Ausgabe Oktober 2016

Colonia Dignidad oder: Die verdrängte Verantwortung

Als Bundespräsident Joachim Gauck Mitte Juli Chile besuchte, bot sich ein bizarres Bild: Bei seinem Empfang in der Deutschen Botschaft in der Hauptstadt Santiago trafen Opfer der deutschen Foltersekte Colonia Dignidad auf ihre Peiniger von einst. Anwesend waren der wegen Beihilfe zu Kindesmissbrauch und -entführung verurteilte ehemalige „Sicherheitsmann“ der Sekte, Reinhard Zeitner, sowie Hans Schreiber, der heute die juristische Verteidigung ehemaliger Führungsmitglieder organisiert. Was zunächst aussah wie eine Panne, stellte sich später als Vorsatz heraus: Die Botschaft habe sie absichtlich, „nach einem Abwägungsprozess“ auf die Gästeliste gesetzt, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.[1] Die Grenze zwischen Tätern und Opfern ließe sich in einem geschlossenen verbrecherischen System wie der Colonia Dignidad nicht „mit letzter Trennschärfe“ ziehen, viele Täter seien zugleich Opfer gewesen. Deutlicher hätte nicht gezeigt werden können, wie wenig die deutschen Behörden aus ihrem historisch unheilvollen Umgang mit der Colonia Dignidad gelernt haben. Gaucks Reise, die eigentlich im Zeichen von Aufklärung und Versöhnung stehen sollte, endete so unfreiwillig im Eklat. Jahrzehntelang hatten Botschaft und Auswärtiges Amt weggeschaut, als deutsche Staatsbürger in der totalitären Siedlung im Süden Chiles systematisch die Menschenrechte von Hunderten Deutschen und Chilenen verletzten – selbst noch so konkrete Hinweise auf das dort begangene Unrecht veranlassten sie nicht zum Handeln. Bis heute ist dieses dunkle Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte nicht umfassend aufgearbeitet, ebenso wenig wie die Verstrickung der deutschen Behörden.

Über mehr als vier Jahrzehnte konnten Paul Schäfer und sein enger Führungskreis in der Colonia Dignidad, der „Kolonie der Würde“, ihr Unwesen treiben. Schäfer, ein Laienprediger und Heimleiter aus Siegburg, gründete die Siedlung im Jahr 1961. Er war nach Chile geflüchtet, um sich einem Haftbefehl zu entziehen – die deutsche Justiz suchte ihn wegen Kindesmissbrauchs. Unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit errichtete Schäfer gemeinsam mit gut 300 Anhängern seiner religiösen Gemeinschaft auf einem riesigen Areal 400 Kilometer südlich von Santiago ein landwirtschaftliches „Mustergut“ mit Schule, Restaurant und Krankenhaus. Doch hinter dieser wohltätigen Fassade verbarg sich ein brutales System der Unterdrückung. Zwangsarbeit und körperliche wie sexuelle Misshandlung waren gängige Praxis. Von Anfang an gründete die Colonia Dignidad auf einem Verbrechen: Zahlreiche Kinder wurden unter dubiosen Umständen – teils ohne Zustimmung beider Elternteile oder unter Vortäuschung einer kurzen Reise – nach Chile verbracht, ihre Ausreise kam damit einer Entführung gleich. Jenen Siedlern, die Schäfer freiwillig gefolgt waren, wurden die Pässe sowie ihr gesamtes Vermögen abgenommen, und sie wurden zu harter, unbezahlter Arbeit gezwungen. Wer sich Schäfers strengen Regeln widersetzte, wurde von seinen Handlangern mit Elektroschocks und Psychopharmaka gefoltert. Als wichtiges Herrschaftsinstrument diente ein Sexualverbot. Männer und Frauen, aber auch Kinder und ihre Eltern wurden voneinander getrennt. Paul Schäfer hingegen nutzte seine Macht, um seine pädophilen Neigungen an so gut wie allen Jungen der Siedlung und später auch an chilenischen Kindern auszuleben, die er tausendfach systematisch sexuell missbrauchte.

