Die EM als Spielfeld für Autokraten und Nationalisten

Bild: FIFA-Präsident Giovanni Vincenzo Infantino und der russische Präsident Wladimir Putin während des WM-Spiels Frankreich gegen Kroatien in Moskau, 15. Juli 2018 (IMAGO / Moritz Müller)
Zwischen dem 11. Juni und 11. Juli findet die 16. Fußball-Europameisterschaft statt, und der austragende europäische Fußballverband Uefa feiert sein kontinentales Turnier mit einer Menge Pathos als Symbol der Völkerverständigung. Tatsächlich hat sich die Uefa zu ihrem 60jährigen Bestehen etwas ganz Besonderes ausgedacht: Erstmals in der Geschichte des Turniers soll es gleichzeitig in zehn europäischen Städten (und einer asiatischen) stattfinden – in Rom und Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans (Gruppe A), St. Petersburg und Kopenhagen (Gruppe B), Amsterdam und Bukarest (Gruppe C), London und Glasgow (Gruppe D), Sevilla und nochmals St. Petersburg (Gruppe E) sowie München und Budapest (Gruppe F). Überall wird man die Spiele als Fest der Vielfalt und Menschenrechte begehen. Doch das ist nur die eine, die plakativ vordergründige Seite. Denn hinter der Glitzerfassade der multikulturellen Fußballindustrie wirkt der beliebteste Sport der Welt als willkommenes Machtinstrument. Und auch in Europa bietet der Fußball eine fast perfekte Bühne für die Inszenierung von Autokraten, Nationalisten und Separatisten.
Erstes Beispiel: Ungarn. In der Hauptstadt Budapest finden immerhin drei Vorrundenspiele und ein Achtelfinale statt – eine wunderbare, auch politische Gelegenheit, die sich Ministerpräsident Viktor Orbán mit Sicherheit nicht entgehen lassen wird.
Seit seinem Amtsantritt 2010 hat Orbán einen regelrechten Pakt mit dem organisierten Sport geschlossen. Seine Regierung finanziert zahlreiche Bauten und Sanierungen von Stadien, Hallen und Sportschulen. Und Orbán selbst regt Unternehmen ganz gezielt dazu an, mehr in den Sport zu investieren; im Gegenzug erhalten sie dafür Steuererleichterungen. Führende Mitglieder seiner Regierungspartei Fidesz sind in den Vorständen der großen Fußballklubs vertreten. So steht mit Gábor Kubatov an der Spitze des Rekordmeisters Ferencváros Budapest ein Vorstandsmitglied des Fidesz. Was sich prompt für Orbán auszahlt: Gegen regierungskritische Demonstranten mobilisierte Kubatov Sicherheitsordner von Ferencváros, darunter extrem rechte Fußballfans.[1] Bei der Europäischen Union wird Viktor Orbán zunehmend als nationalistischer Außenseiter gesehen; doch im Fußball kann er sich als großer Europäer präsentieren. Während Deutschland Anfang des Jahres aufgrund der Verbreitung der britischen Corona-Mutation strengere Einreisebestimmungen erließ, gestattete Ungarn ausländischen Athleten die Einreise für Sportveranstaltungen. Auf diese Weise konnten im März gleich mehrere Spiele in europäischen Wettbewerben in Budapest stattfinden, trotz einer dortigen Inzidenz von über 300. In unverbrüchlicher Treue zu Orbán werteten die längst auf Linie gebrachten großen ungarischen Medien diesen Schritt jedoch nicht als gewaltiges Gesundheitsrisiko, sondern als Ausdruck europäischer Solidarität.
