(Auszüge) Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat am 14.Mai 1996 die vom Bundestag beschlossene Änderung des Grundrechtsartikels 16 in den Grundzügen bestätigt. In drei Urteilen zur Drittstaaten- und Herkunftsstaatenregelung sowie zu den Flughafenverfahren erklärte der zweite Senat die Eckpfeiler des Bonner Asylkompromisses vom 26. Mai 1993 für verfassungsgemäß und verlangte lediglich geringfügige Modifikationen. Darüber hinaus schränkten die Karlsruher Richter die Möglichkeit abgelehnter Asylbewerber ein, durch einen Eilantrag vor dem BVG die Abschiebung zu verhindern. Die drei Urteile ergingen in Teilen einstimmig, zu wesentlichen Passagen gaben jedoch drei der acht Richter Sondervoten ab. Nachstehend dokumentieren wir die Leitsätze der Urteile im Wortlaut, in Auszügen die Abweichende Meinung der Richterin Limbach zum Herkunftsstaaten-Urteil, der sich die Richter Sommer und Böckenförde, wenn auch weniger inhaltlich als formal argumentierend, angeschlossen haben, und die gemeinsame Abweichende Meinung der Richterin Limbach und der Richter Sommer und Böckenförde zum Flughafen-Urteil. D. Red. Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996
- 2 BvR 1507/93 und 2 BvR 1503/93 -
1. a) Art. 16a Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 4 GG enthält keine Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs des Grundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG und seines Schutzziels, wohl aber eine Beschränkung seines verfahrensbezogenen Gewährleistungsinhalts. b) Art. 16a Abs. 3 GG sieht eine "Arbeitsteilung" zwischen dem Gesetzgeber einerseits und den Behörden und Gerichten andererseits vor. Danach verbleibt den Behörden und den Gerichten die Prüfung, ob der einzelne Asylbewerber Tatsachen vorgetragen hat, welche entgegen der Vermutung, die an seine Herkunft aus einem sicheren Staat anknüpft, die Annahme begründen, er werde dort gleichwohl politisch verfolgt. 2. a) Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat muß Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen. b) Die in Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG geforderte Gewährleistung der Sicherheit auch vor unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung stellt in Anknüpfung an Art. 3 EMRK sicher, daß ein solches staatliches Handeln in die Prüfung einbezogen und so den fließenden Übergängen zu asylrechtlich erheblichen Verfolgungsmaßnahmen Rechnung getragen wird. 3. Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat hat sich der Gesetzgeber anhand von Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemeinen politischen Verhältnissen aus einer Vielzahl von einzelnen Faktoren ein Gesamturteil über die für politische Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat zu bilden. 4. a) Das Gesetz, mit dem ein Staat zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt wird, ist ein grundrechtsausfüllendes Gesetz. Es erfordert die Beurteilung der Verhältnisse in einem anderen Staat und - dem vorausgehend - die Erhebung der für die gesetzgeberische Feststellung notwendigen tatsächlichen Grundlagen. b) Bei der Erhebung und Aufbereitung der zugrunde zu legenden Tatsachen kommt dem Gesetzgeber, insbesondere hinsichtlich der dafür zu beschreitenden Wege, ein Entscheidungsspielraum zu. c) Beurteilt der Gesetzgeber, ob nach den ermittelten tatsächlichen Verhältnissen in einem Staat gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedngende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, und trifft er eine Prognose über die weitere Entwicklung in dem Staat innerhalb eines überschaubaren Zeitraums, so hat er einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum. d) Die verfassungsgerichtliche Prüfung erstreckt sich auf die Vertretbarkeit der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung; die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nach Art. 16a Abs. 3 GG kann nur festgestellt werden, wenn eine Gesamtwürdigung ergibt, daß der Gesetzgeber sich bei seiner Entscheidung nicht von guten Gründen hat leiten lassen. 5. Inhalt der in Art. 16a Abs. 3 Satz 2 GG aufgestellten Vermutung ist nicht, daß einem Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat dort keine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung droht. Zur Ausräumung der Vermutung ist nur ein Vorbringen zugelassen, das die Furcht vor politischer Verfolgung auf ein individuelles Verfolgungsschicksal des Antragstellers gründet. Abweichende Meinung der Richter in Limbach zum Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996 - 2 BVR 1507 und 150X/93 -
