Ausgabe Juni 2024

Abtreibung, Leihmutterschaft und die Untiefen der Liberalität

Protest gegen Paragraph 218 in Berlin. Derzeit gelten für Abtreibungen die in Paragraf 218 des Strafgesetzbuches festgeschriebenen Regeln. Foto vom 16.9.2023 (IMAGO / IPON)

Bild: Protest gegen Paragraph 218 in Berlin. Derzeit gelten für Abtreibungen die in Paragraf 218 des Strafgesetzbuches festgeschriebenen Regeln. Foto vom 16.9.2023 (IMAGO / IPON)

Es sind juristisch und lebensweltlich widersprüchliche Formeln, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Namen des Lebensschutzes den Frauen hierzulande bis heute auferlegt: Ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche sei „rechtswidrig, aber straffrei“, wobei sich die abtreibungswilligen Frauen vorab einer „zielgerichteten, aber ergebnisoffenen Beratung“ zu unterziehen hätten. Mit diesem „Kompromiss“ leben ungewollt Schwangere hierzulande, seitdem die Bundesrichter 1975 und 1990 die sogenannte Fristenregelung[1] verworfen hatten – im Süden Deutschlands und in ländlichen Gebieten geraten sie dabei in immer heftigeren Konflikt mit dem Status quo: Denn nicht nur nötigen und bedrohen selbsternannte Lebensschützer:innen betroffene Frauen und Ärzt:innen immer offensiver vor gynäkologischen Praxen. Auch um die medizinische und psychosoziale Versorgung steht es nicht gut, wie eine gerade erschienene aufschlussreiche Studie zu „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“ (ELSA) nicht deutlicher hätte offenlegen können.[2] Allen, die derzeit von einem „befriedeten Kulturkampf“ schwadronieren, wie die CSU-Politikerin Dorothee Bär,[3] und keine Notwendigkeit sehen, etwas an der zunehmend prekären Lage ungewollt Schwangerer zu ändern, sei die Lektüre dieser Studie empfohlen.

Aufgeflammt ist der vermeintliche Kulturkampf nun wieder anlässlich eines im April vorgestellten Berichts einer Regierungskommission, deren Auftrag es war, Empfehlungen zur „reproduktiven Selbstbestimmung“ – sprich: zum Schwangerschaftsabbruch – und zur Fortpflanzungsmedizin, insbesondere zur möglichen Legalisierung von Eizellspende und Leihmutterschaft, zu geben.[4] Vor dem Hintergrund des geltenden Paragrafen 218 BGB, des Embryonenschutzgesetzes von 1990 und der beiden genannten Urteile keine leichte Aufgabe für das interdisziplinär und vornehmlich mit Frauen besetzte Gremium, dessen Arbeitsgruppe 1 zu prüfen hatte, ob und wie der Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch herausgenommen werden kann.

BVerfG-Urteile: Längst nicht mehr sakrosankt

Dass die BVerfG-Urteile nicht mehr als sakrosankte Richtschnur zu verstehen seien, bekräftigte auf der Pressekonferenz die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in leicht sarkastischem Ton: „Die Konsistenz der beiden Entscheidungen“, sagte sie, sei „überschaubar“ und von „verfassungs-, europa- und völkerrechtlichen Vorgaben“ mittlerweile überholt.[5] Die Bindewirkung der Urteile, so der Bericht, sei nicht absolut, zumal wenn veränderte Verhältnisse neuen Regelbedarf erforderten. (S. 211 ff). Die Kommission schlägt in ihrer stark juristisch argumentierenden Studie nun vor, den Schwangerschaftsabbruch im ersten Drittel der Schwangerschaft für rechtens und straffrei zu erklären (S. 421). Die werdende Mutter und der ohne sie nicht lebensfähige Embryo stellten eine unzertrennliche Einheit dar, sodass in dieser Phase das Selbstbestimmungsrecht der Frau den Rechten des Embryos übergeordnet sei.

