Ausgabe März 2025

Wege aus der Polykrise

Wie wir den negativen Kipppunkten positive entgegensetzen können

Fünf Kipppunkte im Erdsystem sind aufgrund der Klimaerwärmung über 1,5 Grad bereits kurz vor dem Umkippen. Hierzu gehören auch das Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde (Melissa Bradley via unsplash.com)

Bild: Fünf Kipppunkte im Erdsystem sind aufgrund der Klimaerwärmung über 1,5 Grad bereits kurz vor dem Umkippen. Hierzu gehören auch das Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde (Melissa Bradley via unsplash.com)

In diesem Jahr jährt sich das Pariser Klimaabkommen zum zehnten Mal. Doch das damals vereinbarte 1,5-Grad-Ziel wurde im vergangenen Jahr erstmals überschritten. Dabei hatte 2024 ein entscheidendes Jahr für die Weltordnungspolitik der Vereinten Nationen sein sollen. Ein Jahr, um die Risiken des globalen Wandels zu bewältigen. Mit dem Zukunftsgipfel (Summit of the Future) im September sollte das UN-System grundlegend umgestaltet werden, um eine stärker zukunftsorientierte und generationenübergreifende Governance-Struktur auf allen Ebenen zu schaffen. Doch trotz wichtiger Bausteine – etwa des Zukunftpakts und der Erklärung über zukünftige Generationen, repräsentiert durch einen Sonderbeauftragten –, blieb die Konferenz am Ende ohne rechtliche Durchsetzungskraft. Auch den anderen großen Konferenzen fehlten wirksame Mechanismen, dem Biodiversitätsgipfel ebenso wie dem Plastikgipfel in Busan, Südkorea, und schließlich dem Klimagipfel (Conference of the Parties, COP) im November in Baku, Aserbaidschan.[1] 

Trotz inzwischen 29 solcher Klima-COPs, die sich immer mehr zu Megaevents auswachsen, steigen die Emissionen weiter, wird die Erde immer wärmer. Schon heute steht fest: Auch der Kompromiss von Baku wird die 1,5-Grad-Marke des Pariser Abkommens nicht mehr einholen. Immerhin hält das Abschlusspapier fest, dass die Hauptverursacher in den Industriestaaten die größte Verantwortung haben und spätestens ab 2035 jährlich mindestens 300 Mrd. US-Dollar zahlen müssen.[2] Bis zur 30. Klimakonferenz 2025 in Brasilien soll ein Plan erarbeitet werden, um bis 2035 mindestens 1,3 Bill. Dollar aus allen Finanzquellen zu mobilisieren, darunter Kredite multilateraler Entwicklungsbanken, die zur Verschuldung beitragen. Auch Länder im Globalen Süden sollen „ermutigt“ werden, sich freiwillig an der Klimafinanzierung zu beteiligen, darunter China und die arabischen Staaten. Viele waren enttäuscht über die ungerechte Lastenteilung. Am Ende stimmten jedoch auch die Kritiker zu, weil sie eine finanzielle Unterstützung gegen Klimaschäden ebenso brauchen wie für ihre Energiesysteme oder den Schutz natürlicher CO2-Speicher wie Wälder, was auch den Industrieländern zugutekommt. 

Zwischen Sintflut und Flächenbrand: Apokalypse im Paradies

Während die globale Klimapolitik von Gipfel zu Gipfel eilt, treibt die Menschheit immer stärker in Umweltkrisen und Kipppunkte hinein, die weltweit Ökosysteme, Lebensgrundlagen und die Stabilität bedrohen. Wetterextreme trafen 2024 viele Regionen der Erde. In Deutschland folgte eine Flut der nächsten, Südfrankreich wurde Mitte Oktober von sintflutartigen Regenfällen getroffen, und am 29. Oktober verwüsteten Niederschläge im Südosten Spaniens die Infrastruktur einer ganzen Region und hinterließen 229 Tote. 