Ich bin der Meinung, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmumg eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat keinen Einschätzungs- und Wertungsspielraum in der Frage beanspruchen kann, welche Erkenntnisse er seiner Entscheidung zugrunde legt und welche Bedeutung er ihnen in ihrem Verhältnis zueinander beimißt. Der Gesetzgeber hat vielmehr alle erreichbaren und erheblichen Tatsachen sorgfältig zu ermitteln und im Lichte des Art. 16a Abs. 1 GG nachvollziehbar zu würdigen (1.); insoweit unterliegt die Qualifizierung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung (2.). Die Aufnahme Ghanas in die Anlage II zu Paragr. 29a Abs. 2 AsylVfG genügt hiernach nicht den Anforderungen des Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG (3.). [...] Die allgemeine politische Lage in Ghana konnte Mitte 1993 nicht als stabil bezeichnet werden. Der Wechsel von einer Militärdiktatur zu einer gewählten Zivilregierung war erst zum Jahreswechsel 1992/93 vollzogen worden. Da er - wie auch der Senat einräumt unter Wahrung weitgehender personeller Identität stattgefunden hatte, mußte damit gerechnet werden daß Präsident und Regierungspartei auf frühere Strukturen zurückgreifen wurden, sobald ihnen ihr Einfluß im neuen System nicht mehr ausreichend gesichert erschien. Einen maßgeblichen Erkenntnisgewinn über die Ernsthaftigkeit und die Stabilität der Demokratisierung wird erst der Verlauf der nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Ghana bringen. Limbach Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996
- 2 BvR IS16/93 -
1. Art. 16a Abs. 4 GG nimmt bei eindeutig aussichtslosen Asylanträgen das im Asylgrundrecht wurzelnde Recht des Asylbewerbers, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über sein Asylbegehren in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben, ein Stück weit zurück. 2. a) Das Verwaltungsgericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Einschätzung des Bundesamtes, daß der geltend gemachte Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter o ff e n s i c h t l i c h nicht bestehe, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen. b) "Ernstliche Zweifel" im Sinne des Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, daß die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält. 3. a) Die Begrenzung des Aufenthalts von Asylsuchenden während des Verfahrens nach Paragr. 18a AsylVfG auf die für ihre Unterbringung vorgesehenen Räumlichkeiten im Transitbereich eines Flughafens stellt keine Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG dar. b) Die gesetzlichen Vorschriften über das Flughafenverfahren schaffen für die behördliche Entscheidung über Asylanträge einen Rahmen, in dem ein Mindeststandard eines fairen rechtsstaatlichen und im Hinblick, auf Art. 16a Abs. I GG effektiven Verwaltungsverfahrens gewahrt werden kann. 4. Effektiver Rechtsschutz (Art. 19 Abs 4 GG) verlangt im Flughafenverfahren Vorkehrungen des Bundesamtes und der Grenzschutzbehörden, daß die Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes nicht durch die obwaltenden Umstände unzumutbar erschwert oder gar vereitelt wird. a) Der nicht anwaltlich vertretene Antragsteller muß Gelegenheit erhalten, asylrechtskundige Beratung in Anspruch zu nehmen, um die Erfolgsaussichten einer etwaigen Beschreitung des Rechtsweges beurteilen zu können. b) Für die Begründung des innerhalb von drei Tagen zu stellenden Eilantrages an das Verwaltungsgericht muß jedenfalls ein Zeitraum von weiteren vier Tagen ab Zustellung der behördlichen Entscheidungen zur Verfügung stehen. 5. a) Die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bestehende Verfassungsrechtslage ist nicht so zu verstehen, daß sie dem Beschwerdeführer unter allen Umständen die Möglichkeit gewährleistet, vor Vollzug des angegriffenen Hoheitsaktes eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sei es im Verfassungsbeschwerde-Verfahren, sei es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach Paragr. 