"Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig", schrieb Kurt Tucholsky 1931. Was er beklagte, war die Unfähigkeit der politischen Klasse der Weimarer Republik, "die Denkungsart der breiten Masse" zu erfassen: "Der wirkliche Gehalt dieses Volkes, seine anonyme Energie, seine Liebe und sein Herz" - für all das gehe gerade den sozialdemokratischen Vertretern der Republik jeder Instinkt ab. "Daß nun dieses richtige Grundgefühl heute von den Schreihälsen der Nazis mißbraucht wird, ist eine andre Sache." Zwei Jahre später war es mit der ersten deutschen Republik vorbei. Gewiß, mit den historischen Analogien soll man es nicht zu weit treiben. Der Kollaps demokratischer Politik steht in diesen Tagen in Deutschland und Westeuropa nirgendwo auf der Tagesordnung. Doch immerhin gibt der Ausgang der Europawahlen Anlaß zu Fragen über den Zustand von Politik, Parteien und Demokratie in Deutschland. Um die Diskrepanz zwischen dem falschen Verstehen und richtigen Fühlen der Bürger einerseits und den Fehlleistungen ihrer politischen Klasse andererseits geht es auch bei ihnen. Und besonders um die SPD und ihren "Dritten Weg".
In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.