Ausgabe Juni 2009

Praxis und Theorie

Theorie und Praxis: Jürgen Habermas zum 80.

Jürgen Habermas hat mich (das ist im umgangssprachlichen Sinne wörtlich zu verstehen) „von der Straße aufgelesen“ – und mit außergewöhnlicher Toleranz die Folgen ertragen. Ich gehörte nämlich, als er mir 1987 die Mitarbeit in der „Arbeitsgruppe Rechtstheorie“ anbot, im Alter von 50 Jahren noch immer zum universitären Prekariat und war (nach dem Ende meiner Zeitprofessur) sogar seit längerem – wie einst Kant hinsichtlich des Privatdozenten formulierte – „Gelehrte […] im Naturzustand“ (und zwar unter Bedingungen eines nicht mehr existierenden politikwissenschaftlichen Arbeitsmarkts und noch existierender Altersgrenzen für Berufungen, sowie – das Peinliche sei doch erwähnt – eines erstaunlichen Rentenanspruchs etwas unterhalb des Sozialhilfesatzes). Kurz: Jürgen Habermas blieb die Beobachtung nicht erspart, dass ich mich im psychischen Ausnahmezustand befand. Was indessen bei anderen Wissenschaftlern leicht zum Abbruch der Kommunikation führt, war für Habermas Anlass besonderer kommunikativer Aufmerksamkeit und Bemühung um behutsame Integration.

Überhaupt waren meine Erfahrungen in diesem neuen Arbeitszusammenhang zu denen meiner vorausliegenden 25 Jahre im Wissenschaftsbetrieb geradezu gegenläufig: Die uneingeschränkte Zustimmung zu den Publikationen der Etablierten ist im Allgemeinen ratsam. Aber Habermas‘ Interesse an meiner Arbeit begann gerade anlässlich eines Beitrags, in dem ich seine Verrechtlichungskonzeption in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ partiell kritisiert hatte. Die Tatsache meiner interdisziplinären Orientierung wurde seitens der Politikwissenschaft – die die Analyse von politischen Systemen oder Texten der „Ideengeschichte“ in Unkenntnis des Verfassungsrechts, der Verfassungstheorie und einschlägiger juristischer Argumentationsfiguren für möglich hält –, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, als unbefugter und geschäftsschädigender Übergriff auf das Gebiet der Rechtswissenschaft abgetan, diente als Begründung meiner fehlenden politologischen Existenzberechtigung und führte zu grotesken Situationen. So konnte ich zum Beispiel in den 70er Jahren, der Zeit des Dauerkonflikts zwischen reformorientiertem Parlament und konservativem Verfassungsgericht, mein geplantes Seminar über Methoden der Verfassungsinterpretation nur nach größten Kontroversen und mit der kleinsten Mehrheit einer einzigen (mitleidigen) Stimme durch die Veranstaltungsplanung meiner Betriebseinheit bringen. Bei Habermas dagegen war vielfältige Grenzgängerei zwischen Philosophie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft sehr gefragt.

Gerade diese Kooperation verschiedener Disziplinen und unterschiedlichster Ansätze in der Arbeitsgruppe – multipliziert durch die große Zahl prominenter Gäste aus den berühmtesten Universitäten der Welt – führte zu jener Überkomplexität wechselseitiger Anregungen, in der produktives Arbeiten gedeihen kann.

Die Vielzahl wissenschaftlicher Stimmen, die sich hier, durchaus auch kontrovers, miteinander verständigten, bedeutete zugleich einen Härtetest für die normativen Implikationen der Kommunikation. Es war hier durchgängig zu erkennen (was manche Beobachter weit zurückliegender Lebensphasen von Habermas bestreiten), dass Habermas seine Diskurstheorie auch praktiziert: Habermas diskutierte mit allen Beteiligten auf gleicher Augenhöhe; und die sprachpragmatischen Voraussetzungen „reziproker Anerkennung“ verblieben nicht im Status von „Unterstellungen“, sondern strukturierten die Diskussion. Habermas lebte seine Diskurstheorie sogar dann, wenn deren Prinzipien von anderen Sprechern verletzt wurden – am häufigsten von mir. Eine meiner Beschädigungen im vorausliegenden Wissenschaftsbetrieb machte sich hier bemerkbar: In den 60er Jahren wurden die äußerst seltenen Frauen von männlichen Wissenschaftlern noch wie Kinder behandelt, die sich in die Gespräche von Erwachsenen einmischen wollen. Der frühe, meist vergebliche Kampf um gleiche Redechancen hatte sich inzwischen in zähes verbales Durchsetzungsvermögen transformiert, das nun – in eine symmetrische Redesituation versetzt – einige Regeln des Diskurses verletzen konnte. So war Habermas gelegentlich gezwungen, aus der Teilnehmerperspektive in die Beobachterperspektive zu wechseln, um bei aufkommenden Klagen als fairer Schiedsrichter die Voraussetzungen des Diskurses wiederherzustellen. Die Begegnung zwischen dem Theoretiker der Kommunikation und der damals kommunikativ Verstörten führte also zu einer äußerst produktiven Zusammenarbeit. Die Jahre in der Arbeitsgruppe Rechtstheorie waren die besten meines wissenschaftlichen Lebens.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema Wissenschaft

Indoktrination und Militarismus

von Irina Rastorgujewa

Am Morgen des 24. März hängten unbekannte Aktivisten eine Schaufensterpuppe, die die antike römische Göttin Minerva darstellt, am Denkmal des Grafen Uwarow in der Nähe des Hauptgebäudes der Staatlichen Universität St. Petersburg auf. In der Hand der antiken Schutzherrin der Wissenschaften befand sich ein Zettel mit der Aufschrift „Die Wissenschaft ist tot“.

Scharfsinn und Bescheidenheit

von Oliver Eberl

Wer mit Ingeborg Maus sprechen wollte, wurde von ihr meist auf den Abend verwiesen: Bevorzugt nach 20 Uhr ließ sich die Professorin für „Politologie mit dem Schwerpunkt politische Theorie und Ideengeschichte“ an der Frankfurter Goethe-Universität anrufen und klärte dann geduldig und stets zugewandt organisatorische und akademische Fragen, oftmals bis weit in die Nacht. Natürlich musste man erst einmal durchkommen, denn es waren viele, die etwas mit ihr besprechen wollten.

Mannigfaltigkeit statt Homogenität

von Leander Scholz

Auch wenn Begriffe wie Biodiversität oder diversity management erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt wurden und seitdem den politischen Diskurs zur biologischen und sozialen Diversität bis in unsere Gegenwart hinein dominieren, verweist deren Vorgeschichte weit zurück bis ins 18. Jahrhundert – und sie ist unmittelbar mit einem revolutionären Ereignis verbunden.

Adorno und die Utopie der Nicht-Identität

von Seyla Benhabib

Beginnen möchte ich mit der Begegnung zweier berühmter Intellektueller, deren Leben sich für eine kurze Zeit in Frankfurt kreuzten und die dann beide ins Exil in die Vereinigten Staaten gingen: Ich meine Theodor W. Adorno und Hannah Arendt. Es gibt mehr Ähnlichkeiten zwischen ihnen, als man auf den ersten Blick meinen möchte.