Ausgabe Mai 2021

Macron: Konservativ aus der Krise?

Übertragung der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an die Nation, 31. März 2021 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Übertragung der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an die Nation, 31. März 2021 (IMAGO / Xinhua)

Marine Le Pen befindet sich in einer paradoxen, aber für sie erfreulichen Lage: Obwohl ihre persönlichen Beliebtheitswerte seit Monaten fallen, gilt die Rechtsradikale derzeit in allen Umfragen als sichere Anwärterin auf die Stichwahl um die französische Präsidentschaft in genau einem Jahr. Und anders als noch 2017 muss sie dabei nicht einmal eine deutliche Niederlage gegen Amtsinhaber Emmanuel Macron fürchten, sondern darf im Gegenteil auf knapp die Hälfte der Stimmen hoffen.

Das wirft ein Schlaglicht auf die Schwäche Macrons: Nach wie vor vermag der französische Präsident seine Bürgerinnen und Bürger kaum von sich zu überzeugen. Gerade viele Linke sind seiner inzwischen derart überdrüssig, dass sie sich bei einem erneuten Duell zwischen Macron und Le Pen sogar enthalten würden, selbst wenn gerade das den Stimmenanteil der Nationalistin in die Höhe treibt.[1] Noch vor vier Jahren verdankte Macron seinen Wahlsieg wesentlich dem Zuspruch ehemals sozialistischer Wähler, jetzt gilt er so manchen von ihnen nicht mal mehr als das kleinere Übel gegenüber einer Rechtsradikalen.

Die Ursachen für diese Entfremdung liegen keineswegs nur in der Person Macron begründet, sondern reichen tiefer: Gleich mehrere Krisen haben in den vergangenen Monaten das ursprünglich liberale Projekt des Präsidenten – linksliberal in der Gesellschafts- und Europapolitik, rechtsliberal bei Wirtschaft und Sozialem – gewaltig unter Druck gesetzt: Die Pandemie, aber auch Klimawandel und islamistischer Terror verlangen auf je unterschiedliche Weise nach einer stärkeren Rolle des Staates als es Macrons politischen Überzeugungen entspricht. Als Reaktion auf diese Krisen hat Macron eine markante Wende vollzogen: Er tritt zunehmend weniger wie der progressive Erneuerer auf, als der er zu Beginn seiner Amtszeit wahrgenommen wurde, sondern zeigt deutlich konservative Züge.

Corona: Wer schützt die Armen?

Dieser Schwenk wird gerade auch in der Coronakrise deutlich: Mitte April überschritt Frankreich die traurige Marke von 100 000 Corona-Toten – als das erst achte Land der Welt und das dritte in Europa nach Großbritannien und Italien. Macron blieb also kaum etwas anderes übrig, als inzwischen drei, teils sehr restriktive Lockdowns zu verhängen. An diesen Maßnahmen entzündet sich denn auch weniger Kritik als an seinem unklaren, wankelmütigen Kurs: Den ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr zögerte er gegen den Rat seiner Gesundheitsministerin Agnès Buzyn heraus, um vorher noch die Kommunalwahl abhalten zu können – die sich prompt zum landesweiten Superspreader-Event entwickelte. Auf die zweite Welle im Herbst 2020 reagierte er dann vergleichsweise schnell, nur um dieses Frühjahr angesichts der dritten Welle abermals zu spät in den Lockdown zu gehen. Das hat verheerende Konsequenzen: Die Pariser Hospitäler sind inzwischen wieder so überlastet, dass sie zur Triage greifen müssen.

Das aber ist nicht allein dem Krisenmanagement geschuldet, sondern auch eine Folge des jahrelangen Sparens im Gesundheitswesen: Trotz einer alternden Bevölkerung und 20 Millionen chronisch Kranken sinken seit 2010 die Zuwendungen an die öffentlichen Krankenhäuser, die sich daher zunehmend verschulden müssen – und auf Kosten ihrer Mitarbeiter weiter sparen: Pfleger und Krankenschwestern verdienen unterdurchschnittlich wenig, sowohl gemessen am einheimischen Gehaltsniveau als auch im Vergleich der OECD-Länder.[2] Diese fatale Politik hat zwar nicht nur Macron zu verantworten, er bleibt aber den nötigen Kurswechsel schuldig.

