Jahresbericht der Wehrbeauftragten vom 3. März 1998 (Auszüge)
Weit mehr Beachtung als in vorhergehenden Jahren fand 1998 - nach einer Reihe rechtsextremistisch motivierter Vorfälle in der Bundeswehr sowie dem sog. Roeder/Rühe-Skandal - der am 3. März 1998 vorgelegte Jahresbericht der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages Claire Marienfeld. Der hier geäußerten Kritik an der mangelnden Distanz zur Wehrmacht im Traditionsverständnis der Bundeswehr widersprach Verteidigungsminister Volker Rühe noch am selben Tag: Gewisse Leute würden in dieser Hinsicht übertreiben. Wir dokumentieren aus dem einleitenden Kapitel "Schwerpunkte nach meinem Amtsverständnis" den Abschnitt "Tradition" sowie die zusammenhängenden Abschnitte "Traditionsverständnis" und "Politische Bildung" aus dem Kapitel "Der Soldat als Teil unserer demokratischen Gesellschaft". (Zum Thema vgl. auch die Beiträge von Wolfram Wette und Hajo Funke in der Februarausgabe.) - D. Red.
Tradition
Im Berichtsjahr 1997 ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, das Bewußtsein der Soldaten für die Tradition der Bundeswehr zu schärfen. Ich rege eine Besinnung darauf an, welche tiefgreifenden politischen und die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland insgesamt bewegenden Diskussionen in den Anfangen der 50er Jahre dem Aufbau der Bundeswehr vorausgegangen sind. Die Bundeswehr wurde als Armee in der freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland neu geschaffen. Eid und Gelöbnis des Soldaten beziehen sich auf die Bundesrepublik Deutschland und auf Recht und Freiheit des deutschen Volkes. Die Bundeswehr besteht länger als Reichswehr und Wehrmacht zusammen. Sie verfügt über eine mehr als 40jährige eigene Geschichte in Frieden und Freiheit, die Grundlage einer eigenen Tradition sein oder werden kann. Bei einer solchen Betrachtungsweise müssen ethische und rechtsstaatliche, freiheitliche und demokratische Zeugnisse, Haltungen und Erfahrungen aus der Geschichte nicht verloren gehen. Die Traditionswürdigkeit von Ereignissen und Persönlichkeiten unserer Geschichte muß sich aber am Wertemaßstab unseres Grundgesetzes messen lassen. Ich kann nicht hinnehmen, in der Bundeswehr auch auf Formen der Traditionspflege zu stoßen, die zu diesen Werten in deutlichem Widerspruch stehen.
Daher begrüße ich, daß das Bundesministerium der Verteidigung am 8. Januar 1998 Hinweise zur Traditionsdarstellung in Liegenschaften der Bundeswehr gegeben und mit dem gültigen Traditionserlaß vom 20. September 1982 in der Truppe verteilt hat. Um den Rahmen der Traditionspflege in der Bundeswehr noch klarer und verbindlicher zu setzen, sollten der Traditionserlaß und die Hinweise zur Traditionsdarstellung in die ZDv 10/1 "Innere Führung" aufgenommen werden.