Putin und der Fußball als Mittel der Propaganda
Viktor Orbán folgt damit einem sportpolitischen Modell, für das in Europa vor allem Wladimir Putin die Basis gelegt hat. Nach dem Ende der Sowjetunion und den turbulenten Jahren unter Boris Jelzin wollte Putin ab den späten 1990er Jahren wieder für Stabilität und internationale Anerkennung sorgen. Und wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges, wenn auch nun auf höchst kapitalistisch-expansive Weise, dient dabei der Sport als perfektes Propagandamittel. Nach und nach stiegen bei russischen Fußballvereinen Institutionen und Unternehmen des Staates ein: Energieriesen, Banken oder Betriebe aus dem Transportwesen. Der Staatskonzern und weltweit größte Erdgasproduzent Gazprom führte den Verein aus Putins Heimatstadt, Zenit St. Petersburg, ins europäische Spitzenfeld. Und er übernahm Partnerschaften mit dem FC Schalke 04 und Roter Stern Belgrad, ebenso mit den Verbänden Uefa und Fifa. Auf diese Weise vernetzte der Kreml hoch strategisch Politik und Wirtschaft im vermeintlich unideologischen Fußball.[2]
Diese Strategie funktioniert auch in den russischen Regionen, die häufig in harter Konkurrenz zueinander stehen, wenn es um Touristen, Fachkräfte und Investitionen geht. Mehr als ein Drittel der 16 Vereine in der ersten russischen Liga erhält daher Unterstützung von ihren lokalen Verwaltungen. Schließlich handelt es sich dabei um eine Win-win-Situation: Ein aufgrund der Investitionen erfolgreicher Verein kann seinerseits Investoren anlocken und so in der Bevölkerung Zustimmung für die Eliten sichern.
Die Regionen profitieren auch von Großveranstaltungen, die der Kreml gerade in jüngster Zeit sehr erfolgreich nach Russland geholt hat: an erster Stelle die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, aber auch die Weltmeisterschaften im Biathlon 2011 in Chanty-Mansijsk, in der Leichtathletik 2013 in Moskau, im Schwimmen 2015 in Kasan oder im Eishockey 2016 in Moskau und St. Petersburg.[3] Bisheriger Höhepunkt war zweifellos die Austragung der Fußball-WM 2018. Das Turnier lief ohne große Skandale ab und führte im flächenmäßig größten Land viele der rund hundert Volksgruppen zueinander, die sich sonst selten auf ein gemeinsames Thema einigen können. Der Sport dient hier zum einen als willkommener Kitt der Gesellschaft, insbesondere mit seinen nationalen Erfolgen, zum anderen kann sich Putin hier immer wieder als weltoffener Staatsmann zeigen, während er zugleich knallharte Machtpolitik betreibt. So etwa 2014, als russische Kräfte die Krim annektierten und in die Ostukraine vordrangen, oder auch 2016, als sie im syrischen Bürgerkrieg an der Seite von Baschar al-Assad kämpften oder sich in die US-Präsidentschaftswahl einmischten. Deshalb ist Putin bei politischen Gipfeln in Europa nicht mehr wohl gelitten. Nun aber, bei der Europameisterschaft, sollen in St. Petersburg gleich sieben Spiele stattfinden – für Putin wie für Orbán in Budapest eine willkommene Bühne.
