"Wir sind nicht unterentwickelt", pflegt Präsident Fernando Henrique Cardoso, früher als radikaler Soziologe einer der Väter der Dependenztheorie, zu sagen, "sondern wir Brasilianer leiden an Ungleichheit". Hat sich die Situation gebessert? Makroökonomisch deutlich ja. Laut Zensus 2000 des IGBE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística) stieg das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen während der 90er Jahre um 41,8% an. Solch abstrakte Daten müssen im kommenden Oktober den Test der Präsidentschafts- und Kongresswahlen bestehen. Indes, an die Wahlurne glauben viele Bürger infolge der schroffen Ungleichheit kaum mehr.
Der wirkliche Wandel in der brasilianischen Gesellschaft geschieht an der Basis, wo fern von der offiziellen Politik autonome Gruppen, Gewerkschaften, die MST-Landlosenbewegung (Movimiento dos Sem Terra), christliche Kirchengemeinden, Studenten und Nachbarschaftsvereinigungen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Manchmal als Klassenkampf besonderer Art: In der Osterwoche besetzten an die fünfhundert Familien der MST-Landlosenbewegung die Hacienda der Cardoso-Präsidentenfamilie, um den Inhalt der enormen Kühlschränke leer zu essen und zu trinken und die von Fidel Castro geschenkten Zigarren aufzurauchen.