Das neue Jahr begann genauso katastrophal, wie das alte endete: Bei den verheerenden Bränden im Januar in Los Angeles und Umgebung wurden trotz des Einsatzes von mehr als 14 000 Feuerwehrleuten über 16 000 Häuser zerstört, die Gesamtschäden werden auf mehr als 150 Mrd. Dollar geschätzt, einer der höchsten Werte der US-Geschichte. Manche sprachen von einer apokalyptischen Katastrophe wie in einem Atomkrieg. Die Flächenbrände waren ein Verbundereignis vieler Ursachen: verwundbare Holzhäuser in naturnahen Landschaften, mangelnde Wasserversorgung, Einsparungen bei der Feuerwehr, Sorglosigkeit aufgrund von Versicherungen, kapitalistische Globalisierung und eben auch der Klimawandel mit Trockenheit und anhaltenden Wettermustern. Im Streit über die Gründe konnte sich jeder die passenden aussuchen. Kurzum: Viele Regionen der Welt sind inzwischen am Limit oder darüber hinaus, was die weltweite Krisenlage verschärft. Der Anfang 2025 vorgestellte Bericht von MunichRe verweist auf Naturkatastrophen mit Schäden von 320 Mrd. Dollar im Jahr 2024 (gegenüber 268 Mrd. Dollar in 2023), was deutlich über dem Durchschnitt der letzten Jahrzehnte liegt. Allein für tropische Wirbelstürme wurden 135 Mrd. Dollar Schäden verzeichnet, davon 105 Mrd. Dollar in den USA.

All das zeigt, dass klimabedingte Ereignisse längst nicht mehr isoliert zu sehen sind, sondern mit vielen anderen Krisentreibern interagieren.[3] Auch wenn es schon früher Merkmale von Polykrisen gab (Weltkriege, Wettrüsten, Gewaltkonflikte, Terrorismus, Ölkrisen im Kalten Krieg und danach), ist die gegenwärtige Polykrise besonders, ja singulär – und zwar hinsichtlich Vernetzung, Komplexität und Intensität, die mit der Globalisierung zugenommen haben und sich wie Infektionen weiter ausbreiten. Wir erleben eine Dreifachkrise des fossilen Kapitalismus, der westlichen Hegemonie und des Anthropozäns. Im Kampf zwischen altem und neuem System scheint die Welt im Interregnum (Gramsci) zu sein wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem Faschismus und Krieg sich entfalten konnten. Zugleich zeichnen sich säkulare Zukunftstrends ab: die sozial-ökologische Transformation, der Aufstieg des Globalen Südens und die Rolle der Zivilgesellschaft in der Demokratie, jeweils beeinflusst durch disruptive technologische Entwicklungen. 

Doch statt einer Politik, die der Komplexität der Herausforderungen angemessen ist, erleben wir Nationalismus, Populismus und Soziale Medien, die Fakten leugnen und vereinfachte Lösungen für komplexe Probleme suchen, personifiziert durch Donald Trump. Den gordischen Knoten globaler Probleme mit Gewalt zu durchtrennen, überlässt die Welt dem freien Spiel der Kräfte. 

Folgerichtig steht die Weltuntergangsuhr des „Bulletin of the Atomic Scientists“ seit dem 28. Januar dieses Jahres erstmals bei 89 Sekunden vor 12. Gemeint sind nicht mehr nur die Gefahr eines Atomkriegs (die heute größer denn je erscheint), sondern auch der Klimawandel und andere Krisen, die sogenannte Kipppunkte auslösen können. Dabei handelt es sich um Schwellenwerte, bei denen ein selbst verstärkender Systemwandel und damit verbundene Kettenreaktionen, Dominoeffekte und Kaskaden in Gang kommen, die kaum zu beeinflussen sind. An einer solchen Schwelle können winzige Ursachen große Wirkung haben, analog zum Schmetterlingseffekt der Chaostheorie. Kipppunkte gehören daher zu den größten Zukunftsrisiken der Menschheit und könnten die lebenserhaltenden Systeme unseres Planeten so schwer beeinträchtigen, dass die gesellschaftliche Stabilität auf dem Spiel steht, wenn etwa eine höhere Erdtemperatur durch Klimaprozesse zu exponentiell mehr Temperaturzuwachs führt. Dies kann abrupt und irreversibel erfolgen, muss aber nicht. 

