Bild: Die linke Präsidentschaftskandidatin Jeannette Jara, 27.9.2025 (IMAGO / Aton Chile)
In vielerlei Hinsicht gleicht die bevorstehende Parlaments- und Präsidentschaftswahl in Chile einem Déjà-vu-Erlebnis: Erneut zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass der rechtsextreme José Antonio Kast die Wahl gewinnen könnte. Vor vier Jahren konnte dies der aktuelle Präsident Gabriel Boric vom linken Parteienbündnis Apruebo Dignidad verhindern. Er gewann in der Stichwahl mit 56 zu 44 Prozent der Stimmen gegen Kast, der im ersten Wahlgang noch vorne gelegen hatte.
Zur Wahl am 16. November tritt nun die Kommunistin und frühere Arbeitsministerin der aktuellen Regierung, Jeannette Jara, an. Sie soll das Reformprogramm der Regierungskoalition fortführen und wird laut den aktuellen Umfragen gegen Kast in die Stichwahl einziehen. Der Sohn eines geflohenen SS-Soldaten tritt bereits zum dritten Mal zur Wahl an; mit seinem streng nach rechts gekämmten Scheitel verkörpert er den Hass vieler Chileninnen und Chilenen auf alles Progressive und die vermeintliche Unordnung, die durch eine „zu liberale“ Politik in Chile Einzug gehalten habe.
Wie auch schon vor vier Jahren stellen beide Seiten ihr Gegenüber als Dämon dar – wahlweise als Vertreter:in des Kommunismus oder Faschismus. Dadurch entsteht der Eindruck einer tief gespaltenen Gesellschaft. Doch nach vier Jahren der Regierung Boric ist das Schreckgespenst des „Sozialismus“ verblasst. Die Boric-Regierung hat den Weg für die womöglich erste kommunistische Präsidentin des Landes frei gemacht.
„Chile hat sich verändert“ – dieser Spruch stand während der sozialen Revolte von 2019 an den Häuserwänden der Städte und wurde auf den zahlreichen großen Demonstrationen gesungen.[1] Hunderttausende protestierten damals landesweit gegen die Regierung des konservativen Präsidenten Sebastián Piñera und das neoliberale Gesellschaftssystem. Sie erzwangen damit letztlich die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die binnen eines Jahres den Entwurf für eine neue Magna Carta vorlegte. Doch spätestens mit dem „Nein“ zur neuen, in vielen Punkten sehr progressiven Verfassung von 2022 wurde vielen Menschen klar: Chile hatte sich doch nicht grundlegend verändert. Für einen wichtigen Teil der Bevölkerung war offenbar die Aufrechterhaltung des Status quo wichtiger als der Aufbruch in eine ungewisse Zukunft.[2]
Eine neue Parteienlandschaft
Verändert hat sich seither allerdings die politische Landschaft in dem südamerikanischen Land: Die wichtigen Parteien der 1990er und 2000er Jahre verlieren zunehmend an Bedeutung. Auf der linken Seite hat die Partei Frente Amplio von Präsident Gabriel Boric in vielen Bereichen die Rolle der ehemaligen Concertación de Partidos por la Democracia übernommen – jenes Bündnisses, das Chile von 1990 bis 2010 durchgehend regierte. Viele Mitglieder der traditionellen Mitte-links-Parteien sind zum Frente Amplio übergewechselt. Einst wichtige historische Parteien wie die Democracia Cristiana oder die Partido por la Democracia kämpfen heute um ihr Überleben.
Zugleich hat sich die Kommunistische Partei Chiles aus ihrer ewigen Oppositionsrolle verabschiedet. Nachdem sie von 2014 bis 2018 erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1990 an der Regierung beteiligt war, stellt sie in der aktuellen Regierung gleich mehrere wichtige Minister. Ihre Kandidatin Jara wurde mit herausragender Mehrheit bei einer Vorwahl zur Präsidentschaftskandidatin der Regierungskoalition gewählt.
