Ausgabe November 2010

Till Eulenspiegel der friedlichen Revolution

Rede von Jens Reich zur Erinnerung an Bärbel Bohley vom 25. September 2010

Am 25. September wurde in der Berliner Akademie der Künste der kurz zuvor verstorbenen Bärbel Bohley gedacht (vgl. auch die Beiträge zu ihrem Tode in den „Blättern“ 10/2010). Aus diesem Anlass hielt „Blätter“-Mitherausgeber Jens Reich die folgende Rede zur Erinnerung an seine Mitstreiterin im Neuen Forum. – D. Red.

Wir berichten hier gemeinsam über Lebens- und Schaffensabschnitte, die wird jeweils mit Bärbel zusammen verbracht haben. Bei mir trifft das für das Jahr 1989 zu, und so will ich im Namen der Gruppe, die wir damals waren, davon erzählen.

Ich habe Bärbel vor dieser Zeit persönlich gekannt. Sie fuhr an einem schönen Julitag zusammen mit Katja [Havemann] in Spreewerder bei unserer Mehrfamilien-Sommerkommune „Summerhill“ vor, die gleichzeitig eine Wochenendvariante des oppositionell gesinnten Freitagskreises war. Sie kam direkt auf mich zu und fragte, ob ich nicht am nächsten Tag mit zu Rolf Henrich nach Schlaubehammer kommen wolle – sie würden dort gern auch mit mir über die politische Lage nach der verlogenen Kommunalwahl und dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens reden. Ich fuhr am nächsten Tag, wie üblich, auf konspirativen Umwegen und mit vielen Blicken in den Rückspiegel dorthin. Dort traf ich neben Katja und Bärbel auch noch Erika Drees und Rolf Henrich mit seiner Frau an, und beim Kaffeetrinken planten wir das Treffen bei Havemanns am 9. September in Grünheide, wo dann das Neue Forum gegründet wurde.

So wurden wir miteinander bekannt, und ich war dann den ganzen Herbst ’89 in ihrer Arbeitsumgebung, in ihrer Wohnung, an den verschiedenen Trefforten des noch nicht zugelassenen Neuen Forums, bei den Vorstellungen der Bewegung in Kirchen und auf republikweiten Foren. Den letzten gemeinsamen Ausflug hatten wir dann in der Delegation von Bürgerbewegten, die Anfang Januar zu Lech Walesa nach Warschau reiste. Danach gabelten sich unsere politischen und beruflichen Wege wieder, und wir haben uns in den letzten Jahren, als sie schon krank war, nur noch gelegentlich getroffen. Der Herbst ’89 ist also mein Erinnerungshintergrund.

Ich denke, es werden wohl nicht viele widersprechen, wenn ich sage, dass Bärbel in der DDR die Schlüsselfigur der Bürgerbewegung des Herbstes ’89 geworden ist. Sie war keine politische Führungsperson im üblichen Sinne, aber für viele, viele Menschen so etwas wie ein Vorbild dafür, wie in der aufregenden, wirren, auch bedrohlichen und dabei gleichzeitig befreienden Zeit zu handeln sei. Wir hatten keinen Lech Walesa, keinen Vaclav Havel, keinen Andrei Sacharov als Kristallisationssymbol der so facettenreichen Ereignisse des Herbstes 89, sondern wir hatten Bärbel mit ihrer Begabung zu explosiven Auftritten und gleichzeitig der fröhlich resignierenden Einsicht, dass sie zur Jeanne d’Arc dann doch nicht tauge. Gerade so ist sie im Herbst 89 zur historischen Persönlichkeit der deutschen Geschichte geworden.

Sie wirkte eminent politisch und war doch so antipolitisch! Sie erledigte damals ein ungeheures Arbeitspotential in ständiger Hochspannung, manchmal buchstäblich bis zur physischen Erschöpfung, aber nicht mit gefülltem Terminkalender und wohlberechneten Abläufen, sondern ganz chaotisch, alles spontan, jederzeit zu überraschenden Wendungen bereit, jede Anregung aufnehmend, wenn sie ihr zusagte. Ein politisches Programm für die Reform der DDR hat sie nicht ausgearbeitet. Es gibt zwar einige Texte aus dieser Zeit, aber ihre Wirksamkeit bestand in öffentlichen Auftritten, in Abendveranstaltungen in den Kirchen, mit deren Oberen sie aber wenig zu tun haben wollte, und vor allem in den Medien der DDR, die nach einigem Zögern sich von Erfüllungsorganen der Staatsmacht zu freien politischen Diskus-
sionsforen mauserten. Bärbel hat diese Medien ausgiebig bedient, aber auch die westlichen Medien, vermittelt über die zahlreichen Freunde aus Widerstandszeiten, die in den Westen abgeschoben worden waren, sowie über die Journalisten, die in der DDR akkreditiert waren und ihr die Bekanntheit bei den Printmedien und dem Fernsehen verschafft hatten.