Wie aber sollte die Welt mit den näher rückenden Kipppunkten umgehen? Zunächst geht es um die Analyse des Phänomens.

Der Bericht über globale Kipppunkte

Im Dezember 2023 wurde der Stand der Forschung zu Kippelementen im Erdsystem im Global Tipping Points Report zusammengefasst, unter Mitwirkung von mehr als 200 Fachleuten in verschiedenen Forschungsgebieten.[4] Der Bericht identifiziert 22 mögliche Kipppunkte im Erdsystem. Fünf seien aufgrund der Klimaerwärmung über 1,5 Grad bereits kurz vor dem Umkippen. Hierzu gehören die Freisetzung von Treibhausgasen aus Permafrostböden oder das Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde, die mehr Sonneneinstrahlung aufnehmen. Genannt wird auch der subpolare Wirbel in der Arktis und die Abschwächung des wärmenden Nordatlantikstroms, wodurch es in Europa zu einer drastischen Abkühlung und zu Verlusten landwirtschaftlicher Flächen kommen kann. Neben dem Absterben von Korallenriffen drohen weitere Kipppunkte in den 2030er Jahren, wobei Zeitpunkt und Ausmaß aller Kippelemente noch unsicher sind, wie auch das Konzept der Kipppunkte selbst Gegenstand wissenschaftlicher Debatten ist. 

Wie die Menschheit damit umgehen wird, ist noch ungewiss. Die Zukunft ist nicht determiniert, erst recht nicht in komplexen Systemen, die für Überraschungen gut sind und Chancen auf konstruktive Veränderungen eröffnen. Ein Dominoeffekt lässt sich theoretisch unterbrechen, indem ein Dominostein aus der Kette genommen oder ein Hindernis dazwischen gehalten wird. Trotz der Dringlichkeit wirksamer Präventionsstrategien gibt es derzeit jedoch keinen geeigneten Rahmen, um die Polykrise zu bewältigen.[5] Offensichtlich nicht ausreichend sind bestehende Institutionen wie die Klimarahmenkonvention und ihr COP-Prozess, die gefährlichen Klimawandel durch Vermeidung und Anpassung verhindern sollen. Kipppunkte wurden hier erstmals 2022 diskutiert. Andere mögliche Institutionen sind der Internationale Strafgerichtshof, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und nationale Gerichte, vor denen Klagen gegen schwerwiegende Umweltverbrechen geführt werden können, was in Zukunft bei einem vorgeschlagenen Ökozid-Verbot eine größere Rolle spielen könnte. 

Weitere Initiativen könnten einbezogen werden, beispielsweise die Nachhaltigkeitsziele, Finanzinstitutionen und Investoren sowie regionale Kontexte (EU, OECD, Arktischer Rat), nationale Regierungen und transnationale Netzwerke (beispielsweise von Städten). Dazu müssten aber neue sozioökonomische, rechtliche und politische Regelungen von Kipppunkten auf allen Ebenen geschaffen werden, was ein langwieriger Prozess wäre. Ins Spiel gebracht werden dafür diverse präventive Maßnahmen, wie eine globale Bestandsaufnahme von relevanten Faktoren, Kohlenstoffentfernung, naturbasierte Lösungen und abgestimmte Umsiedlungen besonders betroffener Gemeinschaften. Entscheidend ist, den Zusammenhalt zwischen Mensch und Natur und innerhalb der Gesellschaften zu stärken, um ein Auseinanderbrechen zu verhindern. Dazu braucht es letztlich einen globalen und gerechten Ordnungsrahmen, der die Ursachen der Krisen vermeidet und nicht die Folgen nachträglich mit weit höherem Einsatz bekämpft. Dieser aber fehlt bis auf weiteres.