32 BVerfGG, zu erhalten. b) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht ein zusätzlicher Rechtsbehelf zum fachgerichtlichen Verfahren, der sich diesem in gleicher Funktion ohne weiteres anschließt. Demgemäß können die Effektivitätsanforderungen, die sich aus Art. 19 Abs. 4 GG für den vorläufigen Rechtsschutz im Rechtswege ergeben, nicht in gleichem Maße für den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz nach Paragr. 32 BVerfGG gelten. c) Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach Paragr. 32 BVerfGG wird in Fällen, in denen das Bundesamt den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, kaum in Betracht kommen. Abweichende Meinung der Richterin Limbach und der Richter Böckenförde und Sommer zu dem Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1 1516/93 -
Der Senat nimmt die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG zum Anlaß, maßstäblich festzulegen, daß der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde allgemein und unter den Besonderheiten des Asylrechts grundsätzlich keinen Schutz gegen die Schaffung vollendeter Tatsachen vor Abschluß des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens biete (C. II. 2. g. des Urteils). Darin können wir ihm nicht folgen (I.). Soweit diese Ausführungen sich auf die Funktion der Verfassungsbeschwerde im allgemeinen beziehen, hätte gemäß Paragr. 16 Abs. 1 BVerfGG das Plenum angerufen werden müssen (II.). Entgegen der Auffassung des Senats verstößt Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG gegen Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG und gegen Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (III.). I. Der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde bietet im Zusammenspiel mit Paragr. 32 BVerfGG Schutz auch gegen die Schaffung vollendeter Tatsachen vor Abschluß des Verfassungsbeschwerde Verfahrens (1.). Dies gilt zumal für das Grundrecht auf Asyl (2.). Es widerspricht auch dem Gewaltenteilungsprinzip und den Grundsatz der Verfassungsorgantreue, der Exekutive die Möglichkeit einzuräumen, durch Vollzugsmaßnahmen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ins Leere laufen zu lassen (3.). Der Hinweis auf eine mögliche Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts stützt die Auffassung des Senats nicht (4.). 1. Aus der Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde gegenüber allen Akten der öffentlichen Gewalt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, Paragraphen 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) folgt, daß diese auch Schutz vor Gerichtsentscheidungen gewährt (a.). Da der außerordentliche Rechtsbehelf dem einzelnen Grundrechtsinhaber soweit wie möglich die tatsächliche Innehabung seines Grundrechts sichern soll, muß - gegebenenfalls mit Hilfe des Paragr. 32 BVerfGG - auch Schutz vor auf die Grundrechte bezogenen irreversiblen und schwerwiegenden tatsächlichen Folgen der angegriffenen Gerichtsentscheidung gewährt werden (b ). [...] 2. Auf der Grundlage seiner Äußerungen zur Funktion der Verfassungsbeschwerde im allgemeinen geht der Senat davon aus, daß die Verfassungsbeschwerde in "Asylsachen" auch unter Berücksichtigung des Paragr. 32 BVerfGG nicht davor schütze, vor Abschluß des verfassungsgerichtlichen Verfahrens in den potentiellen Verfolgerstaat zurückverbracht zu werden. Diese Darlegungen des Senats halten wir auch und gerade was die Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde in Asylsachen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, Art. 16a GG) anbelangt, für unrichtig. Sie stehen mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. wie auch mit der zu Art. 16a GG nicht im Einklang. [...] Die herausragende Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzes in Asylsachen ist denn auch international anerkannt. Selbst Rechtsordnungen, denen das Prinzip des subjektiven Rechtsschutzes nicht zugrundeliegt (wie etwa in Frankreich) und in denen demzufolge der Eintritt