Zusammenbruch und Trümmer waren in Westdeutschland stets der Code für den Mai 1945, die vielbeschworene "Stunde Null". Daß es dennoch zu einem raschen wirtschaftlichen Aufstieg kam, kann dann nur als Wunder, eben als "Wirtschaftswunder" verstanden werden. Dies ist der Gründungsmythos der westdeutschen Wirtschaftsgesellschaft. Die Tatsachen allerdings lassen nicht auf ein Wunder schließen. Denn 1948 gab es in Westdeutschland 14% mehr und um ein Drittel jüngere Fabrikationsanlagen als 1935, und daß dies trotz Rüstungsproduktion, Kriegszerstörungen, Demontagen und trotz der millionenfachen Einberufung zum Kriegsdienst und damit fehlender Arbeitskräfte der Fall sein konnte, erklärt sich vor allem durch die Ausbeutung der Zwangsarbeiter sowie durch die Zufuhr von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Industrieprodukten aus den besetzten Gebieten. Um den Zusammenhang zwischen der Zwangsarbeit im Krieg und dem späterem "Wirtschaftswunder" wirklich aufzuklären, muß als erstes untersucht werden, was 1945 in welchem Ausmaß zerstört war (die Fabriken, das Transportwesen, die Wohnungen).
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.