
Bild: Demonstrierende in Yangon (Myanmar), 13.3.2021 (IMAGO / ZUMA Wire)
Seit sich am 1. Februar dieses Jahres in Myanmar das Militär zurück an die Macht putschte, befindet sich das südostasiatische Land im Ausnahmezustand. Denn der Staatsstreich setzte nicht nur einer zehnjährigen Demokratisierungsphase ein jähes Ende, sondern rief zugleich eine massive Widerstandsbewegung hervor, die mit ihren Protesten mittlerweile einen Großteil des öffentlichen Lebens lahmlegt. Millionen Menschen befanden sich zeitweise im gesamten Land auf der Straße. Und obwohl das Militär mit immer brutalerer Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgeht, scheint die Bevölkerung entschlossen, sich den Generälen um keinen Preis zu beugen. Hunderte Zivilisten haben dafür bisher mit ihrem Leben bezahlt, tausende wurden inhaftiert oder verschleppt, ebenso viele wurden verwundet.
Getragen wird das Civil Disobedience Movement (CDM), das sich in direkter Reaktion gegen den Militärputsch formiert hat, maßgeblich von den jüngeren Generationen der unter 30jährigen. Diese Menschen, die in einer freieren Gesellschaft aufgewachsen sind als ihre Eltern und Großeltern, sind nicht gewillt, die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahre wieder preiszugeben. Mittlerweile haben sich ihrem Kampf Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen und Altersklassen angeschlossen und zu einer breiten Bewegung verbündet, in der ehemalige Anführer der 1988er Studentenbewegung mit den jungen Aktivistinnen und Aktivisten kooperieren.
Zugute kommt letzteren dabei besonders, dass sie mit den sozialen Medien aufgewachsen sind: Myanmar hat sich in den vergangenen zehn Jahren wirtschaftlich geöffnet und eine umfassende Telekommunikationswende vollzogen; 90 Prozent des Landes sind inzwischen an ein Mobilfunknetz angeschlossen. Die dadurch gewachsene digitale Kompetenz der jungen Menschen zahlt sich in der aktuellen Widerstandsbewegung aus: Als das Militärregime am 4. Februar zum ersten Mal den Zugang zu Facebook sperrte, halfen Jugendliche den älteren Generationen, VPN-Tunnel zu installieren, mit denen sie ihren Standort virtuell in ein anderes Land verlegen und somit wieder auf soziale Netzwerke zugreifen konnten. Seither teilen die Menschen dort massenhaft Bilder und Videos, die der internationalen Öffentlichkeit zeigen, mit welch brutalen Methoden das Militär gegen die friedlichen Protestaktionen im ganzen Land vorgeht.
Der rote Faden des Widerstands
Diese lassen es durchaus gerechtfertigt erscheinen, das Vorgehen der Soldaten als staatlichen Terror zu bezeichnen. Das Militär versetzt die Bevölkerung systematisch in Angst und Schrecken: Die Soldaten schießen scharf – und nehmen dabei nicht nur Demonstrierende, sondern auch unbeteiligte Passanten ins Visier –, sie zerstören wahllos Privateigentum, holen vor allem nachts Zivilisten aus ihren Wohnungen und sperren ganze Straßenzüge ab, um Menschen einzukesseln. Und obwohl die Soldaten damit gegen diverse internationale Konventionen verstoßen, genießen sie für ihre Handlungen augenscheinlich Immunität.