Öffentlich heftiger umstritten sind insbesondere die aktuellen Ausführungen für das zweite Schwangerschaftstrimester. Hier hält die Kommission eine zeitliche Ausweitung des Schwangerschaftsabbruchs für möglich und reagiert damit auf Regelungen im europäischen Ausland: Frankreich erlaubt den Abbruch bis zur 14. Schwangerschaftswoche, also Woche zwölf nach der Nidation, die Niederlande sogar bis zur 24. Woche. Eine solche Erweiterung stellt die Kommission allerdings in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, will bei einer medizinischen und kriminologischen Indikation[6] die Rechtmäßigkeit der Abtreibung jedoch verankert wissen (S. 421 f). Handlungsbedarf sieht das Gremium in der Spätphase der Schwangerschaft. Grundsätzlich soll der Fetozid strafbar sein. Bei der medizinischen Indikation jedoch, die bislang „intransparent“ geregelt sei, „fehlen gesetzliche Kriterien für die Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen bei einem pränataldiagnostisch auffälligen Befund der Abbruch möglich ist“ (S. 422). Im Hinblick auf die aktuell geltende Pflichtberatung stellt die Kommission den genannten Widerspruch von Zielorientierung und Ergebnisoffenheit heraus, den Beratende, aber auch betroffene Frauen als belastend empfinden.

Leichtfertige Abtreibungen liegen bei null

Die Anzahl leichtfertig durchgeführter Abtreibungen, so Kommissionsmitglied und Ethikrätin Sigrid Graumann bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats, läge bei null.[7] Wesentlich zielführender als die geltende Zwangsberatung, so die Kommission, sei ein freiwilliges, niedrigschwelliges, barrierefreies und vielsprachiges Beratungskonzept; zugleich solle das kostenfreie Beratungsangebot aufrechterhalten werden. Die Kosten eines legalen Schwangerschaftsabbruchs sollen dem Gremium zufolge die Krankenkassen übernehmen.

Die harschen Reaktionen auf den vorab bekanntgewordenen Bericht und die Warnungen vor einer „drohenden Spaltung der Gesellschaft“, wie sie von der bayerischen Gesundheitsministerin Ulrike Scharf (CSU), aber selbst der religionspolitischen Sprecherin der FDP, Sandra Bubendorfer-Licht, verlauteten, stehen in massivem Gegensatz zur mehrheitlich eindeutigen Haltung in der Bevölkerung: Über Jahre hinweg und auch aktuell sprechen sich um die 80 Prozent der Deutschen dafür aus, eine ungewollte Schwangerschaft legal beenden zu können.[8] Dennoch duckt sich die Bundesregierung in dieser so relevanten Frage aus parteipolitischen Beweggründen weg. Die Furcht, die Rechte könnte das Thema wahlkampftaktisch ausschlachten, scheint selbst die zuständigen Politiker:innen, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne), umzutreiben: „Was wir nicht brauchen“, sagte Lauterbach auf einer Pressekonferenz in seinem Ministerium, „ist eine spaltende ideologische Debatte“. Ähnlich äußerte sich Buschmann, der sichtlich wenig geneigt ist, den Paragrafen 218 anzufassen, und ebenfalls vor „Polarisierung“ warnte.[9] Damit aber vertut eine Regierung zum wiederholten Mal die Chance, Frauen hierzulande endlich jene Rechte einzuräumen, die in vielen Teilen der Welt längst Standard sind und in Frankreich inzwischen sogar Verfassungsrang haben.

Weithin unbeachtet: Eizellspende und Leihmutterschaft

Kaum eine Rolle spielen in der Öffentlichkeit dagegen die weitreichenden Ausführungen zur Fortpflanzungsmedizin, die die Kommission ebenfalls der Gestaltung des Gesetzgebers überlässt. Ein Grund dafür könnte sein, dass diese nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Menschen betrifft, vielleicht aber auch, weil es sich um eine komplizierte Gemengelage widersprüchlicher Interessen handelt. Familienpolitische Forderungen der Queer-Community, die sich vom herrschenden heterosexuellen Fortpflanzungsregime diskriminiert fühlt, treffen auf eine internationalistisch grundierte Kritik, die den betroffenen Paaren vorwirft, das Wohlstandsgefälle auszunutzen, wenn sie Leihmütter etwa aus Osteuropa Dienstleistungen für sich erbringen lassen.

