
Bild: Die Proteste gegen die »Ley Bases« in Argentinien wurden brutal niedergeschlagen. Mit der Verabschiedung der Verabschiedung des Gesetzespakets steigt das Risiko für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung enorm. 12.6.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire)
„Uns erreichen großartige Nachrichten vom Alten Kontinent“, twitterte der argentinische Präsident Javier Milei begeistert am Tag nach den Europawahlen. „Die neuen Rechten haben einen Erdrutschsieg erzielt und all jene ausgebremst, die die Agenda 2030 vorantreiben.“ Diese Agenda für nachhaltige Entwicklung bezeichnete Milei als „unmenschlich“, ihre Fortsetzung würde zur „Auslöschung“ des Westens führen. Bereits am 19. Mai war der neue „Posterboy der libertären Rechten“[1] in Madrid auf einer Wahlkampfveranstaltung der rechtsextremen spanischen Partei Vox aufgetreten, gemeinsam mit Giorgia Meloni, Marine Le Pen und Viktor Orbán. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez warnte daraufhin vor einer „rechtsextremen Internationale“ und berief die spanische Botschafterin aus Argentinien ab. Milei hatte Sánchez zuvor als „Lügner“ und „Feigling“ und dessen Ehefrau als korrupt beschimpft.
Von alledem ließ sich Bundeskanzler Olaf Scholz offenbar nicht beirren: Auch nach diesen neuerlichen Entgleisungen hielt er an seinem geplanten Treffen mit Milei am 23. Juni in Berlin fest. Das Bundeskanzleramt kündigte sogar an, Scholz werde den argentinischen Präsidenten „mit militärischen Ehren empfangen“. Vier Tage vor dem Treffen wurde die militärische Ehrung samt Pressekonferenz kurzfristig doch noch abgesagt – aus terminlichen Gründen und auf Vorschlag von Milei, wie es offiziell von deutscher Seite hieß. Nicht abgesagt wurde das Gespräch über „bilaterale und wirtschaftspolitische Themen“.
Hauptgrund für die Avancen des Bundeskanzlers dürfte sein gesteigertes Interesse an einem EU-Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay sein. Scholz und Milei hatten bereits am 9. Januar – also kurz nach dessen Amtsantritt – ein Telefongespräch „über bilaterale und multilaterale Themen“ geführt, „auch über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten“, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit mitteilte. „Sie waren sich einig, dass die Verhandlungen über das Abkommen zügig abgeschlossen werden sollen.“ Diese Formulierung wiederholte das Bundeskanzleramt wortgleich auch am 23. Juni nach dem Gespräch zwischen Scholz und Milei in Berlin.
Seit langem warnen europäische und lateinamerikanische Menschenrechtsorganisationen vor dem geplanten Handelsabkommen, das sich für Menschenrechtsverletzungen, Klimakrise und Artensterben als veritabler Brandbeschleuniger erweisen könnte.[2] Es würde den Zugang europäischer Unternehmen zu Rohstoffen wie Eisenerz, Bauxit, Kupfer und Lithium absichern und vergünstigen, deren Abbau in ökologisch sensiblen Regionen immer wieder zu Umweltkatastrophen führt und Lebensgrundlagen lokaler Gemeinschaften zerstört. Es würde den südamerikanischen Export von Rindfleisch, Geflügel, Zuckerrohr, Bioethanol und Soja erleichtern. Deren expansive Produktion geht im Amazonas, der brasilianischen Feuchtsavanne Cerrado und den südamerikanischen Trockenwäldern des Chaco mit Brandrodungen einher und verletzt die Landrechte kleinbäuerlicher und indigener Gemeinschaften wie der Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul in Brasilien oder der Ayoreo in Paraguay.
