
Bild: Eine Flüchtlingsunterkunft in Bochum. Bis Anfang 2025 wurde sie von der AWO betrieben, nun hat »European Homecare« die Einrichtung übernommen, ein Tochterunternehmen des britischen Serco-Konzerns, Foto vom 21.8.2024 (IMAGO / Sven Simon)
Flüchtlingsunterkünfte liegen oft abgelegen und werden von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschottet. Zivilgesellschaft, Parlamentariern und Presse wird der Zutritt von den Behörden oft verwehrt, Geflüchtete bleiben mit ihren Beschwerden über die Zustände in Sammelunterkünften allein. Umso mehr stechen folgende Vorgänge in Berlin heraus.
Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) kündigte 2024 die Verträge für drei Unterkünfte mit dem Unternehmen „ORS – Organisation for Refugee Services“ außerordentlich auf. Das LAF hatte „gravierende Mängel“ und „umfangreiche strukturelle Probleme“ in den Unterkünften festgestellt. Es gebe „keine Grundlage mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Unternehmen“. Was war passiert? Zu den genauen Umständen hält sich das LAF bis heute bedeckt.
Das ARD-Magazin „Monitor“ deckte unter anderem auf, dass ein junger Geflüchteter aus Guinea mehrere Wochen tot in seinem Zimmer lag, der Sozialdienst hatte wochenlang nicht nach ihm geschaut.[1] Auch bei Abrechnungen des Unternehmens könnte es Unregelmäßigkeiten gegeben haben. Der Fall ist über Berlin hinaus relevant, denn das Unternehmen gehört zur britischen Serco-Gruppe, die sich mit Billigangeboten bundesweit immer mehr Aufträge sichert. Das wirft Fragen auf: Warum interessiert sich ein Militärkonzern wie Serco überhaupt für deutsche Flüchtlingsunterkünfte? Wie sehen Geschäftsmodell und Strategie des Unternehmens aus? Und welche Konsequenzen hat die Auslagerung der Flüchtlingssozialarbeit an börsennotierte Unternehmen für Geflüchtete, Mitarbeiter und Steuerzahler?
Flüchtlingsunterkünfte: Privatisiert und kommerzialisiert
Dass private Unternehmen in allen möglichen Bereichen im Sozialstaat – etwa bei Krankenhäusern, Pflegeheimen oder ambulanten Diensten aktiv sind – überrascht niemanden mehr. Neu ist, wie stark der Trend inzwischen auch im sensiblen Bereich der Flüchtlingsunterbringung in Deutschland vorangeschritten ist. Denn anders als in weiten Teilen der Öffentlichkeit bisher angenommen, sind es nicht ausschließlich gemeinnützige Verbände wie etwa Malteser oder Johanniter, die sich um die Ausschreibungen für Management und Sozialarbeit in den Asylunterkünften bemühen. Der Anteil der privaten Unternehmen, die in den landeseigenen Sammelunterkünften aktiv sind, liegt inzwischen bei einem Drittel, wie eine Auswertung von „Monitor“, dem „ZDF Magazin Royale“, und der „Süddeutschen Zeitung“ zeigte.[2] Nur drei von 16 Bundesländern verzichten auf private Anbieter. Es geht um millionenschwere Aufträge, die gute Renditen versprechen.
Serco macht dabei besonders häufig das Rennen. Das Unternehmen ist mit seinen Tochterfirmen ORS und European Homecare hierzulande in insgesamt 130 Unterkünften aktiv. In Nordrhein-Westfalen etwa werden 19 von 57 landeseigenen Sammelunterkünften für Geflüchtete, also jede dritte, von Serco betreut. In Hessen ist es jede zweite, in Rheinland-Pfalz waren es sechs der sieben landeseigenen Einrichtungen.[3] Laut Konzernangaben leben 100 000 Geflüchtete in Serco-Unterkünften, Tendenz steigend. Vor gut einem Jahr kaufte Serco den bis dato größten privaten Dienstleister European Homecare (EHC) für 40 Mio. Euro und wurde so zum mit Abstand größten privaten Player in diesem Bereich. Seine Gewinnprognose korrigierte Serco nach der Übernahme nach oben.[4] Die wichtigsten Anteilseigner von Serco sind große Finanzkonzerne und Vermögensverwalter wie JPMorgan, Vanguard, Fidelity oder BlackRock.
