
Bild: Franziska Giffey, Olaf Scholz und Manuela Schwesig im Willy-Brandt-Haus in Berlin, 27.09.2021 (IMAGO / photothek)
Bundestagswahlen von historischer Dimension hat es in der Geschichte der Republik immer wieder gegeben. Wohl keine hat diesen Namen allerdings so wie die jüngste aus gleich vier Gründen verdient: Erstens steht der Wahlausgang für die noch vor Kurzem für schier unmöglich gehaltene Wiederauferstehung der SPD. Oder genauer gesagt: für ihre Wiedererweckung – und zwar von fremder Hand. Denn zweitens steht diese Wahl für das Verspielen einer bisher einzigartigen Macht- und Gestaltungschance der Grünen und drittens, einschneidender noch, für den Absturz der CDU/CSU als der letzten intakten Volkspartei und damit für das Ende der schwarzen Merkel-Republik, in der sich alles um die Union als das Zentrum der Macht drehte.[1] Damit aber – viertens schließlich – steht diese Wahl für die Notwendigkeit fundamental neuer, weit komplexerer politischer Konstellationen und folglich für das definitive Ende der Statik der alten Bundesrepublik.
Diese Wahl kennt einen Gewinner, die deutsche Sozialdemokratie. Das Bild dieses Wahlausgangs ist das eines Olaf Scholz in der Mitte, umringt von den beiden Landtagswahlsiegerinnen Franziska Giffey und Manuela Schwesig, Letztere als die starke Führungsreserve der Partei. Um sich die ganze Dimension dieses Dreifachtriumphes deutlich zu machen, lohnt es sich daran zu erinnern, wo diese SPD zuletzt herkam. Sachsen 7,7 Prozent, Sachsen-Anhalt 8,4, Bayern 9,7, Baden-Württemberg 11,0: Die SPD war zu einer nordwestdeutschen Regionalpartei geschrumpft. Nun ist sie wie Phönix aus der Asche emporgestiegen. Der sagenhafte Aufstieg geschah jedoch nicht aus eigener Kraft, sondern aufgrund des historischen Versagens ihrer Gegner. Mehr als jede andere Wahl zuvor wurde diese nicht durch den Sieger, sondern durch die Verlierer entschieden. Nicht die Stärke der SPD, sondern die Schwäche von Grünen und CDU/CSU hat die deutsche Sozialdemokratie aus ihrer Agonie befreit. Das zeigt schon der Vergleich mit der Lage von vor exakt einem Jahr. Obwohl Olaf Scholz zu diesem Zeitpunkt längst als Kanzlerkandidat nominiert war, rangierte seine Partei damals in den Umfragen bleischwer bei nur 17 Prozent und damit 20 Prozent hinter der Union und auch klar hinter den Grünen.[2]
Die Zeichen der Zeit standen damals auf Schwarz-Grün. Nur durch gewaltige Fehler von Schwarzen und Grünen konnte die Rechnung von Scholz am Ende aufgehen. Er und seine Strategen hatten von Anfang an darauf spekuliert, dass das durch den Abgang Angela Merkels erzeugte Vakuum am stärksten durch den Finanzminister gefüllt werden würde. Denn durch die 16jährige Dominanz der Kanzlerin war diese Wahl, zusätzlich medial verstärkt, ganz auf die Person an der Spitze fokussiert. Erstmals in der Geschichte der Republik war die Kandidatenpräferenz eindeutig wichtiger als die Parteipräferenz.
Erstes Opfer dieser Entwicklung sind die Grünen. Zwar hat die Partei ihr bisher bestes Ergebnis auf Bundesebene erzielt und die 10,7 Prozentpunkte von 2009 klar übertroffen. Doch gemessen an dem, was möglich war, ist der Wahlausgang eine herbe Enttäuschung. Die Grünen hatten zwei zentrale Ziele: erstens über 20 Prozent der Stimmen zu erzielen und damit zweitens die SPD als hegemoniale Kraft der linken Mitte abzulösen, wenn nicht gar die Kanzlerin zu stellen. Im Ergebnis haben sie beide Ziele klar verfehlt. Damit haben sie eine historische Chance verspielt, nämlich eine konsequente Klimapolitik durchzusetzen, der nun in einer Dreierkonstellation massive Widerstände entgegenstehen werden.
Die Grünen sind ob der Personalisierung an zweierlei gescheitert: an ihrer eigenen Spitzenkandidatin, genauer an deren aufgehübschtem Lebenslauf und dem teils abgeschriebenen Buch, und damit einhergehend an dem allein von ihnen erhobenen Anspruch auf ökologische Erneuerung. „Bereit, weil ihr es seid“, lautete der zentrale grüne Wahlkampfslogan. Die große Mehrheit der Bevölkerung war jedoch nach Baerbocks Pannen für eine radikale Erneuerung durch eine völlig regierungsunerfahrene Kandidatin im Kanzleramt nicht mehr bereit.