Im Gegenzug würde es europäischen Automobilkonzernen erlauben, zollvergünstigt auch Autos mit Verbrennermotoren nach Südamerika zu exportieren, deren Verkauf in der EU ab 2035 aus Klimagründen größtenteils verboten wird. Die Zollsenkungen würden europäischen Chemiekonzernen auch den Export giftiger Pestizide nach Südamerika erleichtern, die zum Schutz von Umwelt und Gesundheit in der EU teilweise nicht zugelassen sind. Auf Sojamonokulturen werden diese häufig aus Flugzeugen versprüht, wobei Anwohner:innen, Tiere und die Umwelt den Giften schutzlos ausgeliefert sind. Misereor, das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das argentinische Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) und andere haben diesbezüglich im April 2024 gemeinsam eine Beschwerde gegen die Bayer AG bei der nationalen Kontaktstelle der OECD in Deutschland eingereicht.
Wie ein Rechtsgutachten im Auftrag von Misereor und Greenpeace zeigt, würde das Nachhaltigkeitskapitel im vorliegenden Text des Abkommens wohl keine dieser Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden verhindern.[3] Als einziges Kapitel unterliegt es nicht dem sanktionsbewehrten Streitschlichtungsmechanismus des Abkommens, sodass die Worte auf dem Papier nicht durchgesetzt werden müssen. Ohnehin erschöpfen sich die Nachhaltigkeitsbestimmungen weitgehend in vagen Bemühungsklauseln, die über bereits bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen der Vertragsstaaten nicht hinausgehen. Dabei hatte die Bundesregierung ihre Zustimmung zum Abkommen im Koalitionsvertrag noch von „rechtlich verbindlichen Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz“ abhängig gemacht.
Erhöhte Risikolage unter Javier Milei
Das Risiko negativer sozialer, menschenrechtlicher und ökologischer Auswirkungen des Handelsabkommens ist in Argentinien seit dem Amtsantritt von Milei indes erheblich gestiegen. Wie Milei im Wahlkampf mit der Kettensäge in der Hand angekündigt hatte, halbierte er kurzerhand die Anzahl der bis dahin 18 Ministerien, darunter das Umweltministerium, die Menschenrechtsabteilung im Justizministerium und zuletzt das Frauenministerium.[4] Mit seinem radikalen Sparkurs gelang Milei zwar eine Stabilisierung des Haushalts und eine Abschwächung der Inflation, zugleich aber brach die argentinische Wirtschaftsleistung, die 2023 bereits um 1,6 Prozent geschrumpft war, im ersten Quartal 2024 um sagenhafte 5,1 Prozent ein. Die Armutsrate stieg im ersten Trimester 2024 von 44,7 auf 55,5 Prozent gegenüber dem letzten Trimester 2023. Besonders hart treffen die Sparmaßnahmen die Ärmsten der Armen, die auf Volksküchen angewiesen sind, denen Milei die Finanzierung gestrichen hat. Laut UNICEF leben in Argentinien inzwischen 8,6 Millionen Kinder in Armut.
Das geplante Handelsabkommen würde Argentinien dazu verpflichten, Importzölle auf europäische Autos, Autoteile, Maschinen, Chemikalien und Textilien stufenweise zu beseitigen und Exportabgaben auf Gold, Silber, Kupfer, Lithium und Soja schrittweise abzuschaffen. Damit würde es weitere Löcher in den argentinischen Staatshaushalt reißen und den verheerenden Austeritätskurs verschärfen. Ebenso würde es die Deindustrialisierung und Rezession beschleunigen. In Argentinien war der Anteil der verarbeitenden Industrie bereits zwischen 1960 und 2021 von 40 auf 15 Prozent abgesackt, nicht zuletzt infolge der vom Internationalen Währungsfonds durchgesetzten Strukturanpassungen. Laut offizieller Folgenabschätzung der EU-Kommission würde das Handelsabkommen einen weiteren Rückgang der Produktion und Beschäftigung in der argentinischen Metall-, Automobil- und Maschinenbauindustrie mit sich bringen.[5] Eine Studie der Universidad Metropolitana in Buenos Aires im Auftrag der grünen Europaabgeordneten Anna Cavazzini prognostizierte in diesen Sektoren den Verlust von bis zu 186 000 Arbeitsplätzen. Damit würde zugleich die neokoloniale Arbeitsteilung vertieft, indem Europa hochwertige Industriegüter exportiert und die Mercosur-Staaten immer mehr auf die Rolle des Rohstofflieferanten reduziert werden.
