Ausgabe Oktober 2022

Chile und Brasilien: Vom linken Traum zur Realität

Chiles Präsident Gabriel Boric, New York, 21.9.2022 (IMAGO/Aton Chile)

Bild: Chiles Präsident Gabriel Boric, New York, 21.9.2022 (IMAGO/Aton Chile)

Für viele Linke in Lateinamerika und weit darüber hinaus[1] glich das, was sich in den vergangenen Jahren in Chile ereignete, einem Traum: Getragen von einer breiten und pluralen sozialen Protestbewegung hatte dort ein demokratisch gewählter und paritätisch besetzter Konvent binnen eines Jahres einen Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Dieser sollte nicht nur das alte, noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Grundgesetz ablösen, das in dem südamerikanischen Land ein zutiefst neoliberales Gesellschaftsmodell verankert, sondern hätte diesem auch eine der progressivsten Verfassungen der Welt beschert. So hätte der Text den Chilen*innen nicht nur eine Fülle sozialer Rechte garantiert – auf Bildung, Gesundheit, Pflege und angemessenen Wohnraum –, sondern den Staat auch zum Schutz der Umwelt und des Klimas verpflichtet sowie die Rechte von Frauen, der indigenen Bevölkerung und die demokratische Teilhabe gestärkt. Auch einige prominente Ökonom*innen wie Thomas Piketty, Jayati Gosh und James K. Galbraith unterstützten den Entwurf.[2]

Doch am 4. September ist der Traum wie eine Seifenblase zerplatzt. Nachdem sich noch im Oktober 2020 78 Prozent der chilenischen Wähler*innen in einem Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen hatten, stimmten beim jüngsten Plebiszit nur noch 38 Prozent für den Entwurf und ganze 62 Prozent dagegen. Damit liegt der Wunsch nach einem grundlegenden Wandel, der bei dem sozialen Aufstand im Oktober 2019 – dem Estallido Social – mit Wucht zum Ausdruck kam und den noch immer viele Chilen*innen teilen, wieder auf Eis; die alte Verfassung bleibt vorerst in Kraft.

Für das Lager der Befürworter*innen (Apruebo – „Ich stimme zu“) ist diese klare Niederlage niederschmetternd, hatten sie doch bis zuletzt auf einen – wenn auch knappen – Sieg gehofft. Zwar hatten Umfragen schon länger einen Sieg des Rechazo („Ich lehne ab“) vorhergesagt, doch dass dieser so deutlich ausfallen würde, hat selbst die meisten Beobachter*innen überrascht. Nur acht der insgesamt 346 Gemeinden stimmten für den Entwurf. Die vielen bisherigen Nichtwähler*innen, die diesmal aufgrund der Wahlpflicht ihre Stimme abgeben mussten,[3] stimmten mehrheitlich dagegen. Noch schwerer wiegt, dass auch 58 Prozent der Frauen unter 34 Jahren, ebenso wie Angehörige der ärmsten Sektoren und die Bewohner*innen wasserarmer Regionen den Entwurf mehrheitlich ablehnten. Dabei hätten all diese Gruppen von der neuen Verfassung profitiert – etwa durch die Ausweitung reproduktiver Rechte, den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, umfassende soziale Rechte sowie die Entprivatisierung des in Chile weitgehend privatisierten und extrem ungleich verteilten Wassers.