Erdoğan oder Fußball im Namen der Religion
Der Fußball als politisches Herrschaftszeichen, ohne dafür allzu oft ins Stadion zu müssen: Dieses Modell erweitern andere Staatschefs sogar um religiöse Elemente. In der Türkei hatte sich die Wirtschaftselite über Jahrzehnte an den Werten von Mustafa Kemal, genannt Atatürk, orientiert. Der Republikgründer hat die Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches modernisiert und Staat und Religion voneinander getrennt. In den vergangenen Jahren schlug Recep Tayyip Erdoğan einen anderen Kurs ein, zunächst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident. Lukrative Bauaufträge des Staates gingen zunehmend an islamisch-konservative Firmen. Für Flughäfen, Straßen, Moscheen – und auch für fast dreißig Fußballstadien.[4]
Viele der Stadien wurden in Städten und Bezirken errichtet, in denen die Regierungspartei AKP hohe Stimmenanteile hält. Um die Bauten herum entstanden Geschäfte, Nahverkehr, mitunter ganze Stadtteile. Zwölf alte Stadien waren nach Atatürk oder seinen Weggefährten benannt. In Istanbul, im regierungskritischen Bezirk Beşiktaş, trug das alte Stadion den Namen von Ismet Inönü, einem Freund Atatürks – das neue ist nach einem Mobilfunkunternehmen benannt. Erdoğan forderte, dass Stadien nicht mehr als Arenen bezeichnet werden dürfen; er möchte westliche Symbole zurückdrängen und sich an die osmanische Kultur anlehnen. In konservativ geprägten Gegenden, etwa bei den Fußballvereinen in Ankara oder Konya, sind in den Stadien zunehmend nationalistische und islamische Gesänge zu hören. Erdoğan selbst macht sich für Başakşehir stark. Der Vorortklub in Istanbul ist eng vernetzt mit Sportministerium, Fußballverband und Medien. Başakşehir hat wenige Fans, wurde aber 2020 erstmals türkischer Meister. Das Stadion war in nur 16 Monaten errichtet worden. Bei der Eröffnungsfeier führte Erdoğan eine Promiauswahl auf den Rasen und schoss, wie könnte es auch anders sein, drei Tore. Das Stadion des Istanbuler Klubs Kasimpasa trägt sogar seinen Namen.[5] Bei der Europameisterschaft wird die türkische Nationalmannschaft zwei Vorrundenspiele in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, bestreiten, einem wichtigen Partner Erdoğans. Noch im Herbst des vergangenen Jahres war an Fußball in der Region allerdings kaum zu denken. Wieder einmal kämpften Aserbaidschan und Armenien mit Waffengewalt um die Region Bergkarabach. Mehrere tausend Menschen kamen dabei ums Leben.
Der Fußball diente auf beiden Seiten der Propaganda. In Baku hisste der Verein Zira ein Banner für Ilgar Burcaliyev; der frühere Jugendspieler war als Soldat bei Gefechten getötet worden. Die Tribünen wurden mit aserbaidschanischen Flaggen überspannt. Mannschaften trugen Trikots mit der Aufschrift: „Karabach ist Aserbaidschan“. Spieler salutierten vor Kameras und verbreiteten Militärvideos in sozialen Medien. „Wir müssen alle Armenier töten“, schrieb der Pressesprecher des aserbaidschanischen Meisters Qarabağ auf Facebook. „Kinder, Frauen, Alte. Wir müssen sie ohne Ausnahme töten.“[6] Qarabağ ist in Aserbaidschan identitätsstiftend. Der Klub hat seine Wurzeln in Ağdam, der einst größten Stadt in Bergkarabach. Während des Zerfalls der Sowjetunion mündete der Konflikt um das Gebiet in einen Krieg. Armenien siegte und vertrieb fast alle Aserbaidschaner aus der Region. Ağdam wurde zerstört, die Fußballer von Qarabağ flohen nach Baku. Dort erhielten sie politische und finanzielle Unterstützung. Die Folge waren zuletzt sieben Meistertitel hintereinander und etliche Teilnahmen an europäischen Wettbewerben. Es sind positive Schlagzeilen wie diese, mit denen der autokratische Präsident Ilham Aliyev zugleich auch auf die Öl- und Gastvorkommen Aserbaidschans aufmerksam machen möchte. Deshalb ist es von enormer Bedeutung, dass seit 2016 auch die Formel 1 jedes Jahr in Baku zu Gast ist. 2015 fanden die ersten Europaspiele in Baku statt, die vom Olympischen Komitee ausgetragen wurden. Nach langen Verhandlungen nahmen daran auch Sportler aus Armenien teil, allerdings musste dies unter Militärschutz geschehen. Henrikh Mkhitaryan, der Kapitän des armenischen Fußballnationalteams, äußert sich immer wieder als Sonderbotschafter der Vereinten Nationen. Als Spieler des FC Arsenal verzichtete er allerdings 2019 auf das Finale der Europa League in Baku, er fürchtete um seine Sicherheit.