Mit der Verabschiedung des Gesetzespakets „Ley Bases“ am 28. Juni im argentinischen Kongress steigt akut auch das Risiko, dass die vom Handelsabkommen begünstigte Expansion von Sojaanbau, Viehzucht und Bergbau zu Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung führt. Das Gesetzespaket gestattet Milei für ein Jahr, in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie mit Sondervollmachten zu regieren. Neben radikalen Renten- und Lohnkürzungen, Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen und der Privatisierung von Staatskonzernen sieht es eine umfassende Liberalisierung und Förderung von ausländischen Investitionen vor, insbesondere im Energie- und Agrarsektor.
Indigene ohne Schutz
Ein eigenes Rahmengesetz (RIGI) bietet ausländischen Großinvestoren mit einem geplanten Investitionsvolumen von mindestens 200 Mio. US-Dollar beispiellose Privilegien wie eine garantierte Rechtssicherheit über 30 Jahre, Steuerbefreiungen sowie freie Gewinn- und Kapitaltransfers. Der Abbau natürlicher Ressourcen wie Lithium soll demnach ohne Umweltfolgenabschätzungen möglich sein, die ansonsten weltweit Standard sind. Mit der Ley Bases wird es auch möglich sein, Menschen und Gemeinschaften, die auf staatlichen Ländereien leben und dort ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne Gerichtsbeschluss zu enteignen. Dies betrifft nicht zuletzt zahlreiche indigene Gemeinschaften, die nach der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation eigentlich einen besonderen Schutz genießen. Die Verabschiedung des Gesetzespakets im Senat wurde von massiven Protesten begleitet, welche die Polizei mit Gasgeschossen und Schlagstöcken gewaltsam niederschlug. Präsident Milei bezeichnete die Protestierenden anschließend als „Terroristen“ und bezichtigte sie, einen Staatsstreich geplant zu haben. Den über 30 festgenommenen Personen drohen drastische Strafen.
Umso bedenklicher ist es, dass die Bundesregierung vehement für eine Aufspaltung des Assoziierungsabkommens in einen Handelsteil und einen Kooperationsteil eintritt, womit das Handelsabkommen vorzeitig verabschiedet werden könnte. Dies bekräftigte Bundeskanzler Scholz direkt nach dem Besuch Mileis beim Tag der Deutschen Industrie. Durch sogenannte EU-only-Abkommen will er „jahrelange Verzögerungen durch Ratifizierungsprozesse in den Mitgliedstaaten verhindern“, sprich: den angekündigten Widerstand nationaler Parlamente in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Belgien aushebeln, die der Ratifizierung nicht zustimmen müssten. Auch das klare und wiederholte Nein von Emmanuel Macron könnte Scholz damit übergehen, weil im EU-Ministerrat statt Einstimmigkeit nur noch eine qualifizierte Mehrheit erforderlich wäre. Hinzu kommt: Im abgespaltenen Kooperationsteil ist auch die Menschenrechtsklausel verankert, die im Falle von Angriffen auf die Demokratie oder schweren Menschenrechtsverletzungen der Gegenseite – wie sie in Argentinien unter Milei eintreten könnten – eine Aussetzung des Handelsabkommens erlaubt. Der EU wären bis zur Ratifizierung des Kooperationsteils in einer solchen Situation die Hände gebunden.
Den vermeintlichen Sachzwang zum schnellen Abschluss von Handelsabkommen begründete Scholz beim Tag der Deutschen Industrie vor allem mit der geopolitischen Lage. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verlaufe „der tiefste geopolitische Bruch zwischen den Verteidigern der Charta der Vereinten Nationen und denen, die das Völkerrecht durch das Faustrecht ersetzen wollen“. Auch im Rahmen ihrer De-Risking-Strategie gegenüber China streben EU und Bundesregierung eine Diversifizierung von Lieferketten an, insbesondere mit Blick auf Rohstoffe, die für die Digitalisierung, Elektromobilität und erneuerbare Energien gebraucht werden.