Bilanz des Scheiterns

War die Verfassung also für die Mehrheit der Chilen*innen zu progressiv? Wie schwer wog bei der Entscheidung das Erbe von Kolonialismus, Diktatur und Jahrzehnten des Neoliberalismus? Fest steht: Die Gründe für das Scheitern sind vielschichtig. Ein entscheidendes Problem war dem Verfassungskonvent von Beginn an eingeschrieben: Wohl noch getragen vom politischen Momentum der Proteste waren bei der Wahl seiner Mitglieder im Mai 2021 viele Kandidat*innen linker Parteien und zahlreiche parteiunabhängige Vertreter*innen der sozialen Bewegungen in die Versammlung eingezogen. Sie stellten die übergroße Mehrheit im Konvent; rechte und konservative Kräfte hingegen verfehlten das für ein Veto nötige Drittel der Sitze. Die progressiven Kräfte in der Versammlung mussten aus diesem Grund keine Kompromisse mit dem gegnerischen Lager schließen, was sich am Ende auch im Entwurf für die neue Magna Carta widerspiegelte. Dieser ging vielen Menschen in Chile – einer trotz der breiten feministischen Bewegung der letzten Jahre in weiten Teilen immer noch konservativen und durch Jahrzehnte des Neoliberalismus geprägten Gesellschaft – offenbar zu weit.

Für rechte, konservative und wirtschaftsliberale Kräfte war es angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Konvent hingegen ein Leichtes, diesen als „linksextrem“ und „nicht repräsentativ“ zu diffamieren. Sie verlegten sich daher von Anfang an auf eine harte Delegitimierungs- und Ablehnungskampagne. Und sie stehen für keinen unerheblichen Teil der chilenischen Wählerschaft, immerhin erzielte der rechtsextreme Kandidat José Antonio Kast von der Republikanischen Partei noch bei der Präsidentschaftswahl im Dezember 44 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Die daraus resultierende permanente negative Berichterstattung über den Konvent, seine Mitglieder und den Verfassungsentwurf in den wichtigen Medien des Landes – die zum großen Teil in privater Hand sind und der wirtschaftsliberalen Elite nahestehen – dürfte einen bedeutenden Anteil am Stimmungsumschwung gehabt haben. Tatsächlich stand für die wirtschaftliche Elite bei der Abstimmung einiges auf dem Spiel. Schließlich verfügt das reichste eine Prozent der Chilen*innen über 49,6 Prozent des chilenischen Gesamtvermögens, während 10,8 Prozent in Armut und 4,3 Prozent in extremer Armut leben.[4] Der Bergbausektor etwa, der für mehr als die Hälfte der chilenischen Exporte zuständig ist, fürchtete strengere Umweltauflagen, die Forstwirtschaft die mögliche Rückgabe von einst geraubtem Land und Beteiligungsrechte für die indigene Bevölkerung. Und die Agrarkonzerne sorgten sich vor dem Entzug der für ihre Produktion wichtigen privaten Wasserrechte. Aktuell verbraucht die auf den Export ausgerichtete Agrarindustrie etwa 80 Prozent des Wassers, während knapp die Hälfte der Landbevölkerung bzw. etwa eine Million der insgesamt 19 Millionen Chilen*innen unter Wasserknappheit leiden – das sollte die neue Verfassung ändern.[5]

Und so warnten die großen Medien und neoliberale Thinktanks, die teils auch von deutschen Parteistiftungen finanziert werden,[6] angesichts des in der Verfassung angestrebten Ausbaus der öffentlichen Daseinsvorsorge vor einer gefährlichen Überschuldung des Staates und angesichts der im Entwurf vorgesehenen Stärkung von Arbeits- und Umweltrechten vor einem Rückzug von Investoren und einem wirtschaftlichen Niedergang. Auch internationale Medien stimmten in diesen Chor mit ein. Die im Besitz von Amazon-Chef Jeff Bezos befindliche „Washington Post“ bezeichnete die Verfassung als „woke“ und hob kurz vor dem Referendum hervor, dass Chile „auf den größten Lithiumvorkommen der Welt sitzt“, einem wichtigen Bestandteil von Batterien, die in Millionen von Laptops und Elektroautos verbaut werden; die neue Verfassung drohe dessen Ausbeutung rechtlich zu erschweren. Der „Economist“ illustrierte seine ablehnende Haltung gar mit einer auf eine Rolle Klopapier gedruckten Verfassung, und Chiles ehemaliger Energie- und Bergbauminister Juan Carlos Jobet behauptete dort, die neue Magna Carta würde Chile daran hindern, zu einem Motor im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel zu werden. Denn Investitionen in die Förderung von Chiles enormen Lithium- und Kupfervorkommen – Schlüsselrohstoffe für den grünen Umbau der Wirtschaften des Globalen Nordens –, aber auch in Wind- und Solarenergie sowie grünen Wasserstoff würden im Falle einer Annahme deutlich riskanter.[7]