Nach einer Sonderregel der Uefa dürfen Klubs und Nationalteams aus Armenien und Aserbaidschan nicht gegeneinander spielen. Dennoch gibt es bei internationalen Spielen Hassgesänge und feindselige Banner, etwa in der Diaspora. In Berlin oder Wien verbünden sich mitunter türkischstämmige Fans mit Aserbaidschanern gegen Armenier. Und in Warschau oder Budapest solidarisieren sich rechtsextreme Gruppen mit Armenien, als angebliche Bastion des Christentums gegen Muslime.
In Bergkarabach selbst wurde 2012 ein Fußballverband gegründet, doch weil die Region kein unabhängiger Staat ist, bleibt ihm eine Mitgliedschaft im Weltfußballverband Fifa verwehrt. Stattdessen schloss sich der Verband der Conifa an, dem Verband für nicht anerkannte Staaten, Minderheiten und Regionen. Der erste Generalsekretär des Verbandes arbeitete für das armenische Außenministerium und wollte Bergkarabach international sichtbarer machen. 2019 richtete Bergkarabach daher die zweite Europameisterschaft der nicht anerkannten Staaten aus.
Im südöstlichen Europa hat es bereits eine traurige Tradition, dass der Fußball wichtige Vernetzungsdienste für radikale, nationalistische Kräfte leistet. Besonders deutlich wurde und wird dies auf dem Balkan.
Blutiger Fußball auf dem Balkan
Als in den 1980er Jahren im damaligen „Vielvölkerstaat“ Jugoslawien die Sehnsucht nach ethnisch homogenen Staaten wuchs, ließen junge Männer ihrem Nationalismus in den Stadien mit Hassgesängen und Gewalt freien Lauf. Beim erfolgreichsten Klub, Roter Stern Belgrad, hatte der Fan-Anführer Željko Ražnatovic´ den gleichen Wunsch wie der Politiker Slobodan Milošević: die Vereinigung aller Serben in einem „großserbischen Reich“. Dafür gründete Ražnatović, genannt Arkan, eine paramilitärische Truppe, auch mit hunderten Hooligans. Nach dem Ende des Staatssozialismus und mit dem Zerfall Jugoslawiens zogen „Arkans Tiger“ in den Krieg, erst gegen kroatische, dann gegen bosnische Einheiten. Sie waren an unzähligen Morden, Vergewaltigungen und Vertreibungen beteiligt.[7] Auch beim Kampf um Sarajevo, bei dem etwa 11 000 Einwohner getötet und über 50 000 verletzt wurden. Im März 1992 begannen serbische Einheiten mit der Belagerung der bosnischen Hauptstadt. Sie besetzten eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions des Vereins Željeznićar, schossen während einer Partie auf Spieler und Zuschauer. Über Monate lag das Stadion direkt an der Front. Milizen verschanzten sich hinter dem Vereinsheim, Tribünen gingen in Flammen auf. Der bosnische Fananführer Dževad Džilda wollte eine angeschossene Frau retten, dabei wurde er von einem serbischen Scharfschützen erschossen. Noch heute spielt der Fußball eine wichtige Rolle in der bosnischen Gedenkkultur.