Auf der rechten Seite des politischen Spektrums haben die alten Parteien der Diktatur, Renovación Nacional und Unión Demócrata Independiente, ebenfalls an Bedeutung eingebüßt. Nachdem der ehemalige Präsident Piñera 2023 bei einem Hubschrauberunfall in einem See ertrank, haben es beide Parteien versäumt, neue mehrheitsfähige Kandidat:innen aufzubauen. Mit der aktuellen Kandidatin Evelyn Matthei, der Tochter des letzten Oberbefehlshabers der Luftwaffe unter Diktator Augusto Pinochet (1973-1990), haben die Parteien kaum Chancen, in die Stichwahl zu gelangen.
Unterdessen hat sich rechts von ihnen die Partido Republicano mit ihrem Dauerkandidaten Kast etabliert. Dieser setzt in seiner Wahlkampagne auf das Versprechen, mit harter Hand Ordnung im Land zu schaffen. Seine Wahlveranstaltungen erscheinen dabei zunehmend als billige Kopien US-amerikanischer Massenveranstaltungen. Allerdings hält sich Kast mit Vergleichen zu seinen einstigen Vorbildern aus Argentinien, Brasilien oder den USA bewusst zurück. Zu schlecht geht es dem Nachbarland Argentinien unter Javier Milei und zu sehr wächst in Chile die Angst, durch US-amerikanische Zölle in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Einzig mit der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni lässt sich Kast noch regelmäßig ablichten. Neben Kast und Matthei tummeln sich auch drei weitere Kandidaten im Umfeld des rechten Gedankenguts. Doch keiner von ihnen hat laut bisherigen Umfrageergebnissen eine reale Chance, in die Stichwahl einzuziehen. Rechnet man jedoch die Umfrageergebnisse aller Kandidaten der Rechten zusammen, könnte das rechte Lager Jara in der Stichwahl durchaus schlagen.
Allerdings ist die Rechte in Chile tief zerstritten. Insbesondere Kast und der noch radikalere Johannes Kaiser, Enkel eines deutschen Sozialdemokraten, der vor den Nationalsozialisten in Deutschland nach Chile geflohen war, gerieren sich als One-Man-Shows, die sich kaum dem jeweils anderen unterordnen würden. So sind die Rechten zumindest gegenwärtig nicht in der Lage, gemeinsame Kandidaturen und Programme zu finden. Dies ist ein Vorteil für die aktuelle Regierungskoalition, die sich in den vergangenen Jahren auch in der Praxis als neues Mitte-links-Bündnis etabliert hat.
Wirtschaftliche Stabilität statt »Chilezuela«
Als Gabriel Boric 2021 seine Präsidentschaftskandidatur verkündete, sah sich die linke Koalition mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würde das Land mit einer sozialistischen Politik ins wirtschaftliche und soziale Chaos stürzen. Der Begriff „Chilezuela“ als Anspielung auf das vermeintlich sozialistische Venezuela machte in rechten Kreisen die Runde.
Auch wenn die aktuelle Regierung die Hoffnungen vieler Menschen auf einen grundlegenden Wandel enttäuscht hat, so hat sie doch bewiesen, dass sie das Land nach der sozialen Revolte und den wirtschaftlichen Engpässen im Zuge der Coronapandemie wieder stabilisieren konnte. Die jährliche Inflationsrate ging in ihrer Regierungszeit von über zwölf auf etwa vier Prozent zurück. Gleichzeitig vermeldet die staatliche Agentur für Auslandsinvestitionen Rekordzahlen. Mit über 56 Mrd. US-Dollar für 2024 seien die Investitionen aus dem Ausland so hoch wie nie seit Gründung der Agentur im Jahr 2016. Stolz kommentierte Wirtschaftsminister Nicolás Grau: „Chile konsolidiert sich weiter als attraktiver Investitionspol innerhalb Lateinamerikas.“[3]
Wichtige Zukunftsprojekte der Regierung sind der Export von grünem Wasserstoff, die Ansiedlung von Datenzentren und die weitere Konsolidierung des Lithiumabbaus. Traditionell sind auch der Abbau von Kupfer und in geringerer Menge Gold wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes – vor allem bei Lithium und Kupfer handelt es sich um Rohstoffe, die für die grüne Transformation weltweit von zentraler Bedeutung sind.