Fake News und Desinformation

Auf besonders große Ablehnung stieß das in der Verfassung festgeschriebene Konzept der Plurinationalität. Dieses fand sich nicht zuletzt deshalb im Entwurf wieder, weil 17 der 155 Sitze im Konvent für Angehörige der indigenen Minderheiten reserviert waren. Diese machen etwa zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Während die Verfassung die elf indigenen Gemeinschaften Chiles erstmals anerkannt und ihnen im Einklang mit internationalen Konventionen und unter Beibehaltung der nationalen Einheit weitreichende kollektive Rechte auf territoriale Selbstbestimmung zugestanden hätte, warnten die Gegner des Entwurfs vor Sonderrechten für Indigene und einer drohenden Spaltung des Landes – und aktivierten damit in der Gesellschaft vorhandene nationalistische und rassistische Gefühle. Dabei wurde auch die Lüge verbreitet, die neue Verfassung würde die chilenische Flagge verbieten.

Überhaupt kamen bei der Ablehnungskampagne – ähnlich wie beim Wahlkampf des rechtsextremen Präsidenten Brasiliens Jair Bolsonaro 2018 – massiv Fake News und Desinformation zum Einsatz, die vor allem in den sozialen Medien verbreitet wurden und bei der Bevölkerung Angst und Unsicherheit schürten. Eine der am häufigsten verbreiteten Falschmeldungen lautete, bei Annahme der Verfassung würden Häuser und Wohnungen der Menschen, aber auch in private Rentenfonds eingezahlte Ersparnisse enteignet. Dabei hätte der Verfassungsentwurf das Privateigentum explizit geschützt. Einer anderen Falschinformation zufolge hätte die Verfassung Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat erlaubt, obwohl die genaue Ausgestaltung des im Entwurf vorgesehenen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch erst durch Gesetze hätte geregelt werden sollen.

Angst vor Instabilität

Während die Befürworter*innen im Wahlkampf somit viel Zeit darauf verwenden mussten, die vielen Falschinformationen zu entkräften, war das Rechazo-Lager neben seiner medialen Übermacht auch in finanzieller Hinsicht klar im Vorteil: Fast 80 Prozent der Wahlspenden gingen an seine Kampagne. Und von diesen floss ein erheblicher Teil an die Gruppe „Amarillos por Chile“, ein Zusammenschluss von Persönlichkeiten und Politiker*innen auch aus dem Lager der ehemaligen Concertación, jener Mitte-links-Koalition, die Chile nach dem Ende der Diktatur regierte. Auch sie lehnten den Verfassungsentwurf als zu radikal ab, kritisierten die Verfassung als „indigenistisch“ und warnten unter anderem vor der im Entwurf vorgesehenen Neuordnung des politischen Systems – geplant war beispielsweise den Senat durch eine Kammer der Regionen zu ersetzen –, die Konflikte vorprogrammieren und die Regierungsfähigkeit des Landes einschränken würde.[8]

Angesichts einer auch in Chile steigenden Inflation von im Jahresdurchschnitt etwa 13 Prozent – der höchsten seit Jahrzehnten –, einer sich anbahnenden Wirtschaftskrise und den Erfahrungen der für viele mit sozialen Verheerungen einhergehenden Pandemiejahre haben die Warnungen vor wirtschaftlicher wie politischer Instabilität, aber wohl auch die Fake News bei einer Mehrheit offenbar verfangen – und scheint der Mut zu tiefgreifenden Veränderungen in der Bevölkerung geschwunden zu sein.

