
Bild: Demo in Washington DC gegen das Regime im Iran, 17.12.2022 (IMAGO / NurPhoto / Allison Bailey)
Ein halbes Jahr ist vergangen, seit die 22jährige Kurdin Jina Mahsa Amini im Iran von der Sittenpolizei verhaftet wurde und Tage später im Koma ihren Verletzungen erlag. Misshandelt und getötet im Polizeigewahrsam. Warum sie sterben musste? Weil „zu viel Haar“ unter ihrem Kopftuch sichtbar war. Die Sichtbarkeit der Frauen ist nicht nur eine Bedrohung für die sogenannte Sittenpolizei. Vielmehr noch ist sie eine Bedrohung für den gesamten Machtapparat: für das System der Islamischen Republik, dessen Grundpfeiler die Menschen im Iran, allen voran die Frauen, seit dem Tod der jungen Kurdin zum Erschüttern gebracht haben. Hierzulande mag in der Medienberichterstattung zuweilen der Eindruck entstehen, die Proteste seien abgeebbt. Doch das ist mitnichten der Fall. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Ein halbes Jahr ist vergangen, seit die Menschen im Iran begonnen haben, mutig und entschlossen auf die Straßen zu gehen, landesweit und vereint wie selten zuvor. Gegen ein theokratisches System, gegen die systematische Unterdrückung von Frauen, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Kurzum: Für einen Regime Change.
Der Iran hat in den vergangenen Jahrzehnten viele, auch große Protestbewegungen erlebt – zuletzt 2009, 2017/18 und im November 2019 –, aber noch nie zuvor in dieser Dimension, Intensität und Länge, trotz massiver Repressionen. Besonders hervorzuheben ist derzeit die Geschlossenheit über alle Gesellschaftsschichten und ethnische Gruppen hinweg. Insbesondere Frauen, Studierende, generell die junge Generation sowie ethnische und marginalisierte Gruppen sind als größte Leidtragende der Regimepolitik der letzten Jahrzehnte die treibenden Kräfte. Der iranischen Human Rights Activists News Agency (HRANA) zufolge erstrecken sich die Proteste bislang auf 164 Städte und 144 Universitäten.
Das Regime antwortet mit brutaler Gewalt: 525 Demonstrierende wurden laut Menschenrechtsorganisationen von Revolutionsgarden und Sicherheitskräften getötet, davon über 70 Kinder. Etwa 20 000 Demonstrierende sitzen in den Gefängnissen, wo sie physischer und psychischer Folter ausgesetzt sind, darunter Vergewaltigungen, die sich vor allem gegen Mädchen und Frauen richten, aber auch gegen junge Männer. Vier junge Menschen wurden bislang in Schau- und Schnellprozessen ohne faire Rechtsprechung oder Zugang zu Anwälten, ohne Beweise, nur aufgrund von unter Folter erzwungenen Geständnissen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Weiteren hundert Inhaftierten droht die Todesstrafe.
Dass diese Proteste, die inzwischen durchaus so etwas wie einen revolutionären Prozess angestoßen haben, auch von der Machtelite und den Revolutionsgarden als ernstzunehmende, existenzielle Bedrohung wahrgenommen werden, verdeutlichte Ende November 2022 ein geleaktes Audiofile der Hacktivist-Gruppe „Black Reward“. Aus dem Gespräch eines ranghohen Revolutionsgardisten mit regimenahen Medienvertretern gehen drei Schlüsselelemente hervor: Erstens hat die von den Demonstrierenden gezielt eingesetzte Dezentralität der Proteste innerhalb einer Stadt und die hohe Anzahl gleichzeitiger Proteste in vielen Teilen des Landes zu Ermüdungs- und Erschöpfungserscheinungen bei den Sicherheitskräften geführt. Diese haben zweitens Sorge vor den zahlreichen landesweiten Streiks. Und ein dritter, nicht unbeachtlicher Punkt: Sie gestehen ein, auf der Ebene des Medienkriegs versagt zu haben.