Der aktuelle zivile Widerstand des Civil Disobedience Movements ist der vorläufige Höhepunkt einer historischen Abfolge von Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich wie ein roter Faden durch die moderne Geschichte des südostasiatischen Myanmars, früher als Birma oder Burma bezeichnet, ziehen – beginnend in der Kolonialzeit mit dem Aufbegehren gegen die Herrschaft der Briten. Zwischen den einzelnen Protestwellen, darunter auch die Safran Revolution von 2007, bestehen viele Kontinuitäten – etwa, dass in ihnen Studierende und generell die junge urbane Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen. Auch die Ziele der heutigen Protestbewegung ähneln denen der frühen antikolonialen Proteste: Es geht darum, eine illegitime Fremdherrschaft zu überwinden und demokratische Strukturen zu bewahren. Der oft zitierte Satz, dass alle Staaten eine Armee haben, aber nur manche Armeen einen Staat, hat in Bezug auf Myanmar über viele Jahrzehnte seine Brisanz nicht verloren.
Die Unabhängigkeitsbewegung in den 1920er und 30er Jahren begann in den von den britischen Kolonialherren eingerichteten Universitäten. Eine neue Bildungselite war hier in Kontakt mit global zirkulierenden Ideologien und Theorien gekommen und wollte Fremdbestimmung sowie ökonomische Ausbeutung nicht länger hinnehmen. Als die Briten mit Druck auf die Proteste reagierten, führte dies nur zu einer Radikalisierung der Jugendlichen: Seit damals ist die Figur des student leader nicht mehr aus der politischen Landschaft Myanmars wegzudenken. Besonders das sogenannte 8888-Uprising, das 1988/89 brutal niedergeschlagen wurde, war durch prominente studentische Sprecher und Organisatoren geprägt, wie zum Beispiel Min Ko Naing, der erst 2012 aus der Gefangenschaft entlassen wurde. Einer der bekanntesten Anführer der studentischen Bewegung gegen die Kolonialherrschaft war der Student Aung San, der sich zur zentralen Identifikationsfigur der kommenden Generationen entwickeln sollte. Als Mitglied der „30 Kameraden“, die gegen die Briten agitierten, wurde er von Japan militärisch ausgebildet und beim Aufbau paramilitärischer Strukturen unterstützt. Als das kaiserliche Japan die britischen Truppen und ihre Verbündeten 1942 im Zweiten Weltkrieg besiegte und das Land ein Jahr später in eine vorgebliche Unabhängigkeit entließ, wurde Aung San Kriegsminister der Marionettenregierung, wandte sich jedoch bald gegen die neuen japanischen Herren und unterstützte die britischen Gegenangriffe. 1945 war das Land wieder befreit, und Aung San drängte auf eine zügige Unabhängigkeit. Zwei Jahre später gelang es ihm, politische Vertreter verschiedener ethnischer Minderheiten zu überzeugen, sich auf die Gründung eines neuen Staats einzulassen. Doch bevor das daraus hervorgegangene „Panglong-Abkommen“ seine Wirkung entfalten und das Land unabhängig werden konnte, ließ ein politischer Konkurrent den jungen Aung San erschießen.
Seine Tochter, Aung San Suu Kyi, war damals erst zwei Jahre alt. Sie trat einige Jahrzehnte später, im Jahr 1988, als Anführerin der Oppositionspartei National League for Democracy (NLD) ins politische Rampenlicht. Auch 1988 versuchte eine studentisch geprägte Widerstandsbewegung sich gegen das Militär aufzulehnen. Aus Protesten gegen die Geldpolitik der damals regierenden Burma Socialist Program Party erwuchs bald eine breite pro-demokratische Bewegung, in deren Folge sich aber eine noch drakonischere Militärregierung herausbildete, die über zwanzig Jahre lang das Land strikt kontrollierte.