Transformation mit positiven Kipppunkten: Das Beispiel Energie

Um den destabilisierenden Gefahren „negativer“ Kipppunkte für Natur und Gesellschaft entgegenzuwirken, können jedoch auch „positive“ Kipppunkte genutzt werden, die wünschenswerte Veränderungen zum Selbstläufer machen, um aus der Krise zu kommen. 

Auch wenn es dafür in der Geschichte durchaus Beispiele gibt (etwa das Ende des Kalten Krieges), ist es noch ein neuer Ansatz, positive Verstärkereffekte explizit zu erkennen und zu nutzen.[6] Mit ihrer Hebelwirkung könnten sie politische Interventionen verstärken, um systemische Risiken rasch zu mindern und dadurch Chancen zu eröffnen – von geretteten Menschenleben über bessere Gesundheitssysteme bis zu nachhaltiger und billiger Energie. Positive Kipppunkte entstehen in der Regel jedoch nicht von selbst, sondern brauchen förderliche technologische, ökonomische, politische und soziale Bedingungen, die verstärkende Rückkopplungen erhöhen und dämpfende verringern, um Systemen „über den Berg“ der Hemmnisse zu helfen und sie danach zu stabilisieren.

Ein prominentes Beispiel ist der Energiesektor. Wenn erneuerbare Energien die Stromkosten fossiler Energie unterschreiten und niedrigere Strompreise ermöglichen, erhöht sich die Nachfrage und verstärkt ihr Wachstum. 2022 entfielen in einigen Ländern bereits über 80 Prozent der neuen Stromerzeugung auf Sonnen- und Windenergie. Eine erschwingliche erneuerbare Stromversorgung führt zu einem Umschwung bei verschiedenen Systemen und Technologien wie E-Fahrzeugen und Wärmepumpen. Positive Kipppunkte können vorangetrieben werden durch die Vermeidung energieintensiver Aktivitäten, höhere Effizienz und Dekarbonisierung von Energiedienstleistungen. Politische Entscheidungsträger, Investoren und Technologieanbieter können dies fördern durch rechtliche und finanzielle Unterstützung (wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz), Mindesteffizienzniveaus für Gebäude und Geräte, Reduzierung der Energienachfrage oder kohlenstoffarme Technologien und Verhaltensweisen.

Auf den Märkten für Elektrofahrzeuge in China und Europa zeichnen sich bereits systemische Veränderungen ab, die durch regional-integrierte Planung im Verkehrs- und Mobilitätssektor Kipppunkte beschleunigen, verbunden mit verringerter Verkehrsnachfrage, Verkaufsverboten von Verbrennungsmotoren und Mandaten für Null-Emissions-Fahrzeuge sowie den Rückgang des motorisierten Individualverkehrs, Verlagerung auf öffentliche Verkehrsträger und aktive Verkehrsinfrastrukturen.

Beispiel Lebensmittelversorgung: Synergien und Hebel nutzen 

Zweites Beispiel: die Lebensmittelversorgung. Dort existieren zwar noch keine positiven Kipppunkte in großem Umfang, aber bereits diverse Maßnahmen, wie die Umstellung von tierischer auf pflanzliche Ernährung, die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und nachhaltigere landwirtschaftliche Praktiken. So können Synergien für die Einhaltung der Pariser Klimaziele, den Artenschutz und der nachhaltigen Entwicklung erreicht werden. Anreize für diversifizierte Einkommensmöglichkeiten erleichtern es Landwirten, von der Viehhaltung wegzukommen und kohlenstoffarme Landnutzung attraktiv zu machen, beispielsweise durch Agrarphotovoltaik, Kohlenstoffmärkte und Emissionspreise (etwa von Methan und Stickstoff). In betroffenen Regionen und einkommensschwachen Gruppen lassen sich so Innovationen fördern. Politische Entscheidungsträger, Investoren, NGOs, der Einzelhandel und öffentliche Kantinen können alternative Ernährungsweisen, Transparenz, Zugänglichkeit und Zertifizierung anstoßen (durch sogenanntes Nudging, also Anstubsen), um die Marktdurchdringung nachhaltiger und gesunder Lebensmittel zu erleichtern. 