Als 1970 der Sozialist Salvador Allende an die Macht kam, verbündeten sich Schäfer und seine Komplizen mit rechtsgerichteten Kräften sowie zukünftigen Putschisten. Sie rüsteten die Sekte zu einem regelrechten Staat im Staate hoch, nach außen gesichert mit Stacheldraht, Wachtürmen und Überwachungskameras, im Innern ausgestattet mit einer modernen Sendeanlage, einem unterirdischen Bunker- und Tunnelsystem sowie einer Flugpiste. Nach dem Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973 paktierte Schäfer mit dem von Augusto Pinochet geführten Regime und machte die Colonia Dignidad zu einem integralen Bestandteil von dessen Repressionsapparat: Der chilenische Geheimdienst Dirección de Inteligencia Nacionál (Dina) nutzte die Siedlung als Operationsbasis, installierte auf dem weitläufigen Gelände eines seiner Folterzentren und ließ seine Agenten von Coloniamitgliedern in Verhörtechniken und dem Gebrauch von Sprengstoff schulen. Viele Regimegegner wurden in der Deutschensiedlung unter Mithilfe der Kolonisten verhört und gefoltert. Vermutlich über hundert wurden getötet; Gerichtsaussagen belegen den Mord an mindestens 22 Oppositionellen. Bis heute ist die Identität dieser Verschwundenen wie auch die ihrer Mörder nicht bekannt. Zwar fanden Ermittler 2005 mehrere Massengräber, doch die Leichen hatte man da längst weggeschafft. Auch Waffen stellten Schäfer und seine Leute her. Zudem gibt es handfeste Hinweise, dass über die Siedlung Waffenhandel betrieben und Kriegswaffen aus Europa nach Chile geschmuggelt wurden. Sogar Giftgas soll in der Colonia Dignidad für das chilenische Regime gemischt worden sein. Erst Schäfers Festnahme 2005 in Argentinien setzte dem kriminellen Treiben der Sekte ein Ende. Damit war es ihm und seinen Komplizen gelungen, ihre Verbrechen weit über das Ende der Diktatur im Jahr 1990 hinaus fortzuführen.

Heute sind trotz einiger Urteile chilenischer Gerichte viele der Taten noch immer nicht aufgeklärt, und ein großer Teil der ehemaligen Führungsriege befindet sich weiterhin auf freiem Fuß. Zu tatsächlichen Haftstrafen kam es bisher ausschließlich im Verfahren wegen Kindesentführung und dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger Chilenen. Paul Schäfer selbst wurde wegen solcher Taten an 25 Kindern zu 20 Jahren Haft verurteilt, er starb 2010 im Gefängnis. Fünf seiner Komplizen wanderten 2013 nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs Chiles wegen Beihilfe zu Kindesmissbrauch für fünf bis elf Jahre hinter Gitter. Allein Paul Schäfer wurde daneben auch wegen Mordes an einem Geheimagenten, wegen illegalen Waffenbesitzes und Waffenproduktion sowie wegen schwerer Körperverletzung an Colonia-Dignidad-Mitgliedern zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Jene seiner Komplizen, die sich ebenfalls wegen solcher Verbrechen verantworten mussten, kamen hingegen mit äußerst milden Strafen davon, die obendrein zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Dagegen wurde kein einziges der zahlreichen Opfer bislang entschädigt. Unter ihnen befinden sich Deutsche wie Chilenen: die Hunderten von Schäfer zu Sklavenarbeit gezwungenen und misshandelten zumeist deutschen Siedler und deren Kinder, die heute weitgehend mittellos und oftmals körperlich wie seelisch schwer geschädigt in Chile und in Deutschland leben, die chilenischen Folterüberlebenden und die Angehörigen der „verschwundenen“ Regimegegner, sowie die von Schäfer als Kinder missbrauchten Chilenen.