Im Ergebnis wandte sich ein tief in der Bevölkerung verankertes Misstrauen in die Politik auch gegen den – eigentlich durch eine demokratische Wahl legitimierten – Verfassungskonvent. Einer Umfrage des Centro de Estudios Públicos von Anfang Juni zufolge vertrauen heute nur vier Prozent der Chilen*innen den politischen Parteien, zehn Prozent den beiden Kammern des Parlaments und nur jeweils 22 Prozent dem Verfassungskonvent und der Regierung.[9] Interne Streitigkeiten der politisch oft unerfahrenen Abgeordneten, Skandale um einzelne Konventsmitglieder und negative Schlagzeilen über einzelne radikale Forderungen – auch wenn diese keine Mehrheiten erhielten –, trugen mit dazu bei, dass die öffentliche Stimmung kippte. Und schließlich vermochte es ein in sich fragmentiertes Lager der Befürworter*innen, das sich aus den indigenen, feministischen, ökologischen und sozialen Bewegungen speiste, nicht, den komplexen und für viele abstrakten Text in ein überzeugendes und einigendes politisches Narrativ zu gießen.

Für den jungen linken Präsidenten Gabriel Boric ist diese Niederlage ein herber Rückschlag. Obwohl er erst seit März regiert, machen ihn viele für die schwache wirtschaftliche Entwicklung, steigende Kriminalitätsraten und einen eskalierenden Konflikt mit der Mapuche-Bevölkerung im Süden des Landes verantwortlich. Seine Popularität ist im ersten Halbjahr seiner Amtszeit deutlich gesunken. Und so wird die Abstimmung über die Verfassung auch als Votum über seine Regierung gewertet, die den Verfassungsprozess – wenn auch nicht ohne Kritik – von Beginn an unterstützt hatte.

Die Spielräume für linke Politik werden enger

Im Ergebnis ist die Regierung von Präsident Boric enorm geschwächt. Dabei bedarf das herrschende Gesellschaftsmodell, das extreme Ungleichheit und ökologische Zerstörung hervorbringt, dringend einer grundlegenden Veränderung. Nur so können die Ursachen des wachsenden gesellschaftlichen Unmuts beseitigt werden. Doch aufgrund der Ablehnung der Verfassung sind die Spielräume für strukturelle Reformen in Chile nicht wie erhofft größer, sondern erheblich kleiner geworden. So wären die Reformen des privatisierten Rentensystems, des Bildungs- und des Gesundheitssystems nur bei einer Annahme der Verfassung möglich gewesen, da diese bisher eine Zweidrittelmehrheit voraussetzen. Boric‘ Koalition „Apruebo Dignidad“ verfügt im Abgeordnetenhaus jedoch nur über 21 Prozent der Sitze und kommt zusammen mit anderen Parteien des politischen Zentrums und der Grünen nur auf eine knappe Mehrheit; im Senat wird die Hälfte der Sitze von den Rechten kontrolliert. Zudem wird die Regierung nun einen Großteil ihrer Energie darauf verwenden müssen, sich mit den Parteien im Parlament – und damit ausgerechnet jenen Kräften, die in den Augen der Bevölkerung kaum Vertrauen genießen – auf einen neuen Verfassungsprozess zu einigen. Denn dass die alte Verfassung ersetzt oder zumindest reformiert werden soll, darüber ist man sich in Chile lagerübergreifend einig. Wie ein solcher Prozess aussehen kann, ist allerdings nun, nach dem Scheitern im ersten Anlauf, umstritten.