In diesem Teil des Berichts drückt sich der Paradigmenwechsel, der schon im Hinblick auf Schwangerschaftsabbrüche aufscheint, wenn bei der Abwägung der Rechtsgüter von einem abgestuften Lebensschutz ausgegangen wird, noch deutlicher aus: „Reproduktive Autonomie“, heißt es da, „wird nicht mehr nur negativ als Abwehr von Bevormundung und Fremdbestimmung verstanden, sondern auch positiv als Freiheit der Wahl, weil die Realisierung des Kinderwunsches mit fortpflanzungsmedizinischer Hilfe als Bestandteil eines guten, gelingenden Lebens gelten kann“ (S. 576).

Solche Passagen lassen deutlich die Handschrift der Göttinger Medizinethikerin Claudia Wiesemann als Koordinatorin der Arbeitsgruppe erkennen, die schon seit längerem als Befürworterin der Legalisierung zumindest der Eizellspende auftritt und 2019 am Konzept eines „zeitgemäßen Fortpflanzungsmedizingesetzes“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina mitgewirkt hat, das das Embryonenschutzgesetz ablösen soll. Die Begründung des Verbots reproduktionstechnischer Eingriffe im geltenden Gesetz, erklärte sie bei der Vorstellung des Berichts, sei nicht mehr haltbar, weil neuere Studien gezeigt hätten, dass die „gespaltene Mutterschaft“ zwischen leiblicher Mutter, Eizellspenderin und/oder Leihmutter dem Kindeswohl nicht abträglich sei, soweit das Kind über seine Herkunft informiert würde.[10] Das Verbot der „altruistischen“ Leihmutterschaft, also einer Tragemutterschaft ohne kommerzielle Absichten, so die Juristin Friedrike Wapler, könne allerdings durchaus begründet sein bzw. diese könne nur unter sehr strengen Vorgaben erlaubt werden.

Bemerkenswert ist, dass die Kommission die Problematik nicht wie üblich vor allem aus der Perspektive kinderloser Paare, sondern im Hinblick auf die entstehenden Kinder und die am Geschehen beteiligten Eizellspenderinnen und Leihmütter beleuchtet. Um die Rechte des Kindes zu schützen, sei nur die nichtanonyme Spende denkbar, was dazu führen könnte, dass, wie das Beispiel Skandinavien zeigt, das Angebot auf niedrigem Niveau verbleibt; in Spanien, dem Mekka der Eizellspende, erfolgt diese anonym. Zudem soll der Eizellhandel unterbunden und die Frauen sollen mittels einer Versicherung – ähnlich der für medizinische Probanden – gegen gesundheitliche Risiken und Langzeitfolgen abgesichert werden.

Noch restriktiver will das Gremium die Leihmutterschaft geregelt sehen, sollte diese zur legalen Option werden. Kritisch setzt es sich mit dem Begriff „altruistisch“ auseinander, denn weder dürften Frauen genötigt werden, ihre Dienste umsonst anzubieten, noch dürften sie der Gefahr ausgesetzt werden, dass ihre wirtschaftliche Not ausgenützt wird. Um die „Gerechtigkeit im Gesamtgeschehen zu fördern“, heißt es, müssen „Aufwand, Risiken und Ertrag für alle Beteiligten in ein faires Verhältnis gesetzt“ und müsse den Frauen eine „angemessene Aufwandsentschädigung“ bezahlt werden (S. 601). Deshalb sollten gemeinnützige Einrichtungen die Vermittlung und Beratung übernehmen, um kommerzielle Anbieter vom Markt zu drängen.

Um der besonderen Situation der Schwangerschaft gerecht zu werden, plädieren die Kommissionsmitglieder dafür, die persönliche Bindung zwischen Bestelleltern und Leihmutter zu stärken, indem sie gemeinsam und über die Geburt des Kindes hinaus Verantwortung übernehmen. Die Leihmutter solle entscheiden, ob sie die Schwangerschaft innerhalb der gesetzlichen Regeln abbrechen oder das Kind nach der Geburt behalten will. Ein noch vor der Schwangerschaft abgeschlossener Familienvertrag könnte die Rechte der Tragemutter und das Co-Parenting regeln.