Deutsche Diplomatie zwischen Nachlässigkeit und Komplizenschaft

Für diesen skandalösen Zustand trägt neben dem chilenischen auch der deutsche Staat eine Mitverantwortung. Denn bei der Frage, wer für die Aufarbeitung dieses deutsch-chilenischen Verbrechens zuständig ist, haben sich Chile und Deutschland jahrelang gegenseitig die Verantwortung zugeschoben. Zudem haben die deutschen Regierungen und die deutsche Justiz indirekt mit dazu beigetragen, dass sich das kriminelle System der Colonia Dignidad überhaupt so lange halten konnte. Hätten sie früher und entschiedener gehandelt, wären viele Verbrechen vermutlich verhindert worden.[2]

Klar ist heute: Die deutschen Behörden wussten schon früh von den Zuständen in der Colonia Dignidad. Gleichwohl gingen sie den Vorwürfen bis Ende 1987, also fast bis zum Ende der Diktatur, nicht entschieden nach, sondern stellten sich stattdessen schützend vor die Sekte, wie selbst die Bundesregierung inzwischen einräumt.[3] Bereits 1966 berichtete der damals 20jährige Wolfgang Kneese, dem die Flucht aus der Siedlung gelungen war, der deutschen Botschaft über seine Entführung und den Missbrauch durch Schäfer – doch diese unternahm nichts. Das wohl gravierendste Beispiel für das „faktenresistente Wohlwollen“[4] deutscher Behörden ist die Kumpanei des ehemaligen Botschafters Erich Strätling (1976-1979) mit der Deutschensiedlung: Als 1976 die Vereinten Nationen und 1977 Amnesty International gemeinsam mit dem „Stern“ Berichte über eine Folterstätte auf dem Sektengelände veröffentlichten, wiegelte Strätling in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Bonn ab: Bei einem Besuch in der Kolonie habe er sich gefühlt „wie im Märchen bei Schneewittchen“. Alles sei „ordentlich und sauber – bis zu den Schweineställen“.[5] Mit dieser Haltung stand der Botschafter allerdings nicht allein: Auch die Diplomaten im Auswärtigen Dienst in Bonn stuften die Enthüllungen über die Colonia Dignidad damals als „von links kommend“ ein.[6] Selbst den detaillierten Hinweisen des ehemaligen chilenischen Geheimdienstmitarbeiters Juan René Muñoz Alarcón auf ein Folter- und Ausbildungslager des Geheimdienstes gingen sie nicht ausreichend nach.

Diese skandalöse Nachlässigkeit ist aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen. Damals aber dominierte der Kalte Krieg, und die Loyalität mit den USA, die die rechten Militärregierungen unterstützten, bestimmte die politische Linie. Innerhalb der sozialliberalen Koalition herrschte die Haltung vor, der Putsch habe Chile ins westliche Lager zurückgebracht. Das von Hans-Dietrich Genscher geführte Auswärtige Amt bildete da keine Ausnahme. Eine antikommunistische Deutschensiedlung, die Botschaftsmitarbeiter zudem über eine chilenische Ortskraft wöchentlich mit deutschem Brot, Wurst und Käse versorgte, galt hier offenbar als unverdächtig. Darüber hinaus besaß die Kolonie wichtige Fürsprecher in der deutschen Politik, nicht zuletzt in der CSU. Zu ihrer Lobby zählte etwa Franz Josef Strauß, dessen handsigniertes Portrait bis Mitte der 1990er Jahre im öffentlichen Restaurant der Siedlung hing, aber auch der Waffenhändler und BND-Informant Gerhard Mertins, der sich offensiv für die Sekte einsetzte. In diesem ideologischen Klima ordneten Auswärtiges Amt und Botschaft selbst die Menschenrechte ihrer eigenen Staatsbürger der Loyalität mit ihren politischen Verbündeten unter. So ließen es Botschaftsmitarbeiter zu, dass Schäfers Komplizen in die Botschaft geflüchtete Koloniebewohner zur Umkehr drängen konnten. Zudem war es in der Botschaft gängige Praxis, die Verlängerung von Pässen der Siedler oder die Auszahlung ihrer Renten kollektiv und teils ohne deren Vollmachten durch einen Statthalter der Kolonie regeln zu lassen – ein klarer Verstoß gegen das Konsulargesetz.