der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs selten ist bzw. der Erlaß von einstweiligen Anordnungen an besonders strenge Voraussetzungen gebunden wird, regeln gerade für den Bereich des Asylrechts den Eintritt der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen bzw. den Erlaß von einstweiligen Anordnungen. [...] Allerdings ist es ein wichtiger Bestandteil des Gemeinwohls, offensichtlich unbegründete Asylanträge schnell zu bescheiden und danach alsbald aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen. Indes wiegt die Beeinträchtigung dieses Gemeinwohlbelangs durch einen vorläufigen Aufschub solcher Maßnahmen bei unterstelltem Mißerfolg der Verfassungsbeschwerde weniger schwer als die Nachteile des Vollzugs im Falle des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 89, 9B 100 f.>; 89, 101 105>; 89, 106 107 f.>). Das Gemeinwohl wird durch einen vorübergehenden weiteren Aufenthalt des abgelehnten Asylbewerbers allenfalls kurzfristig beeinträchtigt, der individuelle Nachteil für ihn, falls ihm politische Verfolgung droht, ist hingegen einschneidend und irreparabel. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe verkehren sich indes in ihr exaktes Gegenteil, wenn der Senat auf Seite 72 f.(erster Absatz, letzter Satz) des Urteils aus dem regelmäßigen Vorliegen eines schweren und umwiederbringlichen Nachteils im Bereich des Asylrechts folgert, daß vorläufiger Grundrechtsschutz zu verweigern ist. An dieser Argumentation wird deutlich, daß der Senat das Risiko einer verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Überstellung eines tatsächlich politisch Verfolgten an seinen Verfolgerstaat trotz erhobener Verfassungsbeschwerde und gestelltem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung als "Kosten" einer Beschleunigungsmaxime in Kauf nimmt. Dies spricht für sich. 3. Der Senat unterläuft mit seiner Auffassung zugleich die Grundsätze der Gewaltenteilung und der Verfassungsorgantreue. Die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dient allgemein nicht allein nur der Befriedigung subjektiver Interessen, sondern auch der Sicherung der Entscheidumgsmacht der Judikative gegenüber der Exekutive. [...] Daher darf die Exekutive insbesondere die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht durch den faktischen Vollzug des angegriffenen Hoheitsakts überspielen und damit die Geltung von Verfassungsrecht in Frage stellen. [...] Der Senat hebelt diesen Grundsatz aus: Das Bundesverfassungsgericht soll trotz erhobener Verfassungsbeschwerde und beantragter einstweiliger Anordnung tatenlos hinnehmen, daß die Exekutive gegenüber dem Bürger vollendete Tatsachen schafft und damit seine Entscheidung ins Leere geht. Damit wird der Exekutive freie Hand eingeräumt und das Bundesverfassungsgericht insoweit seiner grundrechtsgewährleistenden Funktion beraubt. 4. Auch eine mögliche Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts kann die Auffassung des Senats nicht rechtfertigen. [...] Wie jedem anderem Gericht auch ist es dem Bundesverfassungsgericht aber verwehrt, sich durch Uminterpretation der Verfassung und unter Berufung auf Arbeitsüberlastung (siehe das Urteil S. 70, zweiter Absatz) von der Erfüllung der (grund-)gesetzlich zugewiesenen Aufgaben freizuzeichnen. Abhilfe kann allein der - gegebenenfalls verfassungsändernde - Gesetzgeber schaffen. II. Soweit der Senat seine Ansicht mit der Funktion der Verfassungsbeschwerde im allgemeinen begründet (vgl. oben I. 1. a.), hätte das Plenum gemäß Paragr. 16 Abs. 1 BVerfGG angerufen werden müssen. Der Zweite Senat befindet sich keineswegs auf einer vom Ersten Senat im Beschluß vom 18. Januar 1996 (s. o.) vertretenen Linie. Ging es doch in jenem Beschluß darum, ob die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde als solche - ohne daß ausweislich des Tatbestands ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt, geschweige denn positiv beschieden worden wäre - den Beschwerdeführer von der Pflicht zur Befolgung der angegriffenen Gerichtsentscheidung befreit. Dies hat der Erste Senat zutreffend mit Hinweis auf den fehlenden Suspensiveffekt der Verfassungsbeschwerde verneint. [...] Die gesamte Rechtsprechung des Ersten Senats zu den Voraussetzungen für den Erlaß einstweiliger Anordnungen ist von dem Grundsatz getragen, daß der Erlaß einstweiliger Anordnungen zum Schutz des individuellen Grundrechts auch dem "Gemeinwohl" in Sinne des Paragr. 