Mit ihrer wirtschaftspolitischen Strategie knüpfte die Regierung Boric an die teils heftig kritisierte Concertación an. Diese musste in den 1990er Jahren beweisen, nicht nur demokratischer als eine Diktatur zu sein, sondern das Land auch wirtschaftlich voranzubringen. Diesen Beweis hat sie erbracht: Erst nach Pinochets Abgang wurde das neoliberale Chile zu einem Erfolgsmodell für marktliberale Fanatiker weltweit. Die bis zum Ende der Diktatur regelmäßigen Wirtschaftskrisen sind seitdem verschwunden, und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich seit 1990 fast versiebenfacht. Mit derzeit knapp 17 000 Dollar ist es heute sogar höher als das der Türkei. An der extremen sozialen Ungleichheit im Land hat das allerdings nichts geändert.
Spätestens die frühere Präsidentin Michelle Bachelet, die zwischen 2006 und 2010 sowie zwischen 2014 und 2018 regierte, kombinierte die neoliberale Wirtschaftspolitik mit kleinen sozialen Reformen und ermöglichte es so, die bereits 2006 aufkommende Schüler:innen- und Studierendenbewegung im Zaum zu halten. Allerdings scheiterte Bachelet aufgrund ihrer fragilen Mehrheit im Parlament und der verfassungsrechtlichen Hürden daran, größere Reformen – etwa des Bildungs-, Gesundheits- oder Steuersystems – umzusetzen.
Für seine Regierung brachte Boric wichtige Figuren des Bacheletismus in die Ministerien. Mit Mario Marcel als Finanzminister und Ximena Aguilera im Gesundheitsministerium sollte der Weg der kleinen Reformen und wirtschaftlichen Makrostabilität fortgesetzt werden. Doch auch sie scheiterten an den weiterhin fehlenden Mehrheiten im Parlament: Beiden gelang es nicht, ihre angekündigten Steuer- und Gesundheitsreformen umzusetzen.
Im Gegensatz dazu konnte die Präsidentschaftskandidatin Jeannette Jara in ihrer Zeit als Arbeitsministerin mehrere kleine Erfolge vorweisen. Sie verkörpert damit am besten die Politik der kleinen Reformen, die trotz fehlenden Mehrheiten und im stetigen Dialog mit der Opposition vorangetrieben werden.
Jara, die neue Bachelet?
Nicht nur in der Politik, auch mit ihrem gesamten Auftreten erinnert Jara an die ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet. Doch im Gegensatz zur Sozialistin Bachelet kommt Jara aus einem Armenviertel der Hauptstadt Santiago, gehört zur ersten Generation ihrer Familie, die studieren konnte, und ist seit ihrer Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei.
Als Arbeitsministerin unter Boric – ein Amt, das sie bis zu ihrer Kandidatur im April ausübte – erzielte sie drei Achtungserfolge: Sie erreichte die höchste Anhebung des Mindestlohns innerhalb einer Legislaturperiode von rund 350 Euro in 2021 auf derzeit etwa 500 Euro monatlich, die Zustimmung des Parlaments für die schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche sowie die Wiedereinführung einer solidarischen Säule innerhalb des Rentensystems.
Die heftigste Kritik an ihren Reformen kommt allerdings nicht von rechts, sondern von links. Jara habe zu viele Zugeständnisse gemacht, heißt es etwa vom gewerkschaftsnahen Thinktank Fundación Sol. So wurde die Senkung der Wochenarbeitszeit gegen eine zusätzliche Flexibilisierung der Arbeitszeiten eingetauscht, und die Einführung eines Solidarfonds im Rentensystem ging mit einer Erhöhung der obligatorischen Beiträge für die stark kritisierten privaten Rentenfonds einher. Jara verteidigte ihre Reformen indes mit dem Argument, sie würden Türen öffnen.