Lange Zeit bildete die NLD das einzige Sammelbecken einer breiten Bevölkerungsmehrheit, die sich eine Abkehr von der Militärherrschaft und eine Öffnung des Landes erhoffte. Allerdings war die Partei nicht demokratisch, sondern straff hierarchisch strukturiert – mit Aung San Suu Kyi an der Spitze. Ihre Partei gewann die 1990 angesetzten Wahlen eindeutig, doch der militärische Rat weigerte sich, die Machtübergabe einzuleiten. Suu Kyi wurde inhaftiert und mit einigen Unterbrechungen für insgesamt 15 Jahre unter Hausarrest gestellt. Lange versuchte das Militär sowohl ihren Ikonenstatus innerhalb der Bevölkerung als auch den ihres Vaters, des ursprünglichen Gründers der Armee, zu schwächen und der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Das Mausoleum Aung Sans in Yangon war noch 2009 abgesperrt und in einem desolaten Zustand; sein Bild, das lange in jeder Amtsstube und vielen Privatwohnungen hing, verschwand aus der Öffentlichkeit. Über zwei Jahrzehnte lang war die Demokratie in Myanmar in unerreichbare Ferne gerückt – bis das Militär 2015 freie Wahlen zuließ. Diese gewann die NLD erneut, und diesmal ließ das Militär aus strategischen Gründen eine Regierungsbildung mit Aung San Suu Kyi an der Spitze zu.
Die Verfassung der Generäle
Mit einer neuen Verfassung hatten die Generäle bereits im Jahr 2008 die sukzessive Öffnung des Landes und den Übergang zu einer sogenannten disziplinierten Demokratie vorangetrieben. Demgemäß behält das Militär ein Vorrecht auf zentrale Ministerposten sowie auf jeweils 25 Prozent der Parlamentssitze auf Bundesebene wie auch in den Regionalstaaten. Zudem lassen einige bewusst unscharf formulierte Verfassungsartikel den Generälen weitere Hintertürchen offen. So kann der Präsident beispielsweise bei einer Gefährdung der „nationalen Solidarität“ den Notstand ausrufen und alle Entscheidungsmacht auf den obersten General übertragen. Auf diese Klausel berief sich das Militär am 1. Februar, als das im November vergangenen Jahres neugewählte Parlament, in dem die NLD erneut über eine satte Mehrheit verfügt, in der Hauptstadt Naypyidaw zum ersten Mal hätte zusammentreten sollen – und verhaftete Präsident Win Myint und Aung San Suu Kyi in der Nacht zuvor. Seither wurden sie nicht mehr gesehen.
Trotz dieses offensichtlich unrechtmäßigen Vorgehens stellen die Generäle den Putsch als verfassungsgemäß dar und argumentieren, sie hätten Ungereimtheiten bei der Parlamentswahl festgestellt, aber die NLD hätte sich geweigert, mit dem Militär darüber zu verhandeln. Viel wahrscheinlicher ist indes, dass der Putsch aus persönlichen Gründen erfolgte – der von der Bevölkerung verhasste General Ming Aung Hlaing, der nun die Militärjunta anführt, und die von großen Teilen der Bevölkerung verehrte Aung San Suu Kyi waren offenbar zerstritten, seit Monaten hatten sie nicht mehr direkt miteinander kommuniziert. Ming Aung Hlaing, der eigentlich im Sommer hätte pensioniert werden sollen, hegt angeblich Ambitionen auf das Präsidentenamt, das Aung San Suu Kyi selbst durch eine spezielle Klausel in der Verfassung vorenthalten wird.
Dass der Protest die Generäle zum Einlenken bewegt, ist auch angesichts dessen alles andere als wahrscheinlich, zumal politische Kompromisse in Myanmar wenig Tradition haben. Zwar hat das Militär sicherlich nicht mit einem derart breiten, hartnäckigen und kreativen Widerstand aus der Bevölkerung gerechnet. Dennoch ist zu erwarten, dass das Militär die Situation weiter eskalieren lässt, um die Menschen zum Aufgeben zu zwingen.