Dabei spielten die Ereignisse des Sommers den Grünen eigentlich in die Hände. Die Flutkatastrophe wie auch die verheerenden Brände in weiten Teilen Europas und der USA hätten die Partei normalerweise in neue Höhen katapultieren müssen – zumal Klimapolitik als Wahlkampfthema bei den Umfragen stets ganz oben rangierte. Doch am Ende wurde es ob der enormen auch medialen Kandidatinnenfixierung eben nicht die von den Inhalten her durchaus mögliche „Klimawahl, die wir uns erhofft haben“, so ein sichtlich frustrierter Christoph Bautz, Co-Chef von „Campact“.[3]
Die Selbstzerstörung der Union
Noch weit dramatischer ist allerdings der Absturz der CDU/CSU. Ihr Kandidat Armin Laschet hat das schlechteste Unions-Ergebnis in der Geschichte der Republik eingefahren – schlechter noch als im Gründungsjahr 1949, als Konrad Adenauer gegen einen charismatischen SPD-Führer Kurt Schumacher und zehn andere Parteien im späteren ersten Parlament mit immerhin 31 Prozent das Rennen machte. Aber schlimmer noch für die Union: Mit ihrem Ergebnis klar unter 30 Prozent ist jetzt die für jede Volkspartei entscheidende Schallmauer durchbrochen. Denn erst über dieser Marke werden klassische Koalitionen mit einer kleineren Partei, jenseits der auch immer kleiner werdenden großen Koalition, überhaupt wieder möglich.
Der Grund für diesen beispiellosen Absturz: Die Machtmaschine Union hat durch die Auseinandersetzung zwischen Markus Söder und Laschet ihren Machtinstinkt völlig verloren. Im Gegensatz zu 2002: Damals musste die CDU-Vorsitzende Merkel eiligst zum Frühstück nach Wolfratshausen pilgern, um Edmund Stoiber höchstpersönlich die Kanzlerkandidatur anzutragen, bevor ihr die halbjungen Wilden um Roland Koch die Entscheidung zugunsten des erfolgsversprechenderen CSU-Chefs aus der Hand genommen hätten. Ganz anders nun bei Merkels Abgang. Es war die Hybris eines Teils der CDU-Führung, an der Spitze Wolfgang Schäuble, zu glauben, man habe den Sieg als Union ohnehin in der Tasche und könne es sich daher leisten, auf einen Volkstribun wie Söder zu verzichten, obwohl dessen Zustimmungswerte bis heute klar über denen von Scholz rangieren. Die Schwäche der SPD, so die Ironie der Geschichte, verleitete die CDU-Spitze zu dem Trugschluss, die Union werde ohnehin gewählt, ganz egal, welches Gesicht am Ende auf den Plakaten prangt.
Diese Arroganz der Macht, die Siegessicherheit der CDU, hat sich bitter gerächt. Oder genauer: Sie wurde bitter gerächt. Und zwar von niemand anderem als dem unterlegenen CSU-Chef. Die CDU musste die Erfahrung machen, dass wer einen geschlagenen Markus Söder in den eigenen Reihen hat, keine Feinde mehr braucht. Kein Tag bis kurz vor der Wahl, an dem der Franke nicht deutlich gemacht hätte, dass Laschet nur ein Kandidat zweiter Wahl war. Der ganze „Wahlkampf“ wurde so zu einem Prozess fortgesetzter Selbstzerstörung, für den die Union nicht einmal einen Rezo brauchte.
Laschets Lachen als Kipppunkt der Kandidatur
Was Laschets Kandidatur jedoch am meisten schadete, war zweifellos dessen fatales Auftreten in der Flutkatastrophe. Was eigentlich zur Bewährungsprobe als Krisenmanager in der Tradition Helmut Schmidts und Gerhard Schröders hätte werden können, wurde zum Kipppunkt seiner Kampagne.
Mit seinem fatalen Lachausbruch wurde der joviale Laschet endgültig zum Mann ohne Eigenschaften und ohne Krisenkompetenz, dem nun der geballte Zorn großer Teile der Bevölkerung entgegenschlug. Somit dürfte ein einziges Lachen am falschen Ort diese Wahl maßgeblich entschieden haben, auch das ein historisch einzigartiger Vorgang. Im Ergebnis wurde Laschets Kandidatur zum größten machtpolitischen Experiment in der Geschichte der „Keine-Experimente“-Union. Ihm ist das Normale nicht gelungen, nämlich das von Angela Merkel für die CDU als Partei akkumulierte Vertrauen auf sich selbst als den natürlichen Nachfolger, im Parteivorsitz wie als Kanzlerkandidat, zu übertragen. Im Gegenteil: Das Merkel eingeräumte Vertrauen, ihre Kompetenz und Autorität gingen schon während der Coronapandemie auf Söder über. Und als dieser als Konkurrent ausschied, trat nicht Laschet an seine Stelle, sondern Olaf Scholz. Am Ende agierte Scholz merkeliger als Laschet.
Was zuvor nur der SPD gelungen war, hat die Union jetzt im Eiltempo nachgeholt, ihre eigene Selbstverzwergung. Dieser Absturz steht für den Niedergang der wohl wichtigsten verbliebenen Volkspartei in Europa – und für die Notwendigkeit eines völlig neuartigen Regierens. Wenn es nicht ein weiteres Mal zu einer Wiederauflage der großen Koalition kommt, wofür mangels Neigung auf beiden Seiten wenig spricht, dann muss es nun zum ersten Mal in der Geschichte der Republik eine Dreierkoalition richten.