In diesen und anderen Schlüsselbereichen (Transport und Mobilität, Finanzwesen, soziale, politische und rechtliche Systeme) kann eine Verbindung von technologischen Innovationen, sozialem Verhalten und politischen Entscheidungen positive Kippmomente antreiben. Über soziale Netzwerke und Ansteckungsprozesse kann die Zivilgesellschaft in Praxisgemeinschaften mit Alternativen experimentieren. Um allerdings Regierungshandeln durchzusetzen oder in der kapitalistischen Konkurrenz zu überleben, braucht es eine breite Koalition aus Öffentlichkeit, Wirtschaft und Politik, die neue soziale Normen (etwa gegen fossile Brennstoffe und für Suffizienz) in die Transformation der Gesellschaft einbringt. 

Dabei ist es wichtig, verstärkende Hebel zu nutzen und Erfolge aus unterschiedlichen Sektoren so zu verbinden, dass sie sich kaskadenartig ausbreiten. So senkt eine steigende Zahl von Elektrofahrzeugen die Kosten für Batterietechnologie und erhöht deren Speicherkapazität, was wiederum den Transfer in verschiedene andere Bereiche erleichtert. Mandate für grünen Ammoniak in der Düngemittelherstellung steigern die Nachfrage nach Wasserstoffelektrolyse, wodurch die Kosten für grünen Wasserstoff sinken und die Rentabilität damit verbundener Lösungen in anderen Sektoren wie Stahl und Schifffahrt zunimmt. Sinkende Kosten der Solarenergie erleichtern Wasserentsalzung in küstennahen Trockengebieten, was wiederum den Anbau von Nahrungsmitteln erlaubt. So können Synergien im Nexus von Wasser, Nahrung und Energie effektiv genutzt werden. Positive Effekte sind auch denkbar durch eine erfolgreiche Energie- und Klimapolitik, die Gründe für Gewaltkonflikte und Vertreibung mindert, insbesondere im Mittelmeerraum. 

Gewünschte Kaskadeneffekte und komplexe Systemdynamiken

Solche gewünschten Kaskadeneffekte lassen sich durch finanzielle Anreize und technische Mechanismen verstärken. Digitale Technologien erlauben sektorübergreifend positive Wendepunkte in Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Gesundheit und anderen Sektoren, was Kapazitäten und Zugangsmöglichkeiten zu geeigneter digitaler Hardware, Software und Infrastruktur erfordert. Changemaker erweitern den Lösungsraum um neue Perspektiven; kleine Koalitionen aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren (beispielsweise Städte und transnationale Netzwerke, Klimaclubs) sind bei der Beschleunigung oft effektiver als globale Strukturen. Positive Kipppunkte sind dabei keineswegs immer problem- oder konfliktfrei, können vielmehr Widerstände oder gar negative Kipppunkte anstoßen, besonders bei den Verlierern der Veränderung, wie Viehzüchter, Beschäftigte in der fossilen Industrie oder Menschen, die von der Gewinnung strategischer Metalle der Energiewende betroffen sind. Daher ist eine gerechte, risiko- und konfliktminimierende Gestaltung des Übergangs unabdingbar, die Vor- und Nachteile berücksichtigt.

In der Bewältigung der Polykrise kommen hochkomplexe Systemdynamiken und zielgerichtete Handlungen von Akteuren zusammen, was wiederum auf die Systeme zurückwirkt. So erzeugten die millionenfachen Proteste für Klimaschutz durch Fridays for Future, ausgelöst von einer Schülerin, zeitweise ein positives Kippmoment, konnten aber die Klimawende nicht vollziehen, auch aufgrund der Polykrise aus Covid, Rechtsruck, Ukraine- und Gazakrieg. Heute werden Teile der Klimabewegung kriminalisiert und in die Nähe des Terrorismus gerückt. Dennoch sind zivilgesellschaftliche Bewegungen und Proteste weltweit weiter relevant, trotz oder gerade auch wegen der Polykrise. Nach Angaben des Global Protest Tracker der Carnegie-Endowment of International Peace gibt es derzeit mehr als 800 signifikante regierungskritische Proteste in über 150 Ländern.[7] Auch wenn diese sehr divers und widersprüchlich sind, belegen sie das anhaltende Interesse an Einmischung in politische und gesellschaftliche Debatten. Zusammen mit systemischen Widersprüchen und Chancen können sie den fossilen Strukturen Grenzen setzen.