Die tatmadaw genannten Streitkräfte haben sich innerhalb des Landes zu einer Art Parallelgesellschaft entwickelt und sind als Institution von außen nahezu intransparent. Auch durch globale Anklagen lassen sich die Generäle nicht beeindrucken; sie glauben möglicherweise selbst an ihre Rhetorik der Stabilität, der zufolge seit der Unabhängigkeit nur das Militär das Land vor dem Auseinanderfallen bewahrt. Auch westliche Sanktionen, die auf Angehörige der Militärregierung und deren Familien zielen, dürften sich als weitgehend wirkungslos erweisen, unterliegen doch die meisten in Frage kommenden Personen bereits aufgrund ihrer Beteiligung am Genozid an den Rohingya derartigen Einschränkungen. Die Möglichkeiten der internationalen Gemeinschaft, auf das Militär in Myanmar einzuwirken, sind daher äußerst beschränkt.
Myanmar steht vor einer Herkulesaufgabe
Über stärkere Hebel als die EU oder andere westliche Akteure verfügen die Anrainer und ASEAN-Mitgliedstaaten, darunter vor allem Singapur und China, die durch umfangreiche Investitionen und Infrastrukturprojekte eng mit dem Land und auch den militärischen Konglomeraten verflochten sind. Doch diese Länder betonen bislang, dass es sich hier um eine „innere Angelegenheit“ Myanmars handele. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt die Sorge, das Land könne zum Präzedenzfall einer Intervention der internationalen Staatengemeinschaft in Südostasien werden. Auch Russland verfügt aufgrund seiner Waffenlieferungen an den tatmadaw über einen vergleichsweise starken Hebel, doch Moskau lässt bisher ebenfalls ein eindeutiges Signal vermissen. Und auch wenn viele Demonstranten auf Plakaten die Responsibility to Protect (R2P), die globale Schutzverantwortung einfordern, ist zu befürchten, dass sie nicht mit einer umfassenden Unterstützung anderer Staaten rechnen können. Vielmehr scheint die Auseinandersetzung auf einen beidseitigen Abnutzungskampf hinauszulaufen, bei dem die Protestierenden nur darauf hoffen können, dass der bislang monolithische Zusammenhalt im Militär mit der Zeit bröckelt. Immerhin deutet die Aufnahme der Protestbewegung CDM in die südostasiatische „Milk-Tea-Alliance“ auf das Entstehen neuer Strukturen innerhalb der Region hin: Zwischen dieser internationalen, pro-demokratischen Solidaritätsgemeinschaft, in der sich Menschen aus Hongkong, Taiwan, Thailand und Myanmar im Internet vernetzen, werden praktische und strategische Tipps zum Widerstand gegen übermächtige staatliche bewaffnete Kräfte ausgetauscht. Die internationale Gemeinschaft hat demgegenüber bislang keine Werkzeuge entwickelt, eine derartige führerlose Bewegung zu unterstützen.
Dabei sollte die Kompromisslosigkeit, mit der die Widerstandsbewegung dem Militär jegliche Legitimität abspricht, angesichts deren massiver Gewalt auch die internationale Reaktion leiten: Hier schreiten nicht „Sicherheitskräfte“ gegen „Demonstranten“ ein, sondern uniformierte Terroristen verüben unkontrolliert Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Es gibt daher auch wenig Grundlage für Verhandlungen oder Mediation: Das Militär Myanmars hat einen Ausnahmezustand herbeigeführt, in dem sich nun auch jene Bürgerinnen und Bürger des Landes, die bislang das Militär als Hüter der Nation wahrgenommen hatten, dem Widerstand anschließen.
Für das, was in den nächsten Wochen und Monaten geschehen wird, gibt es wenige Modelle und keine belastbaren Erfahrungen. Selbst wenn das Militär an irgendeinem Punkt nachgeben wollte, ist die Arbeit des CDM erst dann getan, wenn die Sonderrolle des tatmadaw im Staat strukturell, rechtlich, und wirtschaftlich überwunden ist. Ein erneuter Militärcoup muss für die Zukunft ausgeschlossen werden. Das aber ist eine echte Herkulesaufgabe, bei der das Land und seine zivile Bevölkerung umfassende Unterstützung benötigen werden.