32 BVerfGG dient und daß mit dem Erlaß solcher einstweiliger Anordnungen dem Individualwohl Rechnung getragen werden soll (vgl. zum Beispiel BVerfGE 1, 74 75>; 6, 443 445>; 7, 86 87>; 8, 102 103>; 15, 223 226>; 18, 146 147>; 34, 341 343>; 40, 179 181>; 68, 233 236>; 71, 350 353>; 76, 253 256>; 77, 121 125>; 82, 306 309>; 84, 286 289>; 90, 277 284 f.>). Die Entscheidung des Zweiten Senats widerspricht dieser Rechtsprechung. III. Entgegen der Auffassung des Senats verstößt Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG gegen Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (1.) und gegen Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (2.). 1. Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG verstößt gegen Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Wird von 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG Gebrauch gemacht, so ist die Richtigkeit der fachgerichtlichen Prüfung auf das Vorliegen "ernstlicher Zweifel" an der Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung nicht mehr im erforderlichen Maße gewährleistet. Aus der weitgehenden Verfahrensabhängigkeit der Asylrechtsgewährleistung des Art. 16a Abs. 1 GG folgt in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, daß verfahrensrechtliche Vorkehrungen gegen unanfechtbare Fehlentscheidungen getroffen werden müssen. [...] Das Asylverfahrensgesetz sieht in den Fällen der Unbeachtlichkeit und der offensichtlichen Unbegründetheit, des Asylantrags (vgl. Paragr. 29, 29a und 30 AsylVfG) ein beschleunigtes Verfahren vor (Paragr. 36 AsylVfG). [...] Bei dieser Sachlage sind unanfechtbare Fehlentscheidungen jedenfalls nicht fernliegend. [...] Entbindet vor diesem Hintergrund Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG den Richter vom Erfordernis einer Begründung seiner Entscheidung vor deren Bekanntgabe und Wirksamwerden, so ist nicht mehr gewährleistet, daß er sich gerade durch die schriftliche Fixierung der Gründe über die Richtigkeit seiner Entscheidung vergewissert. [...] Kommt der Richter bei Abfassung der Beschlußgründe nunmehr zu der Auffassung, daß seine bisherige Beurteilung falsch war, ist es zu spät. Zudem kann die Pflicht zu einer erst nachträglich zu gebenden Begründung nicht dazu beitragen, daß der Richter schon die Entscheidungsformel mit der notwendigen Bemühung um Richtigkeit beschließt. Art. 16a Abs. 1 GG fordert Schutz vor Abschiebung in den Verfolgerstaat, die erforderliche Richtigkeitsgewähr muß daher auf einen Zeitpunkt vor deren Vollzug bezogen sein. 2. Paragr. 36 Abs. 3 Satz 9 AsylVfG verstößt auch gegen die gemäß Art. 16a Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG garantierte Stellung des Asylsuchenden als Subjekt des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne hat Anspruch auf ein faires Verfahren, in dem er Subjekt und nicht nur Objekt ist; über ihn darf nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden können (vgl. BVerfGE 9, 89 95>; 26, 66 71>; 39, 156 168>; 46, 202 210>; 57, 250 274 f.>; 63, 380 390>; 86, 133 144>). Unter den Besonderheiten des Asylverfahrens erwächst dem Einzelnen hieraus ein Anspruch auf Begründung der Entscheidung, mit der erstmalig und zugleich faktisch abschließend - hierin liegt der entscheidende Unterschied zu der in BVerfGE 50, 287 ff. aufgeworfenen Problematik - der von ihm begehrte gerichtliche Rechtsschutz für die grundrechtlich garantierte Sicherheit vor Rückbringung in den potentiellen Verfolgerstaat abgelehnt wird. Gerade im Asylverfahren ist der Antragsteller zentrales Verfahrenssubjekt. [...] Von daher erlangt er aber auch einen Anspruch darauf, zu erfahren, warum das Verwaltungsgericht seine Angriffe gegen den Bundesamts-Bescheid (unanfechtbar) nicht für stichhaltig hält. Er darf nicht im Ungewissen darüber gelassen werden; warum sein Aufenthalt vor bestandskräftiger Entscheidung über seinen Asylantrag beendet wird, obwohl er gerade dagegen unter Berufung auf sein Grundrecht das Verwaltungsgericht angerufen hat. Geschieht dies, wird er zum bloßen Objekt des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Limbach Böckenförde Sommer Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996