Der Islamischen Republik ist sehr daran gelegen, durch Zensur, Desinformation und Kontrolle der staatlichen Medien ihre Propaganda zu streuen, auch in den Westen. Den Demonstrierenden im Iran – die unbewaffnet hochmilitarisierten Einsatzkräften gegenüberstehen, die nicht davor zurückschrecken, auf friedlich Protestierende und selbst auf Kinder zu schießen – bleibt demnach nur eine Waffe: ihre Handys. Sie riskieren ihr Leben nicht nur, wenn sie aktiv auf der Straße protestieren, sondern auch, wenn sie dokumentieren und filmen, mit welcher Brutalität die Revolutionsgarden und Basidjis gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Trotz Internetsperrungen und Blockaden ist es den Machthabern nicht gelungen, diesen medialen Prozess aufzuhalten. In bemerkenswerter Taktung und Fülle erreichen uns Bilder und Videos der Proteste und Festnahmen. Die Menschen im Iran riskieren ihr Leben, damit wir im Westen diese Bilder sehen. Es ist für sie überlebenswichtig, dass die Weltöffentlichkeit weiter hinsieht und dass die Berichterstattung nicht abbricht.
So erreichen uns auch Videos wie das einer jungen Mutter, die aus dem Auto aufnimmt, wie Sicherheitskräfte auf Demonstrierende schießen – und dabei in der nächsten Sekunde ihren eigenen Tod filmt. Erschossen vor den Augen ihres siebenjährigen Kindes.
Den Kampf um die Hoheit im Medienkrieg, wie die Revolutionsgarden es nennen, sollten wir im Westen immer im Hinterkopf behalten, wenn wir Meldungen von staatlichen iranischen Nachrichtenagenturen erhalten. Es ist wichtig, dass westliche Journalist:innen diese nicht eins zu eins übernehmen. Vielmehr müssen sie relativiert und in den Kontext gestellt werden, nur so vermeiden wir, in Propagandafallen zu tappen.
Die Opposition formiert sich
Das gilt auch für den hierzulande zuweilen erweckten Eindruck, die Proteste seien abgeebbt. Denn dieser Eindruck täuscht. In den kurdischen Gebieten und Belutschistan wird nach wie vor demonstriert. In anderen Teilen des Landes hat sich der Protest einstweilen von der Straße weg verlagert, schließlich ist es nicht möglich, über so einen langen Zeitraum hinweg einen Sprint hinzulegen. Die Bewegung bereitet sich vielmehr auf einen Marathon vor: Sie formiert sich im Untergrund. Sie findet Einzug in den Alltag in Form von zivilem Ungehorsam. So gehören Frauen mit offenen Haaren inzwischen vielerorts zum Stadtbild – trotz des erheblichen Risikos einer Verhaftung.
Auch zum Jahrestag der Islamischen Republik am 11. Februar konnte die Regierung in diesem Jahr nur wenige Tausend Menschen für die üblichen Paraden (zwangs)mobilisieren. Hingegen gingen am 16. Februar in vielen Städten wieder Tausende Menschen auf die Straße, um den 40. Tag nach der Hinrichtung der Demonstranten Mohammad Mehdi Karami und Seyed Mohammad Hosseini mit Protesten zu begehen. Der revolutionäre Prozess ist weiterhin im Gange und formiert sich für die nächste Phase. Es wirkt wie die Ruhe vor dem Sturm.
