Ausgabe August 1998

Der Zusammenarbeit Polens und Deutschlands nicht dienlich

Ein "Resolutionswechsel" zwischen Sejm und Bundestag

In außergewöhnlicher Einmütigkeit verabschiedete der Sejm, das polnische Parlament, am 3. Juli eine ebenso außergewöhnliche Resolution. (Nur zwei Abgeordnete enthielten sich, die beiden Vertreter der deutschen Minderheit nahmen an der Abstimmung nicht teil.) Mit harschen Worten erteilten die Warschauer Parlamentarier, sowohl des Regierungslagers wie der Opposition, ihren Kollegen im Deutschen Bundestag eine Abfuhr. Dieser hatte am 29. Mai in einer mit der Mehrheit der Koalitionsparteien angenommenen Entschließung u.a. formuliert: "Der Deutsche Bundestag hegt die Hoffnung, daß die mit einem Beitritt Tschechiens und Polens zur Europäischen Union einhergehende Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes durch die neuen Mitglieder die Lösung noch offener, bilateraler Fragen erleichtern wird. Dies schließt das Recht auf Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit ein. Der Warnschuß aus Warschau (vgl. den Kommentar von Heiner Lichtenstein m diesem Heft) gilt Formulierungen, die Revisionsansprüche der deutschen Seite offenhalten und Polens Aufnahme in die EU mit Zugeständnissen in Eigentums-, wenn nicht gar in Territorial- oder Souveränitätsfragen verknüpfen zu wollen scheinen. Wir dokumentieren den außergewöhnlichen "Resolutionswechsel" der beiden Volksvertretungen - die Sejm-Resolution im Wortlaut und aus der Bundestagsentschließung die angesprochenen Passagen. - D. Red.

Erklärung des Sejm der Republik Polen vom 3. Juli 1998 (Wortlaut)

Der Sejm der Republik Polen stellt fest, daß die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 29. Mai 1998 der sich entwickelnden Zusammenarbeit Polens und Deutschlands nicht dienlich ist. Sie enthält Zweideutigkeiten, an denen wir nicht gleichgültig vorbeigehen können. Der Sejm der Republik Polen hält eine europäische Zusammenarbeit, die das völkerrechtliche System nicht verletzt und insbesondere die nach dem Zweiten Weltkrieg statuierte und in den Verträgen zwischen Polen und Deutschland bestätigte territoriale Ordnung in Ostmitteleuropa nicht in Frage stellt, für die Grundlage einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung. Das polnische Volk beobachtet aufmerksam die Verhandlungen mit der Europäischen Union. Unsere Beteiligung an der Union muß auch die von allen unseren Nachbarn bestätigte Unverletzlichkeit der politischen Grenzen sowie der polnischen Eigentumstitel an Immobilien bedeuten. Die Entschließung des Bundestages vom 29. Mai 1998 weist gefährliche Tendenzen auf, die nicht nur Polen zur Beunruhigung berechtigen. Wir erwarten, daß die Deutschen alles tun, damit nicht durch ein Partikular- und Augenblicksinteresse vergeudet wird, was der größte Erfolg Europas in den letzten Jahren ist. Gemeinsam tragen wir die Verantwortung für eine dauerhaft friedliche Zusammenarbeit zwischen den Völkern.

 

Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten sind eine Brücke zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn

Entschließung des Deutschen Bundestages vom 29. Mai 1998 (Auszug)

[...]

3. Der Deutsche Bundestag hat im Zusammenhang mit den vertraglichen Vereinbarungen mit den Staaten Mittel- und Osteuropas, zuletzt bei der Ratifizierung des deutsch-polnischen bzw. deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages, bekräftigt, daß im Zuge der Aufnahme unserer östlichen Nachbarstaaten in die Europäische Union und in die NATO europäische Grundfreiheiten selbstverständlich und unabdingbar für alle Bürger in den alten und neuen Mitgliedstaaten, also auch für die deutschen Heimatvertriebenen Geltung haben müssen. Der Deutsche Bundestag hegt die Hoffnung, daß die mit einem Beitritt Tschechiens und Polens zur Europäischen Union einhergehende Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes durch die neuen Mitglieder die Lösung noch offener, bilateraler Fragen erleichtern wird. Dies schließt das Recht auf Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit ein. Sie sind wesentliche Elemente, um das Ziel eines einigen Europas der Vielfalt zu verwirklichen, in dem Völker und Volksgruppen mit ihren unterschiedlichen Kulturen und Traditionen einträchtig zusammenleben können, unter Berücksichtigung der historischen Gemeinsamkeiten und bei wechselseitiger Achtung und Förderung der jeweiligen Identität. Sie sind damit auch Elemente, die geeignet sind, die Folgen von Krieg und Vertreibung überwinden zu helfen.

4. Vertreibung darf kein Mittel der Politik sein. Der Deutsche Bundestag teilt deshalb die Auffassung der Bundesregierung - wie auch aller früheren Bundesregierungen -, die die im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte Vertreibung von Deutschen aus ihrer angestammten Heimat stets als großes Unrecht und als völkerrechtswidrig angesehen und auch so bezeichnet hat. Er fordert die Bundesregierung auf, sich auch weiterhin im Dialog mit den Regierungen unserer östlichen Nachbarstaaten für die legitimen Interessen der Heimatvertriebenen einzusetzen. 5. Für eine dauerhafte europäische Friedensordnung ist die Lage von Minderheiten von entscheidender Bedeutung. Diese können eine wichtige Brücke zwischen den europäischen Staaten und Völkern sein. Die in Europa beheimateten Minderheiten und Volksgruppen können ihrer Brückenfunktion um so eher gerecht werden, je mehr sie in ihrer kulturellen, sprachlichen, religiösen und ethnischen Identität respektiert und geschützt werden.

[...]

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema