
Bild: Imane Khelif bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris im Duell mit Yang Liu, 9.8.2024 (IMAGO / ABACAPRESS / Julien Poupart)
Die Geschlechterparität ist erreicht! Stolz verkündete das Internationale Olympische Komitee (IOC), dass an den Olympischen Spielen 2024 in Paris 11 119 Menschen teilgenommen haben. 5671 Männer und 5448 Frauen waren es. So wird gezählt, denn beinahe der gesamte Sport ist binär strukturiert. Es gibt einerseits den häufig gut dotierten Männersport, andererseits den noch immer oft als Veranstaltung minderer Güte wahrgenommenen Frauensport.
Das immerhin ist schon ein Fortschritt: Denn der Sport, wie er Ende des 19. Jahrhunderts in England entstand, war einfach nur männlich, Frauen waren ausgeschlossen. Aber Frauen führten und führen noch immer ihren Kampf um Teilhabe. Dass die großen politischen Debatten auch den Sport betreffen, zeigte sich in diesem Sommer wieder einmal: und zwar bei den Diskussionen um die algerische Boxerin Imane Khelif. Deren Olympiasieg im Weltergewicht wurde von heftigen Protesten begleitet. An Khelif scheint alles von Belang zu sein: Dass sie eine kräftig gebaute Frau ist, dass sie aus dem postkolonialen Algerien stammt und dass sie ausgerechnet im Boxen Erfolge feiert.
Dabei existiert das Boxen der Frauen so lange, wie es Männerboxen gibt. Aus dem 18. Jahrhundert gibt es viele Berichte über Frauen, die meist untereinander, manchmal auch gegen Männer in Boxringe gestiegen sind. Preisboxerinnen waren im 18. und im frühen 19. Jahrhundert keineswegs ungewöhnlich. Als jedoch die Gentlemen den modernen Sport aufbauten, wurde Frauenboxen verboten. Begründet wurde dies damit, dass Anmut und Grazie der Frauen beschädigt und deren Gebärfähigkeit gefährdet würden. Frauen, die dennoch boxen wollten, wurden in anrüchige Milieus gedrängt, etwa in Varietés oder auf Rummelplätze. Erst in den 1990er Jahren erlaubten die Boxverbände, was sie nicht mehr verhindern konnten. Olympische Disziplin ist Frauenboxen allerdings erst seit 2012, und um ihre Vorstellung, wie Frauen aussehen sollen, halbwegs zu retten, wollte der Boxverband zunächst noch durchsetzen, dass die Sportlerinnen mit Röcken in den Ring treten.
Der Weg der Imane Khelif
Zu den Athletinnen, die sehr persönlich diese Kämpfe für ihr Menschenrecht auf Sport führen mussten, gehört Imane Khelif. Geboren 1999, wuchs sie in einem algerischen Dorf auf. Zunächst spielte sie Fußball, dann wechselte sie gegen den Willen ihres Vaters zum Boxen. Für diesen Schritt gab es im algerischen Frauensport Vorbilder: Die 1500-Meter-Läuferin Hassiba Boulmerka wurde 1991 Weltmeisterin und 1992 Olympiasiegerin, doch Islamisten der Partei FIS, Islamische Heilsfront, bedrohten sie. Die Läuferin musste nach Italien ins Exil gehen. Im Jahr 2000 wiederholte mit Nuria Mérah-Benida eine weitere Algerierin Boulmerkas Olympiasieg über 1500 Meter.
Khelif boxte sich durch und hoch: 2018 nahm sie erstmals an Weltmeisterschaften teil, bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio erreichte sie das Viertelfinale, 2022 wurde sie Vizeweltmeisterin. Als sie bei den Weltmeisterschaften im März 2023 wieder erfolgreich boxte, wurde sie unmittelbar vor dem Finale, das sie durch den Sieg über eine russische Boxerin erreicht hatte, disqualifiziert: Sie habe einen sogenannten Geschlechtstest nicht bestanden, hieß es bei der International Boxing Association (IBA).
Dieser Verband ist schon seit 2019, damals hieß er noch AIBA, vom IOC suspendiert. Gründe sind grassierende Korruption, Intransparenz und eine große Abhängigkeit von russischen Konzernen. Sichtbar ist dies in der Person des IBA-Präsidenten Umar Kremlew, der als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin gilt. Die IBA ist seit einigen Jahren kein anerkannter Weltboxverband mehr, eine Gegengründung namens World Boxing ist allerdings bislang zu klein, um das Amateurboxen zu organisieren.
Rechter Kulturkampf im Sport
Als bei Olympia in Paris Imane Khelif im Achtelfinale eine italienische Boxerin deutlich besiegte – diese gab nach 46 Sekunden auf –, meldete sich die IBA wieder zu Wort und erinnerte an ihre 17 Monate zuvor ausgesprochene Disqualifikation von Khelif und einer weiteren Boxerin, die aus Taiwan kommt. Beide Sportlerinnen hätten XY-Chromosomen und/oder zu hohe Testosteronwerte; die Mitteilungen, die die IBA auf einer Pressekonferenz in Paris machte, waren widersprüchlich. Sie behaupteten wahlweise, die Sportlerinnen seien „eindeutig männlich“ oder „überwiegend männlich“.
Dankbar aufgegriffen wurden die IBA-Behauptungen sofort von Italiens rechtsextremer Ministerpräsidentin Giorgia Meloni: „Ich denke, Athletinnen mit männlichen genetischen Merkmalen sollten nicht an Frauenwettbewerben teilnehmen dürfen. Nicht, weil wir jemanden diskriminieren wollen, sondern um das Recht der weiblichen Athleten zu schützen.“ Der frühere US-Präsident Donald Trump postete eine Nachricht mit einem Foto aus dem Kampf Khelifs gegen die italienische Boxerin und schrieb dazu: „Ich werde Männer aus dem Frauensport heraushalten!“
Wortmeldungen aus dem rechten politischen Lager, wie sie etwa Meloni, Trump oder auch der Milliardär Elon Musk formulierten, sind nicht neu. Gerade Donald Trump hat den Kampf gegen die Rechte trans- und intersexueller Menschen – in seiner Diktion: zum fürsorglichen Schutz „unserer Frauen“ – schon lange zu einem seiner politischen Kernprojekte erklärt.
Diese Themensetzung passt zur Tradition der Geschlechtstests, auf denen die Vorwürfe basieren – wenn man einmal von Wortmeldungen absieht, dass man dieser Khelif doch ansehe, dass sie ein Kerl sei. Mitte der 1930er Jahre profilierte sich bereits der damalige Chef des Nationalen Olympischen Komitees der USA und spätere IOC-Präsident, Avery Brundage, indem er obligatorische Tests auf „geschlechtliche Zweideutigkeiten“ bei Frauen forderte. Ab 1946 mussten Frauen medizinische Zertifikate vorlegen, flächendeckende Tests gab es ab Mitte der 1960er Jahre.
Anfangs waren das demütigende „Nacktparaden“, bei denen Sportlerinnen sich vor Ärztekommissionen hinstellen, ihre Shirts hoch- und die Hosen runterziehen und ihre Vagina begucken lassen mussten. Später wurde mit Abstrichen im Mundraum auf Geschlechtschromosomen untersucht, danach gab es DNA-Analysen. Generelle Geschlechtstests wurden im IOC-Bereich aufgrund von Protesten und gerichtlichen Niederlagen abgeschafft, in Einzelfällen werden aber weiterhin Tests verlangt.
Es galt und gilt, mit allen Mitteln die Vorstellung zu verteidigen, dass im Sport und in der Welt eine simple Zweigeschlechtlichkeit existiere, obwohl doch der Sport, bei dem es mehr als in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich auf Körperlichkeit ankommt, immer wieder daran erinnerte, dass Geschlechterverhältnisse komplizierter sind. Mitte der 1930er Jahre hatte sich eine britische Weltklasse-Kugelstoßerin einer Transition unterzogen und war Mark Weston geworden. Zur gleichen Zeit wurde aus der tschechoslowakischen Weltrekordhalterin im 800-Meter-Lauf Zdeneˇk Koubek. In beiden Fällen war die Presseberichterstattung damals bemerkenswert sachlich, aber zugleich fällt auf, dass das männliche Sportestablishment gerade die Sportarten, die Weston und Koubek vor ihrer Geschlechtsanpassung betrieben hatten, Kugelstoßen und 800-Meter-Lauf, unbedingt den Männern vorbehalten wollte, denn diese Disziplinen galten ihm als unfeminin.[1]
Funktionäre für Binarität
Bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam waren erstmals Frauen zur Leichtathletik zugelassen – ein Schritt, der sich aus dem großen politischen Druck ergab, den die „Olympischen Frauenspiele“, später Frauenweltspiele genannt, mit ihren Erfolgen auf das IOC ausgeübt hatten. Nach dem 800-Meter-Lauf der Frauen, den die Deutsche Lina Radke gewann – nebenbei: der erste deutsche Olympiasieg in der Leichtathletik, trotzdem erinnert sich interessanterweise kaum jemand an sie –, überschlugen sich die männlichen Kritiker. Der Begründer der Olympischen Spiele, der französische Baron Pierre de Coubertin, sprach etwa von einer „unzumutbaren Überanstrengung der Frauen“. Entsprechend wurde bis 1960 diese Mittelstrecke als Frauendisziplin bei Olympia verboten.
Bei den Spielen 1936 in Berlin gab es den Skandal um Dora/Heinrich Ratjen. Die Nazi-Sportführung hatte Ratjen anstelle der eigentlich besseren jüdischen Hochspringerin Gretel Bergmann in den Kader geholt. Ratjen kam auf Platz vier, und zwei Jahre später wurde er nach einer Denunziation festgenommen, weil er sich als Frau ausgegeben habe. Ein Polizeiarzt fand bei Ratjen einen „derben Narbenstrang“ an der Unterseite des Penis, der vermutlich die Ursache für eine Geschlechtsverwechslung bei der Geburt war. „Von meinen Eltern bin ich als Mädchen großgezogen worden“, sagte Ratjen im Polizeiverhör. Die Nazis vermieden größeres Getöse bei der Abwicklung des Falles. Gretel Bergmann, die massiv geschädigt wurde, geht in ihren Erinnerungen von einem „bizarren Täuschungsmanöver“ aus, und auch in dem Spielfilm „Berlin 36“ (2009) wird die These vertreten, die NS-Führung habe Ratjen bewusst als Mann in die Frauenkonkurrenz geschickt. Dafür gibt es allerdings keine Belege.
Doch der Verdacht, dass Männer in Frauenkleidung sich sportliche Erfolge ergaunerten, war in der Welt. Avery Brundage, Spitzname „Slavery“, der in den USA als Rassist und Antisemit galt, wollte mit den Geschlechtstests sicherstellen, dass die Teilnehmerinnen an Frauenwettbewerben seinem Weiblichkeitsideal entsprachen: anmutig, feminin, grazil. Noch 1949 sagte er, Frauenwettkämpfe könne es nur geben, „wenn sie passend sind für Frauen: Schwimmen, Tennis, Eiskunstlaufen, aber gewiss nicht Kugelstoßen“. Frauen, die kräftig sind, müssen Kerle sein, so Brundages Logik.
Auftrieb bekam Brundage im Kalten Krieg. Frauensport wurde in der Sowjetunion und ihren verbündeten Ländern stärker gefördert, und zugleich erhielten Instrumente wie die „Nationenwertung“ bei Olympischen Spielen Gewicht in der weltpolitischen Auseinandersetzung. Besonders angefeindet wurden etwa die ukrainischen Schwestern Irina und Tamara Press, beide überragende Leichtathletinnen. „Press-Brothers“ lautete eine häufige Schmähung. Ähnlich angefeindet wurden auch die polnische Sprinterin Ewa Kłobukowska oder die tschechoslowakische 800-Meter-Läuferin Jarmila Kratochvilová. Ihnen gemein war, dass sie von kräftiger Statur waren und keiner von ihnen je via Geschlechts- oder Dopingtest regelwidriges Handeln nachgewiesen wurde. Dass im Kalten Krieg die Sportförderung – teilweise auch im Westen – massives Doping oft schon für Kinder beinhaltete, steht auf einem anderen Blatt.