Seine Regierung konzentriert sich stattdessen darauf, die Wirtschaft zu stützen und greift dabei durchaus auch steuernd ein: Der kriselnden Air France wurden beispielsweise im Gegenzug für Milliardenhilfen die meisten Inlandsflüge untersagt, um so den klimafreundlicheren Bahnverkehr zu fördern.

Einen „industriellen Dirigismus, der dem General de Gaulle so lieb und teuer war“, sieht der Journalist Serge Raffy am Werk.[3] Der Verweis auf den konservativen Säulenheiligen trifft es gut, denn in Frankreich zeigt sich derzeit, dass „mehr Staat“ nicht immer schon eine sozialere Politik bedeutet: Der Regierung geht es vor allem um den Schutz zentraler Unternehmen und Branchen, während sie wenig gegen die wachsende Ungleichheit im Land unternimmt: Allein 2020 sind eine Million Menschen in die Armut abgerutscht, dennoch hat die Regierung in ihrem nationalen Aufbauplan weniger als ein Prozent der Mittel für die Armutsbekämpfung vorgesehen.[4] Kurzum: Mit seinem unklaren Krisenmanagement und einer konservativen Industriepolitik enttäuscht Macron bislang allzu oft die Erwartungen an einen schützenden Staat.

Der Druck der Klimakrise

Das gilt umso mehr für seinen Umgang mit einer anderen Krise, die auch in Frankreich zunehmend ins öffentliche Bewusstsein drängt: der Klimawandel. Bereits heute sind die Durchschnittstemperaturen im Land gegenüber dem Jahr 1900 um zwei Grad gestiegen.[5] Sommerliche Dürreperioden werden so immer mehr zum Normalzustand. Allein im vergangenen Juli mussten 72 der 101 Départements die Nutzung von Wasser einschränken. Sollte der weltweite CO2-Ausstoß auf dem jetzigen Niveau verharren, könnte schon Mitte des Jahrhunderts der überwiegende Teil des Landes unter extremer Trockenheit leiden.[6]

Besonders gefährdet sind auch die ausgedehnten und teils stark urbanisierten Küstenregionen an Atlantik und Mittelmeer: Ein Viertel der Küsten hat bereits mit Erosion zu kämpfen, aber nur 20 Prozent sind gegen Erosion und Überflutung geschützt, oft fehlen den zuständigen Kommunen die finanziellen Mittel. Mancherorts bleibt den Menschen schon jetzt nur der Rückzug.[7]

Umso mehr wäre konsequentes Handeln gefragt – das die Regierung aber weitgehend schuldig bleibt. Mit dem CESE befand jüngst ein wichtiges staatliches Beratungsgremium, Frankreich müsse die jährlichen Emissionen drei Mal so schnell senken wie bisher, wolle es bis 2030 den CO2-Ausstoß wie geplant um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren.[8] Und in einem spektakulären Urteil entschied ein Pariser Gericht Anfang Februar – nach einer Klage von NGOs, die von 2,3 Millionen Bürgern unterstützt wurde –, die bisherigen Schritte zur Emissionsminderung seien unzureichend. Jetzt prüft es, zu welchen konkreten Maßnahmen es die Regierung verpflichten kann.

Immerhin hat diese nun ein Gesetz in die Nationalversammlung eingebracht, das unter anderem den Straftatbestand des „Ökozids“ für bewusste schwere Umweltverschmutzungen einführt. Macron will zudem symbolpolitisch punkten und dem Klimaschutz per Referendum Verfassungsrang verleihen. Schließlich lassen sich mit dieser Zukunftsfrage schlechthin inzwischen auch Wahlen gewinnen, wie der rapide Aufstieg der Grünen seit den Europawahlen 2019 zeigt: Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr konnten sie gemeinsam mit anderen linken Parteien die Rathäuser zahlreicher Großstädte erobern, die traditionell als Sprungbretter für die nationale Politik gelten. Klimaschutz dürfte im kommenden Wahlkampf somit das sein, was für Macron 2017 Europa war: eine Chiffre für Progressivität. Das heißt angesichts der durchwachsenen Regierungsbilanz aber auch: Progressiv sind jetzt andere.