Neben Sercos Profitinteressen beunruhigt Flüchtlingsräte noch eine weitere Eigenschaft des Unternehmens: Das Sipri-Institut etwa listete Serco 2022 auf Rang 64 der weltgrößten Rüstungs- und Militärfirmen.[5] Mehr als ein Drittel ihres Milliardenumsatzes erzielt die Serco-Gruppe mit Aufträgen in der Militär- und Überwachungstechnik, unterstützt Streitkräfte logistisch, hilft bei der Grenzsicherung. Das Unternehmen vertreibt Mini-U-Boote und Sonargeräte. Sercos Kunden sind die US-Luftwaffe, das australische Militär, das britische Verteidigungsministerium oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien.
In Großbritannien betreibt Serco seit Jahren Geflüchtetenunterkünfte. Ein Zehnjahresvertrag, der noch bis Ende 2029 läuft, soll umgerechnet 2,2 Mrd. Euro schwer sein.[6] In Australien wiederum führte Serco seit 2014 die sogenannten Immigration Detention Centres. Es sind jene Haftanstalten, in denen Australien Asylsuchende festhalten lässt.[7] Sowohl in Großbritannien[8] als auch in Australien steht der Konzern dabei in der Kritik von Menschenrechtlern – etwa wegen Maden im Essen, Transporten in Handschellen, Suiziden und Isolationshaft in dessen Unterkünften. In beiden Ländern war Serco im Auftrag der Regierungen offenbar am Einsatz von Sicherheitstools beteiligt, mit denen sich Häftlinge und Asylsuchende überwachen lassen.[9] Auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere der Schweiz, aber auch in Italien oder Österreich ist die Serco-Gruppe gern beauftragter Partner der Behörden.
Enorme Gewinne...
Die Aufträge im deutschen Asylsystem sind für Serco offenbar besonders lukrativ. Aus einem internen „Performance Reporting” geht hervor, dass Serco teilweise hohe zweistellige Gewinne aus den Verträgen mit der öffentlichen Hand zieht. Die Bruttomargen, also der Gewinn, den Serco nach Abzug der Fixkosten wie Personal, Materialaufwand und Sozialarbeit erzielt, betragen an mehreren Standorten im ersten Quartal 2023 um die 50 Prozent.[10] Ein Beispiel: Sagenhafte 49,8 Prozent Bruttomarge etwa erzielt das Unternehmen mit einem Mandat für die Betreuung von Flüchtlingen in der Aufnahmeeinrichtung Bernkastel-Kues, einem Ort in Rheinland-Pfalz. „Das trifft unsere Erwartungen“, schreibt das Unternehmen in dem internen Bericht dazu. Experten bewerten Sercos Renditen als außerordentlich hoch. Es sind Renditen, von denen andere Dienstleistungsunternehmen nur träumen können, so ihre Einschätzung. Serco verweist in einer Stellungnahme darauf, dass die eigene Nettomarge europaweit im einstelligen Bereich liege. Zu den konkreten Gewinnzahlen in Deutschland äußerte sich das Unternehmen nicht.
...schlechter Lohn, miserable Betreuung
Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern, Geflüchteten und Insidern geben einen Eindruck davon, welche Stellschrauben Serco in Deutschland offenbar nutzt, um seine Gewinne zu steigern. Sie berichten von massivem Kostendruck. Serco spare an allen Ecken und Enden, auch an der Qualität der Versorgung, um die Rendite zu steigern. Etwa am Fachpersonal – viele Mitarbeitende seien unqualifiziert für den Umgang mit traumatisierten oder vulnerablen Geflüchteten. Auch bei der Sozialarbeit und der medizinischen Versorgung der Geflüchteten werde gespart, so der Vorwurf, den mehrere Ex-Mitarbeiter erheben. In der Belegschaft herrsche ein Klima der Angst, ob der eigene Vertrag verlängert werde. Befristete Verträge und unterdurchschnittliche Löhne seien die Regel. Gearbeitet werde oft in eklatanter Unterbesetzung. ORS weist solche Vorwürfe zurück und verweist auf den allgemeinen Fachkräftemangel.