Politik des Ausgleichs
Diesen Weg des Ausgleichs will sie im Falle ihrer Wahl weitergehen. So stellte Jara klar, weder die Abschaffung des Abtreibungsverbots vorantreiben noch einen weiteren verfassungsgebenden Prozess anstoßen zu wollen. In ihrem Wahlprogramm verspricht sie einen „wirtschaftlichen Aufschwung, der alle erreicht“ und eine Erhöhung des Mindestlohns auf umgerechnet etwa 700 Euro.
Innerhalb der Kommunistischen Partei stößt Jaras Erfolg allerdings nicht nur auf Zustimmung. Eigentlich dringen Richtungskämpfe in der zentralistisch aufgebauten KP selten nach außen. Doch mittlerweile ist klar: Den alten Männern aus der Partei gefällt der Reformkurs von Jara und ihre fehlende Unterstützung Kubas nicht. In der Nacht des 29. Juni, wenige Stunden nachdem bekannt wurde, dass Jara die Vorwahl zur Präsidentschaftskandidatin innerhalb ihrer Koalition gewonnen hatte, sagte der Generalsekretär der KP, Lautaro Carmona, im Fernsehen, er reise regelmäßig nach Moskau, um sich mit anderen kommunistischen Parteien der Welt auszutauschen. Es ist eine Aussage, die den geopolitischen Diskurs der alten Linken repräsentiert: Alles, was gegen die imperialen USA gerichtet ist, ist gut. Demokratische Standards sind kaum der Rede wert. Damit schürte Carmona selbst antikommunistische Ressentiments, die innerhalb Chiles weiterhin vorherrschen.
Carmonas Aussagen haben das Zeug, Jaras Chancen auf einen Wahlsieg zu mindern. Schließlich entscheidet sich die Wahl auch am Abstimmungsverhalten der sich selbst als unpolitisch bezeichnenden Wähler:innen, die aufgrund der Pflicht zur Teilnahme weitaus wichtiger sind als etwa in Deutschland. Traditionell wird damit gerechnet, dass ihr Anteil etwa ein Drittel der Stimmen ausmacht.
Es war genau dieser Wähler:innenanteil, der bei der Abstimmung zur neuen Verfassung 2022 den Ausschlag zum „Nein“ gegeben hat und der besonders durch Kampagnen in sozialen Netzwerken beeinflussbar ist. Schon jetzt werden Nutzer:innen dort mit Videos der einzelnen Kandidat:innen überschwemmt. Eine Recherche des Fernsehsenders Chilevision ergab, dass insbesondere Kast auf eine Reihe falscher Profile setzt, um Reichweite zu erzielen und seine Konkurrenz zu verunglimpfen. Geleitet wurde diese Kampagne laut Chilevision von einem Direktoriumsmitglied des Fernsehsenders Canal 13, der nach Veröffentlichung der Recherche von seinem Posten zurücktrat.
Das Wahlergebnis wird zeigen, ob es Jara schafft, trotz der Verunglimpfungen von rechts und der Stolpersteine ihrer eigenen Parteikollegen in die Fußstapfen der überaus beliebten Bachelet zu treten, oder ob ihr das Stigma der KP zu sehr anhaftet. Bei der zu erwartenden Stichwahl dürfte es jedenfalls erneut heißen „Faschismus“ oder „sozialistische Diktatur“ – dieses Mal aber ohne die Hoffnung auf radikalen Wandel, die 2021 Hunderttausende den Wahlsieg von Gabriel Boric feiern ließ.
[1] Vgl. Sophia Boddenberg, Chile: Aufstand im Labor des Neoliberalismus, in: „Blätter“, 12/2019, S. 37-40.
[2] Vgl. Anne Britt Arps, Chile und Brasilien: Vom linken Traum zur Realität, in: „Blätter“, 10/2022, S. 84-90.
[3] InvestChile: Proyectos de inversión extranjera anotan récord impulsados por el hidrógeno verde, emol.com, 21.1.2025.