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien klagte nach dem Krieg 161 Personen wegen schwerer Verbrechen an, doch tausende Täter entzogen sich der Justiz. Željko Ražnatović mischte als Unternehmer im serbischen Fußball kräftig mit; wegen eines internationalen Haftbefehls blieb er allerdings Auswärtsspielen in anderen Ländern fern. Im Januar 2000 wurde er in einer Hotellobby erschossen; die genauen Hintergründe seines Todes sind unklar, aber beliebt ist Ražnatović bei vielen Serben noch heute.[8]
Das gilt auch für den bosnisch-serbischen General Ratko Mladić, der 1995 für das Massaker von Srebrenica, die Ermordung von 8000 Bosniern, verantwortlich war. 2017 wurde Mladić zu lebenslanger Haft verurteilt, doch bei Roter Stern Belgrad riefen Fans bewundernd seinen Namen. Spieler aus der nordserbischen Stadt Novi Sad trugen T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić. 2019 platzierten Belgrader Fans neben ihrem Stadion einen Panzer, der Anfang der 1990er Jahre im kroatischen Vukovar im Kriegseinsatz gewesen war. Die serbische Regierung hat gegen die Verharmlosung von Kriegsverbrechen offenbar wenig einzuwenden. Im Gegenteil: Aleksandar Vucˇić, seit 2017 Staatspräsident, erinnert gern an seine Vergangenheit in der Fanszene von Roter Stern Belgrad. Einige Hooligans sind zu Unternehmern oder Sicherheitsleuten von Parteien aufgestiegen. Es gilt als sicher, dass der serbische Geheimdienst Kontaktleute in den Fangruppen hat, um Proteste gegen die Regierung zu verhindern. Viele Fans halten Verbindungen zur Mafia, dennoch gelten sie bei einem großen Teil der Bevölkerung als Verteidiger der serbischen Kultur – zum Beispiel, wenn sie in den Kosovo reisen, die serbische Hymne singen und gegen „islamische Eindringlinge“ wettern. Mehrfach entrollten sie in der kosovarischen Hauptstadt Priština Banner mit der Aufschrift „Kosovo ist Serbien“. Obwohl das Kosovo sich 2008 von Serbien unabhängig erklärte, betrachtet Belgrad den Nachbarn bis heute als abtrünnige Provinz. Viele Kosovaren fühlen sich daher an das sozialistische Jugoslawien erinnert, als Diktator Tito dem Kosovo den Status einer Teilrepublik verweigerte. Die mehrheitlich muslimischen Kosovo-Albaner blieben in Führungspositionen unterrepräsentiert. Stärker als in anderen Teilrepubliken, Slowenien, Kroatien und Serbien, bestand ein erhebliches ethnisches Gefälle bei der Bildung, aber auch in medizinischen Berufen und der Industrie. Nach 1989 ließ Slobodan Milošević ganz gezielt Kosovo-Albaner aus wichtigen Ämtern drängen. Im Fußball zählte der FC Priština hingegen zu den wenigen kosovarischen Institutionen, die in ganz Jugoslawien Anerkennung fanden. In den Torjubel gegen Roter Stern Belgrad oder Dinamo Zagreb mischten sich Protestrufe gegen die serbisch dominierte Regierung Jugoslawiens.[9]
Nach dem Ende des Kosovo-Krieges im Juni 1999 half auch der Fußball dem Land auf seinem Weg in die staatliche Unabhängigkeit. Das Kosovo ist bis heute noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Umso mehr bemüht sich die Regierung um eine Verankerung in der internationalen Gemeinschaft, insbesondere durch die Aufnahme in globale Organisationen. Inzwischen ist das Kosovo Mitglied im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbankgruppe oder in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, nicht aber im Kulturverbund Unesco oder im polizeilichen Netzwerk Interpol. Als echten Durchbruch feierten die Kosovaren 2014 ihre Aufnahme in das Internationale Olympische Komitee IOC. Noch größer war die Begeisterung 2016, als das Kosovo als 55. Mitglied dem europäischen Verband Uefa und als 210. Mitglied dem Weltverband Fifa beitrat.
Der kosovarische Fußballverband intensivierte daraufhin seine Talentsuche in Europa. Die Funktionäre sprachen gezielt in Deutschland, Frankreich oder in der Schweiz bei Dutzenden Spielern vor, deren Eltern das Kosovo während des Krieges verlassen hatten. Das kosovarische Nationalteam erarbeitete sich so einen guten Ruf und verpasste nur knapp die Qualifikation für die Europameisterschaft in diesem Sommer. Für manche Heimspiele in Priština bewarben sich mehr als 100 000 Menschen um Tickets. Neunzig Prozent der Kosovaren sind ethnische Albaner. Für viele von ihnen zählte lange nur eine Nation, die albanische. Nach ihrem Verständnis umfasst diese Nation auch jene Staaten, in denen albanische Minderheiten leben, nämlich in Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Griechenland. Mit dem Erfolg des kosovarischen Nationalteams ist die Zahl albanischer Flaggen in Priština jedoch deutlich zurückgegangen. Der Fußball spielt hier also eine wichtige Rolle für das sogenannte Nationbranding, die Entstehung einer eigenständigen nationalen Identität.[10] Mittlerweile erkennen 115 der 193 UN-Mitgliedstaaten die Republik Kosovo an. Andere Staaten bringen dagegen ihre Ablehnung auch im Fußball zum Ausdruck: So haben die Verbände aus Serbien, Russland sowie Bosnien und Herzegowina bei der Uefa einen Antrag gestellt, nicht gegen das Kosovo spielen zu wollen.