Traditionsverständnis
Die bekannt gewordenen Fälle rechtsextremistischen Verhaltens von Soldaten sowie eigene einschlägige Beobachtungen im Berichtsjahr geben mir Anlaß, die Frage des Traditionsverständnisses der Bundeswehr erneut aufzugreifen. Ziffer 3 der Vorbemerkung zur ZDv 10/1 "Innere Führung" sagt zur Tradition: "Richtlinien für die Tradition stehen in enger Beziehung zu den Grundlagen und Grundsätzen der Inneren Führung. Zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Dienstvorschriften ist die Bestandsaufnahme und Bewertung wesentlicher Teile der jüngeren deutschen Geschichte noch nicht abgeschlossen. Unstrittig ist jedoch, daß die mit der Vereinigung Deutschlands aufgelöste Nationale Volksarmee wegen ihres Charakters als Partei- und Klassenarmee eines kommunistischen Systems keine Tradition für die Bundeswehr stiften kann. Die Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr vom 20. September 1982 gelten weiter". Der Bundesminister der Verteidigung hat anläßlich der Debatte im Deutschen Bundestag zur Rolle der Wehrmacht in der Zeit des Nationalsozialismus am 13. März 1997 U.a. ausgeführt: "Ich habe auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr 1995 in München über das Verhältnis Wehrmacht-Bundeswehr folgendes gesagt jedes Wort gilt bis heute -: Die Wehrmacht war als Organisation des Dritten Reiches in ihrer Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. Als Institution kann sie deshalb keine Tradition begründen. Ich sagte dann weiter: Nicht die Wehrmacht, aber einzelne Soldaten können traditionsbildend sein, wie die Offiziere des 20. Juli, aber auch wie viele Soldaten im Einsatz an der Front. Wir können diejenigen, die tapfer, aufopferungsvoll und persönlich ehrenhaft gehandelt haben, aus heutiger Sicht nicht pauschal verurteilen. Aber wir dürfen uns nicht auf rein militärische Haltungen und Leistungen beschränken. Entscheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamtverhalten."
Ich beziehe mich ausdrücklich auf die Feststellungen meines Amtsvorgängers Alfred Biehle in seinem Jahresbericht 1994 zur Frage der Traditionswürdigkeit von Taten und Leistungen der Wehrmacht insgesamt sowie auf meine Ausführungen in meinem Jahresbericht 1995, in dem ich festgestellt habe, daß eine Entscheidung über die Regelung des Traditionsverständnisses der Bundeswehr dringend geboten erscheint. Nach den das gesamte öffentliche Meinungsbild sehr bewegenden Diskussionen in den Jahren 1995 bis 1997 über die Rolle der Wehrmacht und nahezu 5 Jahre nach Herausgabe der ZDv 10/1 "Innere Führung" erwarte ich, daß das Traditionsverständnis der Bundeswehr sowohl durch eindeutige inhaltliche Vorgaben als auch durch deren Aufnahme in die ZDv 10/1 "Innere Führung" stärker und nachdrücklicher allen Soldaten zugänglich und bewußt wird. Nach über 40jährigem Bestehen hat die Bundeswehr Grundlagen für eine eigene Tradition entwickelt. Sie ist die erste Wehrpflichtarmee in einem demokratischen deutschen Staatswesen. Sie ist in ein Bündnis von Staaten integriert, die sich zu Demokratie, Menschenwürde und Freiheit bekennen. Ihr Auftrag liegt in der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, in der Erfüllung der Verpflichtungen aus dem NATO-Bündnis und in der Beteiligung an internationalen Friedensmissionen mit Zustimmung des Deutschen Bundestages. Das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform", die Einordnung der Bundeswehr in das freiheitlich-demokratische Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland, ihre offene Einbindung in die Gesellschaft, ihre Hilfeleistungen für die Zivilbevölkerung bei Notlagen im In- und Ausland sind eine solide Basis für eine eigene Tradition.
Um so mehr beobachte ich mit Sorge, daß innerhalb der Bundeswehr gleichwohl die gebotene Distanz zur deutschen Wehrmacht insgesamt, aber auch zu einzelnen Personen aus der deutschen Wehrmacht nicht immer und überall eingehalten wird.