Unterdessen sortiert sich die Opposition neu. Ein unerwartetes Forum bot dafür die jüngste Münchner Sicherheitskonferenz. Sie hatte ein klares Zeichen gesetzt und erstmals keine Vertreter der Islamischen Republik eingeladen. Stattdessen diskutierten dort Vertreter:innen der Opposition. Dazu gehörten die Aktivistin Masih Alinejad, der frühere Kronprinz und Sohn des letzten iranischen Schahs, Reza Pahlavi, sowie die Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Nazanin Boniadi. Sie alle sind Teil einer jüngst gegründeten Exil-Koalition rund um acht prominente Iraner:innen im Ausland, darunter die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Sie wollen sowohl die gespaltene Exil-Opposition vereinen als auch das Sprachrohr für die Aktivist:innen im Land sein und sie als Ansprechpartner im Ausland vertreten. Gemeinsam mit Aktivist:innen im Iran arbeiten sie an einem Manifest für einen Übergang zur Demokratie.
Die Reaktionen aus Teheran auf die veränderte Münchner Einladungspolitik blieben nicht aus. Der Sprecher des Außenministeriums diffamierte die Oppositionellen und bezeichnete es als Prestigeverlust der Sicherheitskonferenz, solch berüchtigten Figuren eine Tribüne zu geben. Man fordere, den Kurs im nächsten Jahr zu korrigieren.
Keine Kompromisse mit dem Regime
Die Forderung der Opposition in München lautete derweil: keine Verhandlungen mit dem Iran. Stärkere Sanktionen, die die Machthaber treffen, nicht die Bevölkerung, und die Aufnahme der Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste. Eine Forderung, die auch sehr viel Zustimmung im Iran selbst findet. Einer aktuellen Umfrage des renommierten niederländischen Forschungsinstituts Gamaan zufolge befürworten 70 Prozent der Iraner:innen die Einstufung der Revolutionsgarden als Terrororganisation und personenbezogene Sanktionen. Befragt wurden knapp 160 000 Menschen im Iran und etwa 40 000 Iraner:innen in der Diaspora.[1]
Für viele Iraner:innen, die seit Monaten ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie für demokratische Grundwerte, Freiheit und Demokratie eintreten, ist es nicht nachvollziehbar, warum westliche Demokratien dazu beitragen, das Regime zu stärken. Sie fordern keine Intervention des Westens. Dieser solle lediglich nichts tun, was dem Regime Auftrieb verleiht. Die mögliche Wiederaufnahme der Atomverhandlungen aber wäre eine solche Stärkung. Bei einem Regime, das vor nichts zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben, sei das unverantwortlich. Und dass die Machthaber vor nichts zurückschrecken, haben sie in den vergangenen Monaten ihrer eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit unmissverständlich gezeigt.
Die Menschen im Iran wollen keine Reformen und keine Kompromisse, die Verhandlungen jedoch stets beinhalten. Denn welche Kompromisse kann man eingehen mit Regierenden, die Schülerinnen entführen, vergewaltigen, totprügeln und hemmungslos erschießen, nur weil sie nach einem selbstbestimmten, freiheitlichen, demokratischen Leben streben?
Selbstverständlich ist die Sorge der westlichen Staaten vor einer atomar bewaffneten Islamischen Republik berechtigt. Die richtige Antwort darauf gab auf der Münchner Sicherheitskonferenz die grüne Europaabgeordnete Hannah Neumann: „Der beste Weg, die nukleare Bedrohung loszuwerden ist, das Regime loszuwerden.“ Und es scheint, als würde jetzt so langsam auch im Westen ankommen, dass es eine Alternative für den Iran geben könnte – und die Islamische Republik vielleicht doch gestürzt werden kann. Die Menschen im Iran fordern das seit dem ersten Tag der Proteste unmissverständlich. Sie haben keine Hoffnungen mehr in die Reformierbarkeit des Systems. Sie rufen nach Regime Change. Dennoch scheint zumindest im Westen bislang noch an möglichen Reformen festgehalten zu werden.