Ihre Spontaneität kam keineswegs „aus dem Bauch“, sondern aus dem Kopf heraus, aber mit Einfällen, die sie blitzschnell formulierte und aussprach, ohne sich groß um die oft unbeabsichtigten Auswirkungen zu kümmern. Sie hatte in diesen wirren Zeiten einen viel größeren, jedoch ganz anderen politischen Einfluss auf die Bürgerschaft als wir anderen, die überwiegend eher umständlich, diskursiv dachten und formulierten. Es gelangen ihr immer wieder wunderbar knappe Aphorismen, so wie zum Beispiel (allerdings etwas später als 1989) der Ausspruch: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat!“ Solche Sätze habe ich bewundert! Kürzer geht so etwas nicht zu sagen.

Beide Teilsätze treffen beim ersten Hören faktisch zu, und doch ist es die sperrige Gegeneinandersetzung der beiden nur scheinbar kontradiktorischen Sätze, die eine noch heute andauernde Spannung um das Für und Wider der deutschen Vereinigung in diesem zentralen Politikfeld ausgelöst hat. In dem Satz fehlt scheinbar ein „statt dessen“ oder „leider nur“, aber genau das hat sie mit voller Absicht offen gelassen. Auch auf „immerhin“ oder „deshalb auch“ hätte sie sich nie eingelassen. 

Solche Aussprüche tat Bärbel ganz unerwartet, und sie hat sie nie endlos wiedergekaut, wie es die Politiker tun müssen, wenn sie mal einen guten Einfall hatten. Hingeknallt, und nicht weiter darum herum geredet! Sehr wirkungsvoll!

Einen solchen Ausspruch hat sie auch am Wochenende nach dem 9. November 1989 getan. Das Volk ist verrückt geworden, und die Regierung hat den Verstand verloren! Auch hier wurde es gesagt und nicht weiter kommentiert. Für uns ist der Satz Gesprächsthema bis heute – was trifft daran zu und was nicht, und durfte sie es laut sagen.

Ich finde, dass Bärbel ihre ganz große Zeit 1989 hatte. Sie hat die großen politischen Ideale von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit ganz naiv, wie Till Eulenspiegel, einfach beim Wort genommen, die Machthaber damit völlig entwaffnet, und sie hat das Volk begeistert, das Volk, das damals wie heute die verschnörkelte Politiksprache nicht hören will. Damals hingen sie an ihren Lippen, heute würden sie weghören. Die große Zeit ist vorbei. Kann es wieder einmal zu solcher politischen Begeisterung kommen?

Mit persönlichen Eigenschaften von Bärbel möchte ich aus meiner nahen Erfahrung von damals schließen. Sie war politisch naiv, von unbefangener Leidenschaft, spontan ohne genaue Kalkulation der Folgen, dabei völlig angstfrei, auch in den zahlreichen brenzligen Situationen. All das wissen wir aus unzähligen Porträts dieser bemerkenswerten Frau.

Was ich hinzufügen möchte und was manchen vielleicht überrascht: Sie war in jenen stressreichen Wochen absolut heiter, sie war nie befangen vor großen Namen. Vor allem entwickelte sie einen lebhaften Sinn für die unfreiwillige Komik des Geschehens auf dem politischen Theater. Wir haben oft laut und herzlich gelacht, über die zahllosen großen und kleinen Wichtigtuer auf der politischen Bühne ebenso wie über uns selbst, die wir oft politische Laienspieler genannt wurden.

Bärbel war nicht nur ein großes Talent der Antipolitik, sondern auch die Prinzipalin einer großen politischen Theaterinszenierung. Für Deutschland können wir stolz sein, dass wir dabei waren, als es in Osteuropa um den Aufbruch aus Fremdbestimmung und Unmündigkeit ging. Und dass wir einen Menschen wie Bärbel dabei hatten.

 

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