Erst Ende der 80er Jahre, nachdem zwei aus der Kolonie geflüchtete Ehepaare der Botschaft und später auch im Bundestag berichtet hatten, gingen die deutschen Behörden auf Distanz zur Colonia Dignidad. Eine Aufklärung ihrer zweifelhaften Rolle unterblieb jedoch noch drei weitere Jahrzehnte. Stattdessen finanzierte das Auswärtige Amt vermittelt über die „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ noch bis 2013 Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaftsbetriebe der nun in „Villa Baviera“ (Bayrisches Dorf) umbenannten Siedlung – von diesen profitierten allerdings nicht nur Opfer, sondern auch die dort lebenden Täter. Gut 130 ehemalige Siedler betreiben dort heute einen volkstümlichen Freizeit- und Tourismuspark inklusive Oktoberfest – ohne an die grausame Vergangenheit des Ortes zu erinnern. Doch daran störte man sich im Auswärtigen Amt offenbar nicht. Die Kontakte zur gegenwärtigen Führungsriege der Villa Baviera, darunter auch verurteilte Straftäter wie Reinhard Zeitner, pflegt die Botschaft bis heute. Dagegen klammern die bisherigen Hilfsprogramme all jene Betroffenen aus, die die Kolonie verlassen hatten, ebenso wie die chilenischen Opfer.

Doch nicht nur die deutsche Diplomatie, auch die deutsche Justiz hat bis heute nicht entschieden genug gehandelt, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und ihre Taten zu verhindern. Ihre Ermittlungen zogen sich teils über Jahrzehnte und blieben allesamt ergebnislos. So verhinderte ein Zivilverfahren beim Landgericht Bonn 20 Jahre lang, dass Amnesty International und der „Stern“ die Colonia Dignidad als Folterlager bezeichnen durften. Die Sektenführung hatte beide wegen ihrer kritischen Berichte 1977 auf Verleumdung verklagt. Das Verbot galt bis 1997 – obwohl bereits 1990 eine chilenische Wahrheitskommission die Kolonie offiziell als Folterstätte anerkannt hatte. Auch die ab 1985 von der Staatsanwaltschaft Bonn geführten Ermittlungen gegen Paul Schäfer und drei weitere Führungsmitglieder wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung schleppten sich über Jahrzehnte. Sie wurden erst 2010 eingestellt, ohne dass Anklage erhoben worden war. Und schließlich hat auch das 2011 auf Druck von Menschenrechtlern[7] eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen den nach Deutschland geflohenen Sektenarzt Hartmut Hopp bisher zu keinem Ergebnis geführt. Der 72jährige gilt als ehemals rechte Hand Paul Schäfers und „Außenminister“ der Sekte, der unter anderem für die Kontakte zum Pinochet-Regime zuständig war. 2013 verurteilte ihn der Oberste Gerichtshof Chiles in Abwesenheit wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft. Da Deutschland seine Staatsbürger grundsätzlich nicht ausliefert, lebt er heute unbehelligt in Krefeld. Immerhin prüft das dortige Landgericht auf Gesuch der chilenischen Justiz nun, ob das chilenische Urteil in Deutschland vollstreckt werden kann. Doch auch diese Prüfung zieht sich nun schon über zwei Jahre.

Ein neuer Umgang mit der Vergangenheit?

Hartmut Hopp ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs – ein knappes Dutzend ehemaliger Koloniemitglieder setzte sich in den letzten Jahren nach Deutschland ab und entzog sich damit dem Zugriff der chilenischen Justiz. Obwohl gegen einige von ihnen internationale Haftbefehle vorliegen, wurde in keinem dieser Fälle hierzulande bislang Anklage erhoben. Dabei könnte die deutsche Justiz nach Ansicht von Menschenrechtlern durchaus tätig werden – etwa was eine mögliche Mittäterschaft bei Straftaten wie dem Mord an Regimegegnern angeht.