Diese vorgeschlagenen Einschränkungen tragen den besonderen Umständen Rechnung, die mit der reproduktionstechnischen „Herstellung“ eines Kindes einhergehen. Vieles davon würde den anderorts unregulierten Fortpflanzungsmarkt hemmen: von der versicherungstechnischen Risikokalkulation über die offene Spende von Eizellen bis hin zu der Beziehungsstiftung der Beteiligten bei Leihmutterschaft. Als problematisch könnte sich die „angemessene Aufwandsentschädigung“ erweisen und zu einem neuen Reproduktionstourismus führen, der sich nur schwer verhindern ließe.

Dezidiert erteilt die Kommission all jenen, auch feministischen Akteurinnen, eine Absage, die Eizellspenderinnen bzw. Tragemütter als „normale“ Arbeiterinnen sehen wollen: Eine Leihmutter, so Wapler, könne man sich nicht einfach kaufen.

Inwieweit Missbrauch und Ausbeutung sozial schwächerer Frauen durch die vorgeschlagenen rechtlichen Pfeiler allerdings verhindert werden können, bleibt fraglich. Die europäische Freizügigkeit und die Gewerbefreiheit auch für Reproduktionsmediziner setzen den Restriktionen schon heute rechtliche Grenzen. Gar nicht zu reden davon, ob derartige Dienstleistungen von den Krankenkassen bezahlt werden müssen, worüber sich die Kommission ausschweigt.

Dass zumindest Teile der Ampel, allen voran die SPD, die sich in dieser Sache völlig bedeckt hält, die ganze Thematik lieber vertagen würde, ist offensichtlich – auch wenn die FDP den Fortpflanzungsmarkt lieber heute als morgen deregulieren würde. In Fragen eines liberalen Abtreibungsrechts aber haben die alten Vorkämpferinnen in der heutigen Männerpartei offenbar allen Einfluss verloren. Worst Case wäre ein Szenario, bei dem die Lockerung des Abtreibungsrechts gegen die liberale Ausgestaltung der Fortpflanzungsmedizin „ausgedealt“ würde. Wenn der Kommissionsbericht überhaupt noch einmal ins Parlament gelangt, sollten die Dinge unbedingt getrennt verhandelt werden.

[1] Diese galt in der DDR und wurde 1990 von ost- und westdeutschen Frauen im Einigungsprozess als Errungenschaft reproduktiver Selbstbestimmung eingefordert: Innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen sollte ein Abbruch legal sein und kostenfrei ermöglicht werden.

[2] Vgl. Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer, elsa-studie.de.

[3] Interview mit Dorothee Bär im „Deutschlandradio“, 10.4.2024.

[4] Bundesgesundheitsministerium, Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, Langfassung und Kurzfassung des Berichts, bundesgesundheitsministerium.de. Alle Seitenhinweise stammen im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, aus der Langfassung.

[5] Vorstellung des Berichts in der Bundespressekonferenz am 16.4.2024.

[6] Bei einer medizinischen Indikation sind Leben oder Gesundheit der Schwangeren bedroht, bei einer kriminologischen geht es um eine Schwangerschaft, die aufgrund einer Vergewaltigung entstand.

[7] Vgl. Forum Bioethik „Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur“ am 24.4.2024.

[8] Vgl. Carsten Frerk, Akzeptanz von Abtreibungen 1980 bis 2021, fowid.de, 2.9.2021; vgl. auch Eiken Bruhn, Reine Betroffenheitsprosa, taz.de, 16.4.2024.

[9] Pressekonferenz der drei Minister:innen zur Vorstellung des Kommissionsberichts im Bundesgesundheitsministerium am 16.4.2024.

[10] Die Studienlage zum Kindeswohl ist allerdings dürftig und nicht sehr aussagekräftig, es handelt sich um geringe Fallzahlen und es wurden vor allem die Eltern befragt.

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