Spanischer Separatismus und die Rolle des Fußballs
Die Regierung Spaniens, die das Kosovo auch nicht anerkennt, geht dabei einen anderen Weg. Vor dem Qualifikationsspiel für die Weltmeisterschaft 2022 zwischen Spanien und Kosovo ging das Kulturministerium in Madrid ganz gezielt auf den übertragenden spanischen Fernsehsender RTVE zu, um die Modalitäten zu klären. Die Moderatoren und Kommentatoren sprachen dann von einem kosovarischen Team, nicht aber von einer Nationalmannschaft. Und der Stadionsprecher kündigte die „Hymnen zum Spiel“ an, ohne dabei die Länder zu nennen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Regierung in Madrid möchte die Eigenständigkeit des Kosovo nicht akzeptieren, weil sie separatistische Nachahmer im eigenen Land fürchtet, in Katalonien und vor allem im Baskenland. Dort gilt Athletic Bilbao seit über 120 Jahren als Symbol der Selbstbehauptung. Der frühere Spieler José Antonio Aguirre avancierte 1936 zum ersten Regionalpräsidenten des Baskenlandes. Aguirre unterstützte den Aufbau eines baskischen Nationalteams, auch als Werbung für eine mögliche Loslösung von Spanien. Doch nach dem Spanischen Bürgerkrieg 1939 war es mit diesen Ideen vorbei. Diktator Franco verdrängte regionale Traditionen und ließ ausländisch klingende Vereinsnamen verbieten, aus Athletic Bilbao wurde in der Zeit der Diktatur, von 1941 bis 1974, Athlético Bilbao.[11]
In diesen Jahrzehnten entwickelten viele Basken eine große Abneigung gegen die Zentralmacht in Madrid. 1976, kurz nach Francos Tod, trafen im baskischen Derby die Teams aus Bilbao und San Sebastián aufeinander. Vor dem Anpfiff steckten beide Kapitäne demonstrativ die Flagge des Baskenlandes in den Anstoßpunkt. Vor allem die nationalistische PNV, die einflussreichste Partei im Baskenland, nutzt und instrumentalisiert den Fußball politisch. 1977 übernahm der PNV-Politiker Jesús María Duñabeitia das Präsidentenamt bei Athletic Bilbao. Baskische Musiker traten wieder selbstbewusst im Stadion auf. Auch immer mehr Fans forderten politische Autonomie. Mit Erfolg: In Spanien wurde Baskisch als eine Nationalität festgelegt und zu einer Amtssprache erhoben. Durch neue Selbstverwaltungsrechte konnte sich das Baskenland besser entwickeln als andere Regionen in Spanien.
