Am 11. Dezember gewann eine Frau, Michelle Bachelet, die erste Runde der chilenischen Präsidentschaftswahl. Damit, so die These von Präsident Ricardo Lagos, endet die Phase der „transición“ und Chile tritt in die demokratische Normalität ein. Seit 1990 wird Chile im Rahmen der „Concertación“ im Wechsel von Sozialisten, Sozial- und Christdemokraten regiert. Und der Sozialdemokrat Lagos reklamiert nun das historische Verdienst für sich, den endgültigen Übergang von der Militärdiktatur zur normalen Demokratie vollbracht zu haben. Tatsächlich wurde der wichtigste Schritt zur Normalität am 18. September 2005 getan, als Lagos in der „Moneda“ – Chiles Präsidentenpalast – die neue Verfassung präsentierte. Damit entfielen die meisten Sonderbestimmungen der Pinochet-Verfassung von 1980, welche die Militärs zu Herren und Hütern einer hierarchischen Gesellschaft gemacht hatte. Seit diesem Zeitpunkt unterstehen die Streitkräfte der zivilen Präsidentschaft, die lebenslangen Senatoren – wie General Pinochet einer war – verschwanden, und die einst sechsjährige Präsidentschaft schrumpfte auf vier Jahre. Dass die Moneda ihres imperialen Stils entkleidet wurde und heute Besuchern und Touristen offen steht, unterstreicht die neue Normalität ebenso wie die Tatsache, dass nun in einigen Kinos der Film „Salvador Allende“ läuft, der voller Respekt Leben und Werk des seinerzeitigen Unidad-Popular-Präsidenten dokumentiert.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.