So fand ich im Berichtsjahr zuweilen in Kasernen, z.B. auf Fluren oder in Aufenthaltsräumen, teilweise umfängliche militärhistorische Ausstellungen, in denen Uniformen, Orden, Ausrüstungsgegenstände der Wehrmacht sowie Landkarten mit Darstellungen von Truppenbewegungen aus dem 2. Weltkrieg präsentiert werden, ohne daß sie ihre Einordnung in den geschichtlichen Zusammenhang erkennen lassen. Zudem befinden sie sich in unmittelbarer Nähe entsprechender Exponate der Bundeswehr. Ebenso mißverständlich wirkt es, wenn sich in einer solchen Sammlung beispielsweise Originaltruppenzeitungen aus dem Jahre 1941 mit den entsprechenden Schlagzeilen zum Vormarsch der Wehrmacht befinden. Zu beanstanden in einer solchen Umgebung sind ebenso Darstellungen von Kampfsituationen, an denen die Wehrmacht beteiligt war. Auch kann meines Erachtens durchaus darauf verzichtet werden, daß Karten aus jener Zeit, die die Heimat "Großdeutschland" ausweisen, den Soldaten vorgestellt werden. Man sollte sich zudem stets vor Augen halten, welche Wirkungen ein indifferentes Traditionsverständnis auf junge Menschen ausübt, die mit unzureichenden Vorstellungen über die Zeit der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft in der Kaserne mit einer so oberflächlichen Geschichtsdeutung konfrontiert werden.
Politische Bildung
Die Bundeswehr als staatliche Einrichtung, die nach dem Grundsatz von Befehl und Gehorsam geführt wird, in der Soldaten an Waffen ausgebildet und mit Waffen ausgerüstet werden und in die junge Männer aufgrund staatlich geförderter allgemeiner Wehrpflicht eingezogen werden, muß sich von Entwicklungen zur Gewaltbereitschaft und zum Extremismus freihalten. Von mir überprüfte Vorgänge lassen teilweise bemerkenswerte Unkenntnis über politische und geschichtliche Zusammenhänge sowie einen deutlichen Wertewandel erkennen.
Daher kommt dem staatsbürgerlichen Unterricht eine besondere und aktuelle Bedeutung zu. Ich bin mir bewußt, daß angesichts einer breiten Infragestellung hergebrachter Werte der staatsbürgerliche Unterricht dem Vorgesetzten nicht leichtgemacht wird. Bei offener Diskussion mit seinen Soldaten kann er sich schnell in einer Wertediskussion und unversehens auf einer Gratwanderung wiederfinden. Wer indessen gut ausgebildet ist und über eine freiheitlich-demokratische Grundeinstellung verfügt, braucht sich vor einer Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen, auch in der politischen Praxis diskutierten Positionen nicht zu fürchten. Er wird sich einer rückhaltlosen Unterstützung durch die Vorgesetzten sicher sein können. Die Erteilung staatsbürgerlichen Unterrichts ist gemäß Paragr. 33 Soldatengesetz vorgeschrieben. Die durch die Weisung des Generalinspekteurs vom 12. Juli 1995 vorgegebenen Ausbildungsanteile des staatsbürgerlichen Unterrichtes sind ein notwendiges Minimum, das den Soldaten nicht vorenthalten werden darf.
In der "Weisung zur Intensivierung der historischen Bildung in den Streitkräften" vom 2. März 1994 hat der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr darauf hingewiesen, daß historische Bildung eine wesentliche Voraussetzung für politische Bildung und eine wichtige Vorbedingung für die Verwirklichung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform ist. Neben der Einbindung der historischen Bildung in die Führerausbildung der Streitkräfte fordert der Generalinspekteur von jedem militärischen Führer und dem Führernachwuchs, daß die historischen Kenntnisse über den militärgeschichtlichen Unterricht hinaus im Selbststudium erweitert und vertieft werden. Die Kommandeure aller Führungsebenen haben sich der Vermittlung von historischer Bildung anzunehmen. Ich wiederhole die Forderung aus meinen Jahresberichten 1995 und 1996, daß auch unter den engen zeitlichen Rahmenbedingungen des Truppenalltags die politische Bildung des Soldaten nicht vernachlässigt werden darf. Die Bundeswehr wird sich andernfalls zu Recht der Frage stellen müssen, ob sie alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um Vorfälle wie in Detmold, Hammelburg, Schneeberg, Dresden und Altenstadt/Schongau zu verhindern.