- 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 -
1. a) Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. Juni 1993 hat der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Grundlage geschaffen, um eine europäische Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge mit dem Ziel einer Lastenverteilung zwischen den an einem solchen System beteiligten Staaten zu erreichen. b) Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist auch in der Gestaltung und Veränderung von Grundrechten, soweit nicht die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG berührt sind, rechtlich frei und gibt dem Bundesverfassungsgericht den Maßstab vor. Das Asylgrundrecht gehört nicht zum Gewährleistungsinhalt von Art. 1 Abs. 1 GG. Was dessen Gewährleistungsinhalt ist und welche Folgerungen sich daraus für die deutsche Staatsgewalt ergeben, ist eigenständig zu bestimmen. 2. Art. 16a Abs. 2 GG beschränkt den persönlichen Geltungsbereich des in Art. 16a Abs. 1 GG nach wie vor gewährleisteten Grundrechts auf Asyl. Wer aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG anreist, bedarf des Schutzes der grundrechtlichen Gewährleistung des Absatzes 1 in der Bundesrepublik Deutschland nicht, weil er in dem Drittstaat Schutz vor politischer Verfolgung hätte finden können. 3. Die jeweiligen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften sind unmittelbar kraft Verfassung sichere Drittstaaten. 4. a) Die für eine Bestimmung zum sicheren Drittstaat durch Gesetz (Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG) erforderliche Sicherstellung der Anwendung von Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) setzt insbesondere voraus, daß der Staat den beiden Konventionen beigetreten ist und nach seiner Rechtsordnung einen Ausländer nicht in den angeblichen Verfolgerstaat abschieben darf, ohne vorher geprüft zu haben, ob ihm dort Verfolgung im Sinne von Art. 33 GFK oder Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohen. b) Dem Gesetzgeber steht bei der Bestimmmung von Staaten zu sicheren Drittstaaten für die Gewinnung der Tatsachengrundlage ein Spielraum bei der Auswahl seiner Erkenntnismittel zu. Die Beurteilung des Gesetzgebers muß sich als vertretbar erweisen. 5. a) Der Ausländer, der in den Drittstaat zurückgewiesen oder zurückverbracht werden soll, kann den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor einer politischen Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Herkunftsstaat grundsätzlich nicht mit der Begründung einfordern, für ihn bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort in seinen Einzelfall - trotz normativer Vergewisserung die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Demgemäß kommen für ihn entsprechend dem mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzept normativer Vergewisserung über die Sicherheit im Drittstaat auch die materiellen Rechtspositionen, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann (insbesondere Paragraphen 51 Abs. 1, 53 AuslG) nicht in Betracht. b) Die Bundesrepublik Deutschland hat allerdings Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse nach Paragr. 51 Abs. 1 oder Paragr. 53 AuslG durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind. c) Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstellen, kann der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, daß er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen. 6. a) Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG wendet sich nicht nur an den Gesetzgeber sondern auch unmittelbar an Behörden und Gerichte: Rechtsbehelfe gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen sollen keine aufschiebende Wirkung entfalten; Anträge an die zuständigen Gerichte mit dem Ziel, den Vollzug dieser Maßnahmen vorläufig auszusetzen, sollen ohne Erfolg bleiben. b) Diese Ausschlußwirkung des Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG reicht nicht über die Grenzen hinaus, die dem Konzept normativer Vergewisserung gesetzt sind.