ("Umstrukturierung" statt Massenentlassungen, "Arbeitgeber" statt Unternehmerschaft, "Deregulierung" statt Kapitalismus im Urzustand) zu verhüllen, die im Endeffekt darauf zielt, unter anderen Folgen jene Zivilisationsform zu zerstören, die mit dem Entstehen des Staats, dieser entschieden modernen Idee, verbunden ist.
Es wird nicht leicht werden, gleichzeitig jenes Vertrauen der Investoren, das Hans Tietmeyer über alles andere stellt, und das Vertrauen der Arbeiter, aller Bürger zu erringen. Als Beleg dafür reicht mir eine Umfrage, die in derselben Ausgabe von "Le Monde" erschienen ist wie das Interview mit Tietmeyer. Fast zwei Drittel der Befragten halten Politiker für unfähig, zuzuhören und zu berücksichtigen, was die Bürger denken; die große Mehrheit der Franzosen hegt gegen sie ein tiefes "Mißtrauen". Es reicht, diese einfachen Feststellumgen neben die Äußerungen Hans Tietmeyers zu stellen, um deutlich zu erkennen, daß die verschiedenen europäischen Regierungen alle vor derselben Alternative stehen: Selbstzerstönmg im Bemühen, das Vertrauen der Finanzmärkte zu gewinnen, oder Überwinden der eigenen Beschränkungen durch die Arbeit an einem supranationalen Sozialstaat, der in der Lage ist, das Vertrauen des Volkes zu erwerben. Dieses ist die einzige mögliche Grundlage einer echten Demokratie, die gleichermaßen politisch und wirtschaftlich ist. Aus: "Libération", Paris, 25.10.1996 (Auszüge).