Um aus der vertrackten Polykrise herauszukommen, sind weitreichende Szenarien nötig, die einen radikalen Systemwechsel ohne destruktives Wachstum ebenso umfassen wie die Transformation zu einer nachhaltigen Industrie und Technologie mit einer digitalen Wertschöpfung.[8] Als Rahmen der Aushandlung könnte ein neuer Gesellschaftsvertrag für planetare Gesundheit und menschliches Wohlbefinden dienen, der auf die Stärkung gemeinsamer Werte und alternativer Wohlstandsindikatoren setzt, unter Einbindung von besonderen Interessengruppen, indigenen Völkern und jungen Menschen mit mehr Mitspracherechten.[9] 

Krieg oder Frieden mit der Natur?

Bei der 16. Konferenz zur UN-Konvention über die biologische Vielfalt (COP16) in Cali, Kolumbien, sagte Generalsekretär António Guterres am 29. Oktober 2024, dass „Frieden mit der Natur“ die bestimmende Aufgabe des 21. Jahrhunderts sei: „Natur ist Leben. Und doch führen wir einen Krieg gegen sie – einen Krieg, in dem es keinen Sieger geben kann.“[10] 

Diese von ihm so benannte „COP des Volkes“ sollte den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2030 stoppen und rückgängig machen, die Rolle indigener und lokaler Gemeinschaften bei der Gestaltung gerechter und nachhaltiger Zukünfte stärken. Die „Wächter unserer Natur“ würden zu oft ausgegrenzt oder bedroht. Da traditionelles Wissen wesentliche Einblicke in den Erhalt der biologischen Vielfalt ermögliche, sollen in Zukunft indigene Stimmen während der politischen Entscheidungsprozesse gehört werden. Um Projekte umzusetzen wie die Reduzierung der Entwaldung in Brasilien, Kolumbien, Indonesien und im Kongobecken, brauche es neben der transparenten Überwachung eine Finanzierung von mindestens 200 Mrd. Dollar jährlich bis 2030.

Zu den Bausteinen einer solchen zukunftsfähigen Welt (Viable World) im gemeinsamen Haus der Erde gehören unbedingt erneuerbare Energieträger, ein ökologischer Fußabdruck innerhalb planetarer Grenzen und sauberer Wohlstand für alle, aber auch die friedliche Koexistenz und Kohabitation der Nationalstaaten im Rahmen einer Weltinnenpolitik, die Kriege vermeidet und Frieden im Rahmen kooperativer Sicherheit garantiert.[11] Denn Rüstung und Krieg sind enorme Belastungen für Umwelt und Klima, verschleudern zur Bewältigung der Polykrise dringend erforderliche Mittel und Ressourcen, blockieren die Zusammenarbeit zwischen Kontrahenten und treiben so negative Kipppunkte voran. 

Daher ist die Schaffung einer nachhaltigen Friedensordnung elementarer Teil einer Transformation, die positive Dominoeffekte, Triggerpunkte und Synergien von politischen Handlungsfeldern nutzt. Sie verbindet verschiedene Sicherheitsinteressen, einschließlich ökologischer Sicherheit, mit gerechter Ressourcennutzung und friedensbildender Umweltkooperation (environmental peacebuilding) im Rahmen planetarer Grenzen, die die Bewohnbarkeit der Erde erhalten, entfalten und gestalten.[12] In einer kooperativen multilateralen Weltordnung könnte auch die friedensstiftende Rolle Europas stärker zum Tragen kommen. Die Kriegslogik wäre durch eine Friedenslogik zu ersetzen, basierend auf Deeskalation, Diplomatie, Verhandlung und Vermittlung. Neben Prinzipien des Gewaltverbots und der friedlichen Konfliktlösung, der gemeinsamen Sicherheit und Bewahrung von Menschenrechten werden internationale Sicherheitsgarantien und Partnerschaften mit Nachbarregionen und BRICS-Staaten anvisiert.[13]