Angesichts dieser gravierenden Versäumnisse fordern Opferkollektive schon lange, dass Deutschland und Chile gemeinsam Verantwortung für das begangene Unrecht übernehmen sollen. Sie verlangen, dass die Wahrheit zu Tage gefördert, die Verantwortlichen bestraft, die Opfer entschädigt und eine Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Kolonie eingerichtet wird. Doch erst seit im Frühjahr der Film „Colonia Dignidad. Es gibt kein Zurück“ des Münchner Regisseurs Florian Gallenberger in den deutschen Kinos lief und das Thema damit eine breitere Öffentlichkeit erreichte, ist in die politische Aufarbeitung tatsächlich Bewegung gekommen. Der Film, der auch von der Komplizenschaft der deutschen Botschaft handelt, veranlasste Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier erstmals zu äußerst selbstkritischen Worten: Der Umgang mit der Colonia Dignidad sei „kein Ruhmesblatt“ in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Zudem ließ Steinmeier die Schutzfrist für die die Kolonie betreffenden Akten im Auswärtigen Amt unter Auflagen um zehn Jahre verkürzen und erklärte, aus dem deutschen Umgang mit der Colonia Dignidad ein Lehrstück für die Diplomatenausbildung machen zu wollen. Der Bundespräsident kündigte bei seinem Chile-Besuch immerhin die Bereitschaft der deutschen Regierung an, die Finanzierung einer Gedenkstätte zu unterstützen und den Opfern psychosoziale Hilfen zu gewähren.

All diese Schritte deuten einen Richtungswechsel im Umgang der Bundesregierung mit der Colonia Dignidad an. Das allein ist positiv. Doch es reicht nicht aus. Denn gleichzeitig erteilte Gauck den Hoffnungen der Opfer auf Entschädigung eine klare Absage: „Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren.“[8] Und auch von einer Mitverantwortung Deutschlands für die begangenen Verbrechen wollten Steinmeier wie Gauck nichts wissen: „Das Auswärtige Amt […] trägt […] keine Verantwortung für das Unwesen, das Paul Schäfer und seine Spießgesellen trieben, teilweise in Verbindung mit den Militärs und Diktatoren“, so Steinmeier in seiner Rede.[9]

Dabei wäre ein Bekenntnis der Bundesregierung zur deutschen Mitverantwortung dringend geboten – das ist sie den vielen Opfern schuldig. Nötig ist darüber hinaus eine umfassende politische wie juristische Aufarbeitung. Es genügt nicht, die zehntausende Seiten Papier umfassenden Akten frühzeitig freizugeben, das Auswärtige Amt müsste auch deren systematische Auswertung sicherstellen. Zudem lagern weitere Akten möglicherweise noch in den Archiven des BND und des Kanzleramts. All diese Dokumente könnten Aufschluss geben über die vielen offenen Fragen, die sich um die Siedlung ranken – etwa zur Rolle des Waffenhändlers und BND-Informanten Gerhard Mertins. Zudem muss sich die Regierung gemeinsam mit Chile dafür einsetzen, dass die juristische Aufarbeitung vorangetrieben und die skandalöse Straflosigkeit vieler Täter endlich beendet wird. Und schließlich sollte sich die Bundesregierung bei den Opfern für ihre jahrzehntelange Untätigkeit entschuldigen, ihre Zusammenarbeit mit verurteilten Straftätern der Colonia Dignidad beenden und alle Betroffenen, nicht nur die deutschen, in Hilfsprogramme und Gedenkmaßnahmen einbeziehen.

Letztlich geht es darum, glaubhaft zu machen, dass die Menschenrechte heute in der deutschen Politik einen höheren Stellenwert genießen als noch in den 1970er Jahren. Dazu aber reichen keine Worte, sondern es bedarf einer anderen Praxis – nicht nur in den Beziehungen zu Lateinamerika.

 

[1] Deutscher Bundestag, DS 18/9295, 28.7.2016, S. 17. 

[2] Vgl. Jan Stehle und Evelyn Hevia, Colonia Dignidad: Schleppende Aufarbeitung, in: Rosa Luxemburg Stiftung (Hg.), „Standpunkte“, 15/2016. 

[3] Vgl. Deutscher Bundestag, DS 18/9261, 21.7.2016. 

[4] Matthias Rüb, Der Folterkeller hinter den sieben Bergen, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 12.7.2016. 

[5] Ebd. 

[6] Evelyn Hevia und Jan Stehle, Schleppende Aufarbeitung, a.a.O., S. 2. 

[7] Vgl. ECCHR, Stellungnahme zu der Rolle von Hartmut W. Hopp innerhalb der Colonia Dignidad, Berlin 2011, www.ecchr.eu

[8] Zit. nach Gerhard Dilger, Colonia-Täter auf Botschaftsempfang, blogs.taz.de/latinorama, 14.7.2016. 

[9] Rede im Auswärtigen Amt, 26.4.2016.

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