Doch interne Dokumente und die Aussagen mehrerer Insider weisen in eine andere Richtung. Laut einer Tabelle aus dem Unternehmen musste ORS allein im ersten Quartal 2023 an mehr als zehn hiesigen Standorten zum Teil hohe Abzüge durch Bezirksregierungen und Regierungspräsidien verbuchen – offensichtlich wegen nicht eingehaltener Personalschlüssel. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der als Leiter einer Unterkunft arbeitete, beschreibt: „Wir haben die vertraglich festgehaltene Anzahl der Mitarbeiter nie erreicht.“ Dies betreffe die Sozialarbeit, die Unterstützung bei Behördengängen, die Kinderbetreuung, die Hausbetreuung und auch die Freizeitangebote für Geflüchtete. Die Unterbesetzung habe teilweise bei 50 Prozent und mehr gelegen. Als Grund dafür nennt der Ex-Mitarbeiter vor allem das niedrige Gehaltsgefüge bei ORS, das deutlich geringer sei als bei anderen Anbietern.
Eine Flüchtlingsfamilie aus Berlin, die in einer Serco-Unterkunft lebte, beschreibt ihre Situation so: Bevor Serco den Zuschlag bekam, organisierte ein gemeinnütziger Träger Sommerfeste und Ausflüge für die Bewohner mit Essen und Spielen für die Kinder. Im Sozialbüro half man bei Dokumenten und Anträgen. Als Serco übernahm, habe man zwar hübsche Bilder auf den Fluren aufgehängt. Das Büro sei aber kaum noch besetzt gewesen, Administration und Sozialarbeit seien vernachlässigt worden. Serco weist solche Vorwürfe stets zurück: „Wir nehmen unsere Verantwortung sehr ernst und gewährleisten hohe Standards in medizinischer Versorgung, Unterbringung, Verpflegung, Sauberkeit und sozialer Betreuung.“ Man beschäftige ausschließlich qualifizierte Personen zu angemessenen Löhnen und sei stolz auf den Service, den ORS gemäß den Anforderungen der Auftraggeber erbringe.
Fest steht: Das Land Berlin will nicht mehr mit Sercos Tochter ORS zusammenarbeiten. Im Rest der Republik ist Serco aber weiter aktiv und bemüht sich um Aufträge. Was zur Frage führt, warum Serco immer wieder den Zuschlag von Landesverwaltungen bekommt.
Die Aufträge für die Betreuung von Geflüchteten in der Regel europaweit ausgeschrieben. In der Praxis können sich alle Unternehmen und Träger bewerben, egal ob gemeinnützig oder nicht.
Preis oft entscheidend: Gute Karten für Serco
Der Preis ist dabei oft das wichtigste Kriterium. In Berlin und Sachsen sogar zu 100 Prozent. Zwar fließen in einigen Bundesländern auch Qualitätskonzepte in die Vergabeentscheidung ein, aber solche Konzepte seien schnell geschrieben, monieren Kritiker. Wer treffend formuliere oder die entsprechende Expertise einkaufe, erreiche hier recht einfach hohe Punktzahlen. Ob die Konzepte auch umgesetzt werden, sei eine andere Frage. Schlussendlich entscheide also doch der Preis – oft zum Vorteil des günstigsten Bieters wie Serco. Aus den Wohlfahrtsverbänden heißt es, man könne bei den Kampfpreisen von Serco nicht mitbieten – man wolle weiter angemessene Löhne zahlen. Außerdem würden gemeinnützige Träger für ihre Expertise mit Geflüchteten und langjährige Erfahrung an Standorten im Vergabeverfahren nicht belohnt.