Vor der ersten Dreierkoalition
Noch ist die Entscheidung in dieser Hinsicht nicht gefallen. Doch aufgrund des historischen Absturzes der Union bei gleichzeitigen starken Zugewinnen von SPD, Grünen und, wenn auch geringfügig, der FDP spricht alles dafür, dass es zu einer Ampel-Koalition kommen wird. Allerdings gibt es große Unverträglichkeiten zwischen SPD, Grünen und FDP, insbesondere in der Innenpolitik. Wie es hier zu einem Kompromiss zwischen der rot-grünen Forderung nach einem Mindestlohn von zwölf Euro, höheren Steuern sowie neuen Schulden und der Ablehnung all dessen durch die FDP kommen soll, ist momentan noch nicht absehbar. Und dennoch gab es speziell bei Olaf Scholz von Beginn an eine Präferenz für diese Koalition. Schließlich spiegelt der Erfolg seines Wahlkampfs keineswegs den Willen der Bevölkerung zu einer grundlegenden Veränderung oder gar zu einer radikalen Zäsur, sondern weit eher zu einer bloß partiellen Korrektur des gepflegten Weiter-So in der Merkel-Tradition.
Hier aber zeigt sich das ganze Dilemma dieses Wahlausgangs: Was heute erforderlich ist, ist ein radikaler Wandel in sozial-ökologischer Hinsicht. Andernfalls werden die klimapolitisch entscheidenden Jahre bis zur Mitte dieses Jahrzehnts ereignislos verrinnen. Was dieses Land daher braucht, ist eine starke, konsistent agierende Koalition, die gegenüber einer immer renitenter werdenden „Zivilgesellschaft“ überhaupt durchsetzungsfähig ist. Davon aber sind die drei ziemlich disparaten Parteien einer künftigen Ampelkoalition weit entfernt.
Wir befinden uns in einer für diese Republik gänzlich neuartigen Situation: Ein angesichts einer Kanzlerpartei mit knapp 26 Prozent denkbar schwacher Regierungschef muss in einer Dreierkonstellation gegen massive Fliehkräfte agieren. Die Konsequenz: Die Akteure der zweiten Reihe, insbesondere die beiden zukünftigen Vizekanzler, werden an Bedeutung gewinnen. Im besten Fall werden sich die beiden kleineren Parteien, Grüne und FDP, produktiv ergänzen; im schlechtesten Fall, und vieles spricht eher dafür, werden sie sich mit ihren konträren Positionen neutralisieren. Was damit droht, ist inhaltliche Unregierbarkeit – und das angesichts maximaler Probleme und kommender Krisen- und Katastrophenjahre. So drohen am Ende wir alle zu Verlierern dieser Wahl zu werden.
Eine Minderheitsregierung als Alternative
Angesichts dieser immensen Herausforderungen fällt der Blick zwingend auf ein in anderen Ländern längst hinreichend erprobtes Instrumentarium, nämlich die Minderheitsregierung. Ihr Nukleus wäre eine rot-grüne Koalition unter einem Kanzler Olaf Scholz, der sich seine jeweiligen Mehrheiten mal auf der linken, mal auf der rechten Seite des Parteienspektrums organisieren müsste. Das würde für eine enorme Politisierung und zugleich Sachorientierung der Debatte sorgen.
Vor allem aber würde es einen leidenschaftlichen, führungs- und überzeugungsstarken Kanzler voraussetzen, wie es ihn in der Vor-Merkel-Republik durchaus immer wieder gegeben hat. Doch so sehr sich Olaf Scholz auch bemühen wird – ein Helmut Schmidt oder gar Willy Brandt dürfte aus ihm kaum werden. Tatsächlich kommt Scholz weit mehr nach seiner Vorgängerin. Insofern spricht wenig dafür, dass er sich tatsächlich trauen wird, das politische Experiment einer Minderheitsregierung tatsächlich zu wagen.
Eines allerdings steht heute bereits fest: Die zentrale Devise des SPD-Wahlkampfs „Auf den Kanzler kommt es an“ wird nach diesem Wahlausgang nicht weniger wichtig sein als davor. Die kommenden schwierigen Koalitionsverhandlungen werden einen Vorschein davon geben, was wir von den nächsten vier Jahren unter Olaf Scholz zu erwarten haben – und ob es vor allem klimapolitisch verlorene oder vielleicht doch noch gewonnene, nämlich sinnvoll genutzte Jahre werden, allen Schwierigkeiten zum Trotz.
Im Lichte des konkreten Wahlausgangs wurde für die Online-Version der Heftbeitrag geringfügig aktualisiert. – D. Red.
[1] Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, München 2015.
[2] Siehe etwa exemplarisch die Umfragewerte des Allensbach-Instituts zur Sonntagsfrage, www.ifd-allensbach.de.
[3] Vgl. „Der Spiegel“, 18.9.2021.