Ausgleich oder Attacke?

Seinen progressiven Nimbus büßt Macron auch mit Blick auf den Islamismus zunehmend ein. Hier muss er widersprüchlichen Erwartungen gerecht werden: der realen Gefahr weiterer Attentate entgegenzuwirken, ohne dabei illiberal zu werden. Im vergangenen Oktober bemühte sich Macron mit einer breit rezipierten Rede über Säkularismus und Fundamentalismus noch um Ausgleich. Sein Plädoyer für einen französischen Islam hatte eine dreifache Stoßrichtung: Der Mehrheitsgesellschaft signalisierte er, dass der Islam zu Frankreich gehört, der türkischen Regierung bedeutete er, dass die Finanzierung fundamentalistischer Strömungen unerwünscht ist, und die muslimischen Mitbürger forderte er auf, die laizistische Tradition des Landes anzunehmen – auch um den Preis von als verletzend empfundenen Mohammedkarikaturen.[9] Kurzzeitig schien sogar eine Diskussion um die Frage möglich, ob der strikte Säkularismus, der 1905 gegen die damals mächtige katholische Kirche erkämpft wurde, heute die beste Leitschnur im Umgang mit den Religionen marginalisierter Minderheiten ist.[10]

Doch seit dem brutalen islamistischen Mord an Samuel Paty am 16. Oktober und dem terroristischen Angriff auf Betende in einer Kirche in Nizza ist es damit vorbei. Seither bestimmen andere Töne die Debatte: Ein konservativer Spitzenpolitiker erklärte sofort nach den Morden, es brauche „keine Tränen, sondern Waffen“; Le Pen verlangte die Ausrufung des Kriegsrechtes und gab damit einen Vorgeschmack darauf, wie sie zu regieren gedenkt. Aber auch Macron verkündete kaum weniger martialisch: „Die Angst wird das Lager wechseln.“[11]

Jenseits dieser Rhetorik offenbart sich ein Dilemma: Die grausame Realität von über 250 Attentatsopfern in einem knappen Jahrzehnt verlangt in der Tat eine entschlossene Antwort, doch nach den Terroranschlägen von 2015 hat der Staat sein Arsenal bereits beträchtlich erweitert: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit stellte Macron einige Maßnahmen auf Dauer, die sein sozialistischer Vorgänger François Hollande im Rahmen eines Ausnahmezustandes verhängt hatte. Seit Jahren patrouillieren Soldaten in Kampfmontur und mit Sturmgewehren durch die Straßen französischer Städte.

Macrons Antwort auf dieses Dilemma ist ein schon in seiner Rede angekündigtes Gesetz gegen den „Separatismus“. Dieses enthält grundsätzlich sinnvolle Maßnahmen wie die Einschränkung des Heimunterrichts, die auf eine stärkere Vermittlung demokratischer Werte zielen. Es erleichtert es der Regierung aber auch, fundamentalistische – oder schlicht politisch missliebige – Organisationen aufzulösen.

Zudem verquickte die Regierung die Terrorbekämpfung unnötigerweise mit einer Debatte um Identitätspolitik. So ordnete Bildungsministerin Frédérique Vidal eine Untersuchung zum Einfluss des sogenannten Islamo-gauchisme an den Universitäten an. Dieser vage Begriff wurde ursprünglich für bestimmte vehement anti-westliche Linksradikale geprägt, diente dann aber vor allem der Rechten zur Stigmatisierung von linkem Antirassismus und wird von Vidal nun gegen neuere postkoloniale und kritische Theorien amerikanischer Provenienz mobilisiert. International anerkannte Forschungsansätze werden so regierungsamtlich in Verruf gebracht. Das ist auch der Versuch, sich gegen die Rassismuskritik insbesondere von jüngeren Franzosen und People of Color zu immunisieren.