Es ist auch dem Einfluss der Lobbyisten der Islamischen Republik im Ausland geschuldet, dass sich im Westen gewisse Narrative so lange halten konnten. Dazu gehört etwa die verbreitete Warnung, wenn es im Iran zu einer Revolution komme, werde die gesamte Region instabil. Es werde zu einem Bürgerkrieg kommen, am Ende drohe ein zweites Syrien. Doch worauf basieren diese Annahmen? Die Region ist ohnehin alles andere als stabil – nicht zuletzt aufgrund der Interventionen der Islamischen Republik und ihrer Revolutionsgarde mit Unterstützung der Hisbollah. Der Libanon, Irak und Syrien können ein Lied davon singen.
Der Bruch ist vollzogen
Als vermeintliche Iran-Expert:innen, Journalist:innen, Wirtschaftsfachleute und Berater:innen haben sich Lobbyist:innen der Islamischen Republik, etwa der National Iranian American Council, in den vergangenen zehn Jahren ihre Tribünen in der westlichen Medien- und Politiklandschaft geschaffen. Dabei haben sie unbemerkt Talking Points der Islamischen Republik gestreut und keine Gelegenheit ausgelassen, in Interviews das System zu verharmlosen. Da wirkte Iran beinahe wie eine tatsächliche Republik mit demokratischen Elementen und gewählten Instanzen. Selbstverständlich äußern sich die Lobbyist:innen dabei auch kritisch, sonst würden sie in den westlichen Medien ja nicht gehört werden. Derzeit werden sie nicht müde, uns das Bürgerkriegsszenario als einzige Alternative zur Islamischen Republik auszumalen und die Bedeutung des Atomdeals hervorzuheben. Das soll den Menschen im Iran Angst machen und westliche Politiker:innen darin bestätigen, weiter mit dem Iran zu verhandeln und diplomatische Beziehungen zu pflegen.
Doch die Mehrheit der Iraner:innen hat den Bruch mit dem Regime bereits vollzogen. Auch das zeigt die erwähnte Gamaan-Studie aus dem Februar. So würden sich 80 Prozent der Befragten gegen die Islamische Republik aussprechen, sollte es heute ein Referendum geben, nur 15 Prozent bejahten das System. Ebenfalls 80 Prozent unterstützen die Proteste, auch wenn sie nicht alle selbst auf die Straße gehen, und 76 Prozent glauben, dass der revolutionäre Prozess erfolgreich sein wird – im Sinne eines Sturzes der Islamischen Republik.
Das Regime, argumentierte jüngst der Wirtschaftswissenschaftler Mohsen Renani, werde sich nicht mehr lange halten können, wenn der geistliche Revolutionsführer Ajatollah Chamenei keine Revolution von oben anstößt.[2] Renani benennt in seinem ursprünglich für Chamenei verfassten Text vier Stufen bis zu einem Systemwechsel. Drei dieser vier Stufen seien demnach schon erreicht: erstens das Scheitern der Regierung, Krisen in den Griff zu bekommen und Lösungen anzubieten, zweitens der Mangel an Glaubwürdigkeit und Verantwortungsübernahme. Dazu kommt drittens das Moment der Symbolik: Immer mehr Frauen verweigern den Hidschab als religiöses Symbol der Islamischen Republik, Sportler:innen boykottieren die Nationalhymne. Die Banner Chameneis werden ebenso niedergerissen und verbrannt wie die des Kommandeurs der Quds-Einheit Qasem Soleimani. Nun fehle nur noch die letzte Etappe, so Renani: der Fall der Struktur. Doch zeigen sich bereits erste Risse innerhalb der Machtstrukturen. Daran kann und sollte die westliche Staatengemeinschaft anknüpfen, wenn es um ihre nächsten Schritte geht.
Es ist also kein alleiniger Indikator, ob und in welcher Frequenz sich der Protest auf den Straßen zeigt. Viel wichtiger ist etwas anderes: In den Köpfen der breiten Bevölkerung ist das System bereits gestürzt.
[1] Vgl. Iranians’ Attitudes Toward the 2022 Nationwide Protests, www.gamaan.org, 4.2.2023.
[2] Vgl. www.renani.net, 16.2.2023.