Unternehmen wie Serco versprechen finanziell klammen Kommunen, eine qualitative Unterbringung zu einem günstigen Preis zu gewährleisten. Bei genauerer Betrachtung fallen die Slogans des Unternehmens jedoch in sich zusammen. Vielmehr scheint ein überdurchschnittlich großer Teil der Steuergelder, die eigentlich für die Unterbringung und Integration von Geflüchteten vorgesehen sind, an globale Investoren und Anleger abzufließen. Fachleute wie der Wirtschaftswissenschaftler Werner Nienhüser fordern daher eine Anpassung der Vergabeverfahren und höhere Qualitätsstandards bei der Unterbringung, die auch konsequent und unabhängig kontrolliert und bei Nichteinhaltung sanktioniert werden müssten.[11] Den Preis für schlechte Qualität der Unterbringung und Versorgung zahlen momentan in erster Linie Geflüchtete: Sie werden sich selbst überlassen, verlieren wertvolle Zeit, dringende Arzt- oder Krankenhausbesuche verzögern sich. Langfristig entstehen so hohe Folgekosten, Integration, das Erlernen der Sprache und die zügige Aufnahme von Arbeit wird erschwert. Auch fällt vielleicht die Radikalisierung eines Geflüchteten nicht auf, weil zu wenig und ungeschultes Personal in der Einrichtung arbeitet. Ein ehemaliger Serco-Mitarbeiter beschreibt das so: „Es bildet sich Unzufriedenheit, Frustration und dann wird man leider indirekt oder direkt auch Ziel dieser Frustration. Teilweise empfinden die Leute das wie ein Gefängnis.”
Doch diese prekären Verhältnisse, unter denen viele geflüchtete Menschen untergebracht sind, spielen in der politischen Debatte selten eine Rolle. Über Flüchtlinge wird zunehmend im Kontext von Abschiebezahlen und als Gefahr für die Sicherheit gesprochen. Verwahrlosung in den Unterkünften zu verhindern, um Prävention oder um menschenwürdige Standards, darum geht es kaum. In Reaktion auf mehrere Anschläge brachte die Ampelregierung erneut Asylrechtsverschärfungen auf den Weg. Weitere – teils zweifelhafte – zeichnen sich auch im Sondierungspapier von Union und SPD ab. Mit der nun kommenden Umsetzung der europäischen GEAS-Reform in nationales Recht stehen eine weitere Versicherheitlichung und haftähnliche Zustände im Asyl- und Unterbringungssystem bevor. Nicht wenige Akteure wünschen sich genau das, auch Konzerne mit entsprechender „Expertise“ wie Serco.
[1] Till Uebelacker und Andreas Maus, Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften. Politikmagazin Monitor, wdr.de, 29.8.2024.
[2] ZDF Magazin Royale, Das Millionengeschäft mit Geflüchtetenunterkünften, zdf.de, 15.11.2024; Livia Hofmann, Till Uebelacker und Lina Verschwele, Profite mit Geflüchteten. Hohe Kosten – große Gewinne, in: „Süddeutsche Zeitung“, 15.11.2024.
[3] Stand November 2024.
[4] Serco: Acquisition of leading German immigration business, investegate.co.uk, 14.12.2023.
[5] Sipri: Stockholm International Peace Research Institute. Top 100 der Rüstungs- und Militärunternehmen, sipri.org.
[6] Reuters, Serco, Mears win 2.9 bln stg UK housing contracts for asylum seekers, reuters.com, 8.1.2019.
[7] Justice and Equity Centre, Australia’s new immigration detention contractor must not be allowed to repeat Serco’s failings, 15.11.2024, jec.org.au.
[8] UK Parliament, Lords Committee criticises Ministry of Justice’s handling of “tagging” contracts, 19.4.2024, parliament.uk.
[9] Ariel Bogle, Revealed: the secret algorithm that controls the lives of Serco’s immigration detainees, in: „The Guardian“, 12.3.2024, theguardian.com.
[10] Till Uebelacker und Andreas Spinrath, Traumrenditen mit Geflüchteten, ARD-Monitor, 14.11.2024, wdr.de.
[11] Werner Nienhüser, „Kontrolle ist besser....“– wie werden die Dienstleister für die Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUEn) für Geflüchtete kontrolliert? 2024, wernernienhueser.de.