Zwar kritisieren auch bekannte Linke, dass manche ihrer Genossen im Kampf gegen den wachsenden anti-muslimischen Rassismus demokratische und säkulare Werte zu opfern bereit sind.[12] Doch lässt sich mit einem unpräzisen Schlagwort wie Islamo-gauchisme schwerlich eine seriöse Debatte führen. Dafür eignet es sich vortrefflich für den Wahlkampf, wie die Ministerin für Staatsbürgerschaft, Marlène Schiappa, jüngst demonstrierte, als sie mit diesem Etikett die Grünen belegte – die zunehmend als der Hauptgegner Macrons erscheinen.

Solche Attacken offenbaren aber auch die taktische Seite von Macrons verändertem politischen Auftreten. Denn ganz offensichtlich zielt eine solche Rhetorik darauf, dem Präsidenten weitere Wählermilieus zu erschließen – die der konservativen Les Républicaines. Deren Führung hatte 2017 einen scharfen Rechtsschwenk eingeleitet und damit ihre liberalen Anhänger scharenweise in die Arme Macrons getrieben: Bei der Europawahl 2019 stürzte die Partei auf 8,5 Prozent ab. Seither bemüht sich Macron, noch weiter in ihre Anhängerschaft vorzudringen und umwirbt daher auch ihren rechten Flügel. Sollte ihm dies gelingen, würde nach den immer noch schwächelnden Sozialisten die zweite Volkspartei zugunsten des Präsidenten schrumpfen – während Macrons eigene Partei La République En Marche im Land nach wie vor kaum verankert ist. Für die Stabilität der französischen Demokratie wäre das fatal.

Umso mehr ist es an der Linken, ein erneutes Duell Macron gegen Le Pen zu verhindern. Denn eine gemeinsame Kandidatur von Grünen, Sozialisten und weiteren kleinen Parteien hätte das Potential, die Rechtsradikale von der Stichwahl fernzuhalten; schon 25 Prozent könnten für den Einzug in die zweite Runde reichen. Erste Gespräche dazu laufen, der Ausgang ist offen.

Sollten die Parteispitzen sich nicht zu einer Einigung durchringen können, so bleibt nur darauf zu hoffen, dass die linken Wählerinnen und Wähler Klugheit beweisen – und im Stechen auch einem konservativ gewendeten Macron nochmals ihre Stimme geben.

[1] Charlotte Belaïch und Rachid Laïreche, Macron-Le Pen: le barrage mal barré, in: „Libération“, 27.2.2021.

[2] Céline Mouzon, La mauvaise santé de l’hôpital diagnostiquée en 6 graphiques, www.alternatives-economiques.fr, 16.6.2020.

[3] Serge Raffy, En 2022, tous souverainistes?, www.nouvelobs.com, 9.2.2021.

[4] Oxfam France, Le virus des inégalités, www.oxfamfrance.org, 25.1.2021.

[5] Amanda Morrow, Overheating France will have a ‚new climate’ by end of the century, www.rfi.fr/en, 2.2.2021.

[6] Antoine de Ravignan, Sécheresse: quand l’anormal devient la norme, www.alternatives-economiques.fr, 15.9.2020.

[7] Alison Hird, Climate change weakens fragile French coastline, www.rfi.fr/en, 17.7.2019.

[8] Michel Badré und Claire Bordenave, Climat, neutralité carbone et justice sociale, Paris 2021.

[9] Discours du Président de la République sur le thème de la lutte contre les séparatismes, www.elysee.fr, 2.10.2020.

[10] Vgl. etwa Jean-Louis Schlegel, Les cinq piliers de la laïcité, in: „Esprit“, 11/2020.

[11] Olivier Faye und Julie Carriat, Après l’attentat de Conflans, Emmanuel Macron promet que „la peur va changer de camp“, www.lemonde.fr, 19.10.2020.

[12]   Didier Daeninckx, „Qui aurait pu imaginer que la gauche se déchirerait à propos d’un délit imaginaire forgé par des assassins?“, www.lemonde.fr, 28.10.2020; Raphaël Glucksmann, „L’intégrisme islamiste a bénéficié d’une myriade d’aveuglements volontaires“. www.lemonde.fr, 28.10.2020.

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