Der baskische Nationalismus hat allerdings auch eine mörderische Seite. So tötete die Untergrundorganisation ETA bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2018 mehr als 800 Menschen. Im Januar 1986 entführte sie für mehrere Tage den Unternehmer Juan Pedro Guzmán, ein Vorstandsmitglied von Athletic Bilbao. Zudem verschickte sie Erpresserbriefe an wohlhabende Basken, etwa an Bixente Lizarazu, geboren auf der französischen Seite des Baskenlandes und lange beim FC Bayern München aktiv. Zwar hatte die ETA nie mehr als einige hundert Mitglieder, aber dafür zehntausende Sympathisanten. Auch im Stadion von Bilbao forderten Fans die Freilassung von inhaftierten ETA-Mitgliedern. Und als Athletic 2008 eine Schweigeminute für den von der ETA ermordeten baskischen Sozialdemokraten Isaías Carrasco abhielt, störte ein Teil des Publikums die Trauerkundgebung mit Pfiffen.[12]
Der ausgeprägte Nationalismus manifestiert sich auch in der Zusammensetzung der Mannschaft: Seit mehr als hundert Jahren setzt Athletic Bilbao ausschließlich auf Spieler mit baskisch geprägten Biographien. Lange wurden nur gebürtige Spieler aus der Region zugelassen. Mittlerweile ist aber nicht mehr ihr Geburtsort zentral, sondern ihr „Aufwachsen im baskischen Fußball“. Die Talentsuche, an der Dutzende Partnervereine und Scouts mitwirken, ist in keiner Satzung festgeschrieben. Vermutlich würde sich sonst das spanische Verfassungsgericht äußern. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu Debatten über familiäre Hintergründe der Spieler, vereinzelt auch zu Rassismus gegen Spieler mit afrikanischen Wurzeln. Der Durchbruch zu mehr Diversität gelang erst 2014. Iñaki Williams, geboren in Bilbao, Sohn eines ghanaischen Vaters und einer liberianischen Mutter, war in der Europa-League der erste schwarze Torschütze für Athletic.
Bis heute wollen viele Fans von Athletic Bilbao nichts mit dem spanischen Nationalteam zu tun haben. Häufig sind daher bei Länderspielen die Einschaltquoten im Baskenland geringer als in anderen Regionen des Landes. Ursprünglich sollte die spanische Mannschaft bei der Europameisterschaft ihre drei Vorrundenspiele im Stadion San Mamés von Bilbao bestreiten. Bilbao aber wollte während der Pandemie keine Garantie für die Zulassung von Zuschauern geben. Die Uefa verlegte die Spiele daher nach Sevilla – und viele baskische Fans freuten sich darüber, dass nun ihr Baskenland von der spanischen Nationalmannschaft „verschont bleibt“.
Eine solche Ablehnung im eigenen Land ist in den anderen beschriebenen Gastgeberstädten der EM eher unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Ob Orbán, Putin oder Erdoğan – sie alle werden ihre Fußballmannschaften und -spiele weidlich zu nationalen Zwecken ausbeuten. Lassen wir uns also nicht täuschen von den großen Bekenntnissen zu Menschenrechten und multikultureller Gesellschaft. Auch bei dieser Europameisterschaft wird für viele Ausrichter der eigene Nationalismus an allererster Stelle stehen.
[1] Dietrich Schulze-Marmeling, Gute Freunde: Viktor Orbán und die UEFA, www.werkstatt-verlag.de, 11.3.2021.
[2] Timm Beichelt, Ersatzspielfelder. Zum Verhältnis von Fußball und Macht, Berlin 2018.
[3] Stephan Felsberg, Tim Köhler und Martin Brand (Hg.), Russkij Futbol, Göttingen 2018.
[4] Patrick Keddie, The Passion. Football and the Story of Modern Turkey, London 2018.
[5] John McManus, Welcome to Hell? In Search of the Real Turkish Football, London 2018.
[6] Yossi Medina, Fighting for Nagorno-Karabakh, through Football, in Babagol.net, 5.10.2020.
[7] Richard Mills, The Politics of Football in Yugoslavia. Sport, Nationalism and the State, London 2019.
[8] Holger Raschke, Football with a lot of Politics, in: Zurück am Tatort Stadion. Diskriminierung und Antidiskriminierung im Fußball, Göttingen 2015, S. 286-304.
[9] Patrick Jennings, The remarkable Mr Vokrri: Kosovo’s football rise, in: BBC, 9.9.2019.
[10] Michael Martens, Wir sind dann mal da, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 16.09.2019.
[11] Alejandro Quiroga, „Football and Identities in the Basque Country“, in: Football and National Identities in Spain, London 2013, S. 155-183.
[12] Ronny Blaschke, Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution, Bielefeld 2020.