Während es also an Analysen, Konzepten und Vorschlägen für idealtypische Wege aus der Polykrise nicht mangelt, hapert es noch immer bei der Umsetzung. Bloßer Optimismus, der die Zukunft in grellen Farben malt und die politisch-ökonomischen Bedingungen ignoriert, reicht angesichts der dramatischen Weltlage nicht. Um das fossile Zeitalter und seine Machtstrukturen abzulösen, ist vielmehr eine „kritische Masse“ zu schaffen, die positive Kippmomente für nachhaltige, friedliche und gerechte Verhältnisse ermöglicht. Koalitionen und Netzwerke können dabei als Katalysatoren auf kommunaler und betrieblicher, nationaler und transnationaler Ebene dienen, die die Bewohnbarkeit des Planeten für heutige und zukünftige Generationen gewährleisten und sichern.

[1] Vgl. Susanne Götze, UN-Umweltgipfel: Ineffektiv, aber unabdingbar, in: „Blätter“, 2/2025, S. 37-40.

[2] Viola Kiel und Elena Erdmann, Lieber einen schlechten Deal als gar keinen, in: „Die Zeit“, 24.11.2024.

[3] Michael Lawrence u.a., Global polycrisis, in: „Global Sustainability“, 7/2024. Für Publikationen des Autors zur Polykrise vgl. Jürgen Scheffran, Kettenreaktion außer Kontrolle: Vernetzte Technik und das Klima der Komplexität, in: „Blätter“, 3/2016, S. 101-110; ders., Welt im Aufruhr – Krankheitssymptome der Globalisierung, in: „W&F“, 3/2020, S. 6–10; ders., Limits to the Anthropocene: geopolitical conflict or cooperative governance?, in: „Frontiers in Political Science“, 5/2023.

[4] Timothy M. Lenton u.a. (Hg.), The Global Tipping Points Report 2023, Exeter 2023. 

[5] Manjana Milkoreit u.a., Governance for Earth system tipping points – A research agenda, in: „Earth System Governance”, 8/2024.

[6] Vgl. Lenton u.a., a.a.O., S. 278 ff.; Sibel Eker u.a., Cross-system interactions for positive tipping cascades, in: „Earth System Dynamics“, 6/2024, S. 789-800. 

[7] Global Protest Tracker, carnegieendowment.org.

[8] Manfred Fischedick u.a., Earth for All Deutschland, Club of Rome und Wuppertal Institut, München 2024; World Bank, Pathways out of the Polycrisis, Washington, D.C., 2024.

[9] United Nations Environment Programme and International Science Council, Navigating New Horizons: A global foresight report on planetary health and human wellbeing, 7/2024. 

[10]Vibhu Mishra, At COP16, Guterres urges world to ‚choose wisely …make peace with nature‘, news.un.org, 29.10.2024.

[11] Jürgen Scheffran u.a., A Viable World in the Anthropocene: Living Together in the Common Home of Planet Earth, in: „Anthropocene Science”, 8/2024, S. 131-142.

[12] Kira Vinke u.a., Zivile Krisenprävention durch Environmental Peacebuilding, Berlin, 4.11.2024; Rebecca Froese u.a., Erhalten, Entfalten, Gestalten: Mittel der Konflikttransformation für Wege aus der Klimakrise einsetzen, in: „W&F“, 4/2023, S. 43-46.

[13] Ralf Becker u.a., Europas Rolle für den Frieden in der Welt: Positiv-Szenario 2025-2040, sicherheitneudenken.de, 1.1.2025.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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