Ausgabe Oktober 1997

Stillstand, unerträglich normal

Der Bundesrat ist ins Gerede gekommen, genauer gesagt: die gesetzgeberische Vetomacht der Sozialdemokraten in der Länderkammer. Für Klagen über Immobilismus und Reformstau in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik gibt es gewiß vielfältige Gründe. 1) Doch die zugespitzte Konfrontation der gegenläufigen Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat bietet zweifellos den derzeit augenfälligsten Anlaß für das umlaufende Unbehagen am Reformstau. Allzu offensichtlich symbolisiert diese Konstellation der an zentraler Stelle des legislativen Prozesses ineinander verkeilten Parteien den vermeintlich völligen Stillstand der Politik. Gewichtige Einwände gegen die landläufige Interpretation hat unlängst an dieser Stelle Peter Lösche erhoben. 2) Für ihn ist zeitweiliger Politikstillstand etwas völlig Normales, ja geradezu Ausdruck funktionierenden Verfassungslebens.

Das politische System der Bundesrepublik mit seinen gewaltenteilenden Elementen Verhältniswahlrecht, Föderalismus, mit Verfassungsgericht und unabhängiger Zentralbank sei nun einmal auf "Machtdiffusion" hin angelegt. Und das sei auch gut so, schließlich ständen hinter den jeweiligen Akteuren gesellschaftliche Gruppen, die legitimerweise ihre spezifischen Interessen im politischen Prozeß zur Geltung zu bringen versuchten.

Oktober 1997

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