Boric wird sich bei der Suche nach einem Konsens weit stärker als bisher auf die Kräfte des politischen Zentrums und der Rechten zubewegen müssen. Das zeigt auch seine jüngste Kabinettsumbildung, in deren Zuge er sechs Minister*innen austauschte und teils durch Politiker*innen aus Parteien der ehemaligen Concertación ersetzte, die die Protestierenden für die Fortführung des neoliberalen Modells verantwortlich machten. Angesichts dessen werden bei einem zweiten Anlauf parteiunabhängige Personen aus den Bewegungen wohl nicht noch einmal eine so starke Rolle spielen und stattdessen Berufspolitiker*innen und Expert*innen dominieren. Ob daraus eine Verfassung erwächst, auf die sich eine Mehrheit der Chilen*innen einigen kann und die das Land tatsächlich sozialer, demokratischer, pluraler, feministischer und ökologischer macht, wird sich zeigen müssen. Sicher ist nur eines: An den Ursachen der Proteste, die einst die Revolte auslösten, hat sich bis heute nichts geändert. Früher oder später wird sich der Unmut über die Verhältnisse wieder ein Ventil suchen. Die sozialen Bewegungen, die den jüngsten Verfassungsprozess maßgeblich prägten, haben zumindest angekündigt, weiter für eine neue Verfassung zu kämpfen. Es ist zu hoffen, dass sie sich nach Jahren der erschöpfenden Arbeit nicht am Ende doch frustriert abwenden und damit die Krise der Demokratie noch weiter vertiefen.

Dämpfer für die lateinamerikanische Linkswende

Und schließlich ist der Ausgang des Plebiszits auch für die neuerliche Linkswende auf dem lateinamerikanischen Kontinent[10] ein Dämpfer, zeigt das Ergebnis doch, auf welch tönernen Füßen diese steht – und wie sehr sie auf Kompromisse mit dem bürgerlichen Lager angewiesen ist. Das gilt auch für den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva, der bei der nun in Brasilien anstehenden Präsidentschaftswahl am 2. Oktober gute Chancen hat, den rechtsextremen Amtsinhaber Jair Bolsonaro zu schlagen. Schon während seiner beiden früheren Amtszeiten von 2003 bis 2011 – in denen er dank einer boomenden Wirtschaft und sprudelnder Rohstoffeinnahmen Millionen Menschen aus der Armut befreite und Bildungschancen für marginalisierte Bevölkerungsgruppen schuf –, suchte der ehemalige Gewerkschaftsführer und Mitbegründer der Arbeiterpartei PT auch den Schulterschluss mit der mächtigen Agrarlobby und setzte wirtschaftlich weiter auf Megaprojekte sowie den Export von Rohstoffen. Auch heute bindet er neben sozialen Bewegungen konservative und evangelikale Kräfte in sein Wahlbündnis ein, wohl wissend, dass er angesichts einer schwachen gesellschaftlichen Linken andernfalls kaum Chancen hat, die Wahl zu gewinnen. Als Vize-Präsidentschaftskandidaten nominierte er deshalb den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin.

Damit steht Lula – ebenso wie ein nach rechts gerückter Boric in Chile – für die Rückkehr einer linken Realpolitik. Doch auch wenn die Spielräume für eine progressive Politik dadurch in Brasilien insgesamt gering bleiben dürften, wäre ein Präsident Lula für das mit 214 Millionen Einwohner*innen bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas ein Unterschied ums Ganze – angesichts der Alternative von vier weiteren, sozial wie ökologisch und für die Demokratie verheerenden Jahren unter Bolsonaro.[11] Während dieser vier Jahre lang den Hass in der Gesellschaft geschürt, den Amazonas-Regenwald auf Kosten des Klimas und der dort lebenden indigenen Gemeinschaften zur rücksichtslosen Abholzung freigegeben, durch eine desaströse Pandemie-Politik Hunderttausende Corona-Tote in Kauf genommen und die demokratischen Institutionen angegriffen hat, will Lula die Gesellschaft versöhnen, die Armut und den um sich greifenden Hunger bekämpfen, den Umwelt- und Klimaschutz stärken sowie ein Ministerium für Indigene schaffen, die durch Bolsonaros Kahlschlagpolitik massiv in Bedrängnis geraten sind. In dessen Amtszeit wurden Umweltschutz- und Indigenenbehörden entmachtet und drangen Viehzüchter, Goldgräber und Holzfäller immer tiefer auch in ökologische und indigene Schutzgebiete in Amazonien vor; Landkonflikte bis hin zu Morden an jenen, die sich gegen diese Entwicklung wehren, nahmen zu.

