Ausgabe Oktober 2012

Fetisch Selbstbestimmung

PID bis Demenz: Erkundungen im biopolitischen Feld

Ein kleiner Zipfel Haut hat vor drei Monaten in der Republik ein regelrechtes diskursives Erdbeben ausgelöst. Keine Entscheidung in bioethischen Fragen hat so viel Unruhe provoziert wie das Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung. Im Kern geht es um die Gewichtung zweier Grundrechte: das Recht auf freie Religionsausübung der Eltern und das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes. Das Gericht hat dabei das Selbstbestimmungsrecht des Kindes höher gewertet als das Recht der Eltern, ihre Kinder in ihrem Glauben zu erziehen.[1]

Auch in vielen anderen Zusammenhängen ist Selbstbestimmung mittlerweile zu einem zentralen Leitbegriff in der diskursiven Kampfzone avanciert. Wer Selbstbestimmung einklagt, weiß das aufgeklärte Publikum zumeist auf seiner Seite; wer Entscheidungsrechte beschneiden will, macht sich der Bevormundung verdächtig.

Längst sind die Zeiten vorbei, als Frauen noch misstrauisch beäugt wurden, wenn sie für das Recht auf Abtreibung auf die Straße gingen und auf diese Weise die Unverfügbarkeit ihres Körpers reklamierten. Heutzutage trifft auf offene Ohren, wer darauf beharrt, selbst über sich, seinen Körper, sein Schicksal bestimmen zu wollen: Das gilt für Frauen ebenso wie für geschlechtlich nichtnormierte Menschen, für Menschen mit Behinderungen, Heiratswillige, halbwüchsige Scheidungskinder oder sterbenskranke Menschen.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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