Richtig ist: De-Risking, „Wertepartnerschaften“ und faire Kooperation mit Ländern des Globalen Südens sind wünschenswert und geboten. Dass das geplante EU-Mercosur-Abkommen dafür allerdings zweckdienlich ist, muss man bezweifeln. Erstens würde ein Abschluss mit Milei keinen „Wertepartner“ oder „Verteidiger der Charta der Vereinten Nationen“ stärken, sondern eine Galionsfigur der rechtsextremen Internationale. Zweitens kann von einer „fairen“ Partnerschaft „auf Augenhöhe“ keine Rede sein. Das Abkommen würde eben nicht zum Aufbau lokaler Wertschöpfungsketten in Südamerika beitragen, sondern zentrale industriepolitische Instrumente verbieten, die gerade auch zur sozial-ökologischen Transformation der südamerikanischen Wirtschaft benötigt werden. Und drittens stärkt der enge Fokus auf Rohstoffsicherung ebenjenen Extraktivismus, der unsere planetaren Grenzen sprengt. Leider hält auch der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck am Wachstumsfetischismus fest und stellt unsere „imperiale Lebensweise“[6] nicht ernsthaft infrage. Bisherige Ansätze einer Kreislaufwirtschaftsstrategie bleiben zu zaghaft, um den Rohstoffverbrauch zu senken und die Abhängigkeit von Autokraten in rohstoffreichen Staaten wirklich zu verringern.
Ob die Bundesregierung ihre aggressive Freihandelsagenda durchsetzen kann, bleibt abzuwarten. In den nächsten Monaten werden die Handelsgespräche zwischen der EU und dem Mercosur sicherlich Fahrt aufnehmen. Sollte der deutsche Plan aufgehen, nationale Parlamente handelspolitisch auszubooten und einen Abschluss zu ermöglichen, wäre der Schaden nicht nur für Menschenrechte, Umwelt und Klima groß, sondern auch für die Glaubwürdigkeit einer „wertegeleiteten“ Außenpolitik. Zu den Leidtragenden würden auch die europäischen Landwirt:innen gehören, die einev verschärfte Konkurrenz der südamerikanischen Fleischindustrie fürchten. Über das Abkommen dürfte sich damit nicht nur Milei freuen, sondern auch Marine Le Pen und andere europäische Rechtspopulist:innen, deren Polemik gegen die EU neue Nahrung erhielte.
[1] Vgl. Niklas Franzen und Ulli Jentsch, Isoliert und doch vernetzt: Die AfD, Lateinamerika und die globale Rechte, in: „Blätter“, 7/2024, S. 91.
[2] Armin Paasch und Madalena Ramos Görre, EU-Mercosur-Abkommen: Handelspolitik im Retroformat, in „Blätter“, 4/2023, S. 33-36.
[3] Rhea Tamara Hoffmann und Markus Krajewski, Rechtsgutachten und Vorschläge für eine mögliche Verbesserung oder Neuverhandlung des Entwurfs des EU-Mercosur-Assoziierungsabkommens, Misereor, Greenpeace und CIDSE (Hg.), 2021.
[4] Vgl. Lisa Pausch, Mileis Argentinien: Der antifeministische Backlash, in: „Blätter“, 5/2024, S. 33-37.
[5] Thomas Fritz, EU-Mercosur-Abkommen verhindert eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Südamerika, Brot für die Welt (Hg.), Berlin 2023.
[6] Vgl. Ulrich Brand und Markus Wissen, Unsere schöne imperiale Lebensweise. Wie das westliche Konsummodell den Planeten ruiniert, in: „Blätter“, 5/2017, S. 76-82.