Nach 1990 richteten sich die Vorwürfe gegen Sportlerinnen wie Maria Mutola aus Mozambique oder Caster Semenya aus Südafrika, beide übrigens 800-Meter-Läuferinnen. Das Feindbild des „sowjetischen Mannweibs“ verschwand nun zugunsten postkolonialer Blickweisen. Der dabei oft zum Vorschein kommende Rassismus ist in der Sportgeschichte nicht neu.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatte ein US-Funktionär schwarze Athletinnen als „unfair bevorteilte ‚Hermaphroditen‘“ beschimpft, „die regelmäßig gegen ‚normale Frauen‘ gewinnen“. Elemente dieser rassistischen Tonlage finden sich bis heute in Berichten über die zweifache Olympiasiegerin Caster Semenya, die sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen ihr Startverbot bei Olympia 2021 wehrt.
Vor diesem skizzierten Hintergrund muss man die Vorwürfe gegen Imane Khelif sehen. Hier bündeln sich Ablehnung von Frauen in vorgeblichen Männerdomänen, rassistisches Ressentiment und eine Phobie gegen intersexuelle Menschen – zu einem solchen wird Frau Khelif im Diskurs einfach gemacht. Im Geschlechterdiskurs insgesamt kommt dem Sport eine große Bedeutung zu.
Die Philosophin Judith Butler hat analysiert, dass gerade „der Frauensport die Macht hat, Geschlechterideale neu zu artikulieren, sodass gerade jene athletischen Frauenkörper, die einst als außerhalb der Norm liegend galten (zu groß, zu männlich, ja: monströs), im Laufe der Zeit zu einem neuen Ideal von Leistung und Grazie werden können, zu einem Maßstab für weibliche Leistung“. Butlers Beispiel ist die Tennisspielerin Martina Navratilova, der oft attestiert wurde, mit ihren Muskeln habe sie eher im Männersport anzutreten.[2] Bei Caster Semenya oder Imane Khelif dürfte Butler zu ähnlichen Ergebnissen kommen – mit dem Unterschied, dass hier die Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft, soweit sie überhaupt vorhanden ist, wesentlich instabiler sein dürfte.
Bemerkenswert ist, dass es das bekanntlich hochgradig undemokratische IOC ist, das Khelif verteidigt. Dabei hatte das 1894 gegründete IOC den Ausschluss von Sozialgruppen immer als Geschäftsgrundlage: Ohne Frauen, ohne Arbeiter, ohne People of Color, ohne Menschen aus Afrika und Asien haben die Olympischen Spiele vor 130 Jahren begonnen; die Macht des IOC basiert genau darauf, dass es entscheidet, wer dabei sein darf und wer nicht. Die Integration ausgeschlossener Gruppen gelang deshalb stets nur durch deren Kämpfe – und nicht, weil jemand ihnen das Recht auf Teilhabe gönnerhaft gewährt hätte.[3]
Einfach wäre es, Athletinnen wie Imane Khelif endlich den Respekt entgegenzubringen, den sie verdienen. Komplizierter mag die Frage sein, die nicht von Imane Khelif, aber sehr wohl von einigen ihrer trans- und intergeschlechtlichen Vorgängerinnen aufgeworfen wurde, wie ihre Teilhabe verwirklicht werden könnte. Möglich wäre es etwa, andere Kategorien als bloß männlich-weiblich plus Gewichtsklasse einzuführen. Es gibt jedenfalls keinen Grund, den Kampf um Anerkennung aufzugeben.
[1] Michael Waters, The Other Olympians: Fascism, Queerness, and the Making of Modern Sports, New York 2024.
[2] Judith Butler, Athletic Genders: Hyperbolic Instance and/or the Overcoming of Sexual Binarism, in: „Stanford Humanities Review“, 1998, S. 103-111.
[3] Vgl. Martin Krauss, Dabei sein wäre alles: Wie Athletinnen und Athleten bis heute gegen Ausgrenzung kämpfen, München 2024.