Bolsonaros Spiel mit dem Feuer

Allerdings ist keinesfalls ausgemacht, dass Bolsonaro eine Wahlniederlage akzeptieren würde. Schon lange säht der Präsident Zweifel am elektronischen Wahlsystem, drohte immer wieder indirekt mit einem Putsch und rief die Bevölkerung dazu auf, sich zu bewaffnen. Die Zahl der privaten Waffenbesitzer*innen ist in seiner Amtszeit dank einer Lockerung der Waffengesetze sprunghaft angestiegen – mit über 650 000 Personen bilden sie heute die größte bewaffnete Gruppe des Landes, noch vor dem Militär. Und mehrheitlich dürfte sich diese aus den teils radikalisierten Anhänger*innen des Präsidenten zusammensetzen. Nicht wenige befürchten deshalb bei einer Niederlage Bolsonaros ein ähnliches Szenario wie in den USA am 6. Januar 2021, als Trumps fanatische Anhängerschaft das Kapitol stürmte. Man kann nur hoffen, dass die demokratischen Institutionen Brasiliens einem derartigen Angriff standhalten würden – und das Militär dem ehemaligen Fallschirmjäger Bolsonaro seine Gefolgschaft verweigert.

Angesichts solch dramatischer Aussichten wirkt das nun gescheiterte Verfassungsprojekt in Chile wie aus der Zeit gefallen. Doch die in ihm formulierten Lösungsansätze für die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – allen voran des Klimawandels – bleiben von enormer Bedeutung. So hätte die Verfassung auch der Natur Rechte verliehen und diese einklagbar gemacht. Man sollte den Entwurf also nicht leichtfertig beseite wischen, sondern vielmehr von ihm – wie auch von seinem Scheitern – lernen.

[1] Siehe dazu den Beitrag von Ulrich Brand, Chile als Avantgarde. Eine Verfassung für das 21. Jahrhundert, in: „Blätter“, 9/2022, S. 81-86.

[2] We, economists and social scientists from around the world, commend the Chilean constitutional convention and the visionary document it has produced to secure sustainable growth and shared prosperity for Chile, media.elmostrador.cl, 10.8.2022.

[3] Die Wahlbeteiligung lag dadurch bei knapp 86 Prozent gegenüber 43 bis 56 Prozent bei vorangegangenen Wahlen und Referenden.

[4] World Inequality Report 2022, www.wir2022.wid.world.

[5] Vgl. Sophia Boddenberg, Wasserknappheit in Chile: Eine Folge der Privatisierung?, www.welthungerhilfe.de, 4/2022.

[6] Vgl. Sophia Boddenberg und Ute Löhning, Untergang des Andenlandes, www.taz.de, 28.8.2022.

[7] John Bartlett und Samantha Schmidt, Chile writes a woke constitution. Are Chileans ready for it?, www.washingtonpost.com, 5.7.2022; Chile should send its proposed constitution back for a rewrite, ebd., 31.8.2022; Voters should reject Chile’s new draft constitution, www.economist.com, 6.7.2022; Chile’s draft constitution would stop the country becoming a green powerhouse, says Juan Carlos Jobet, ebd., 2.9.2022.

[9] Estudio Nacional de Opinión Pública N°86, Abril-Mayo 2022, www.cepchile.cl, 9.6.2022.

[10] Vgl. Ulrich Brand und Kristina Dietz, Chile, Kolumbien, Brasilien: Lateinamerika vor einer neuen Linkswende?, in: „Blätter“, 3/2022, S. 99-108.

[11] Vgl. Niklas Franzen, Nicht totzukriegen: Das Gespenst des Bolsonarismus, in: „Blätter“, 8/2022, S. 93-102.

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In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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