Ausgabe März 1990

Rede an die Deutschen in der DDR

Am 16. Dezember 1989 sprach Günter Gaus, erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR (19741981), in der französischen Friedrichstadtkirche in Ostberlin zum Thema "Die Zukunft der Deutschen in Europa". Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlichen wir nachstehend einen für den Abdruck in den "Blättern" redaktionell bearbeiteten Mitschnitt der Rede, die nach Stichworten gehalten wurde. D. Red.

Ausbruch aus der Nischengesellschaft

Sie müssen mir nachsehen, daß ich ein bißchen zurückgehe, weil ich mich nicht zum erstenmal und wahrscheinlich nicht zum letzten Mal mit der Frage beschäftige: Haben meine politischen Freunde, habe ich, als der erste Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, haben wir alles, vieles falsch gesehen? Welche Fehler haben wir gemacht? Wie ist es zu dem gekommen, was jetzt ist? - Daß es so gekommen ist, daß es jetzt und in dem Tempo kommen würde, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich habe gedacht, es geht mit den von mir mitgetanen kleinen Schritten. Ich habe gedacht, es gibt eine stufenweise Ablösung Honeckers. Er bleibt Staatsoberhaupt, aber nicht Parteichef, und dann wird sich das zurechtlaufen. 1983 habe ich von der Nischengesellschaft geschrieben, nicht weil es nur in der DDR Nischen gegeben hätte - das war ein Mißverständnis, hier ebenso wie in der Bundesrepublik -, sondern weil man bei uns in der Bundesrepublik die Vorstellung pflegte (und bei Ihnen denken das inzwischen auch vielleicht viele, und dann irren die sich!), daß man hier 48 Stunden am Tag ununterbrochen unterdrückt worden wäre, und daß es keinerlei Glück und Unglück der Privatheit gegeben hätte.

Die Entdeckung der Nischen in der DDR erschien mir wesentlich, nicht so sehr als Beschreibung für die DDR-Nischenbewohner, sondern als Beschreibung für die BRD-Nischenbewohner: daß - und das hat mich sehr getröstet - bei allem Unrecht, bei allen Schikanen, bei aller Willkür immer noch die Möglichkeit existierte, Glück und Unglück, beides, in den verschiedensten Arten von Nischen zu haben. In der Bundesrepublik hat man gedacht, dies sei eine Besonderheit der DDR, was natürlich Unsinn ist. Wenn es den Menschen gut geht - und den Menschen in der Bundesrepublik geht es besser als den Menschen in der DDR, jedenfalls materiell -, dann ist ihr normaler Aufenthaltsort die Nische. Als der Druck in der DDR unerträglich wurde, haben Sie zunehmend angefangen, den Kopf aus der Nische zu stecken, sich einzumischen, zunächst im Seitenschiff der Kirche, halbwegs geborgen, haben Sie begonnen, den aufrechten Gang zu üben, die Behörden in Verwirrung zu stürzen. Unterschätzen Sie diese Phase nicht: sie gehört dazu, hat zu dem beigetragen, was Sie jetzt sehen.

Was da zuerst den Kopf aus der Nische steckte, waren schnell wachsende Minderheiten, die aber über den Status von Minoritäten nicht hinauskamen: Das waren nach meiner Beobachtung Akademiker, Intellektuelle, Schriftsteller und - sehr wichtig - mit ihnen vorübergehend verbunden, was nicht so bleiben muß, alternativ gesinnte junge Leute. Dieser Generationsbruch ist nicht unwichtig für die künftige Entwicklung in der DDR. Zu dieser Minderheitenbewegung im Seitenschiff der Kirche, zu einem Zeitpunkt als die Mehrheit noch in der Nische verharrte, gibt es durchaus eine Parallelentwicklung in der Bundesrepublik. Es war für mich faszinierend zu sehen, wie seit ungefähr 1983 oder 1984 in beiden deutschen Staaten vornehmlich junge Leute mit den Antworten, die vom jeweiligen System vorgegeben wurden und von der jeweiligen Mehrheit entweder mitgetragen oder hingenommen wurden, nicht mehr einverstanden waren. Die Themen, das wissen Sie so gut wie ich, waren Umweltschutz, Abrüstung, Menschenrechte - in der Reihenfolge, meine ich mich zu erinnern. Die Menschenrechte jedenfalls kamen als Drittes, als das allgemeinpolitische Thema, hinzu. Auch die Bundesrepublik hat keine vorfabrizierten Lösungen zu bieten

Es ist keineswegs so, daß die Bundesrepublik das Problem gelöst hätte, das darin besteht, daß in einem pluralistischen System, das auf der Respektierung von Mehrheitsentscheidungen basiert, sich Minderheiten bilden, die sagen, hier stehe eine Entscheidung von einer Tragweite an, bei der das Mehrheitsrecht nicht mehr ausreiche. Ich weiß dafür keine Lösung. Ich sage Ihnen nur, im Blick auf die pluralistische Zukunft, die Sie sich schaffen: Sie sollten nicht denken, in der Bundesrepublik gäbe es für all die Probleme, die sie jetzt bekommen werden, vorfabrizierte Lösungen. Wir haben dasselbe Problem, abgefedert durch pluralistische Traditionen seit vierzig oder fünfundvierzig Jahren und gepolstert durch materiellen Wohlstand, aber das Problem ist nicht gelöst.

Anders als Solidarnosc - ohne gewachsene Massenbasis

Diese wachsenden (aber nie zur Mehrheit werdenden) Minderheiten im Seitenschiff der Kirche - ich erinnere an den Kirchentag von 1987 - wuchsen über Jahre hinweg, praktizierten ihr Dissidententum, begannen Opposition zu betreiben in dem bescheidene Maße, in dem es ihnen ohne Massenbasis möglich war.

Denn der Opposition hier, den intellektuellen, akademisch oder jugendlich-alternativ geprägten Minderheiten, fehlte die Massenbasis, wie sie etwa die Solidarnosc-Bewegung in Polen hatte. Den Grund kennen wir alle. Es gab in der DDR eine Alternative, die einmalig war auf der Welt: Wenn es unerträglich geworden war, was objektiv und subjektiv zu messen ist und wobei der subjektive Maßstab allein gültig sein muß - wenn es für jemanden subjektiv unerträglich geworden war, hatte er die Alternative, einen Ausreiseantrag zu stellen. Sie wissen besser noch als ich, was für Schikanen das zur Folge haben konnte und in der Regel hatte.

Aber es war eine Alternative. Erst mit dem ungarischen Spätsommer und Frühherbst 1989, als der Übersiedlerfluß zu einem Strom wurde, gewann die Opposition eine Massenbasis, weil es die erste in die Breite gehende Polarisierung in diesem Land gab: zwischen denen, die gehen wollten und in großer Zahl über Ungarn gingen, und jenen, die hierbleiben, aber es hier anders haben wollten.

So hat die zunächst als Minderheit wirkende und über lange Jahre in diesem Status verharrende Opposition ihre Massenbasis gewonnen. Ende des Rückblicks. - Wo steht die DDR heute? Wie stellt sich die deutsch-deutsche Frage jetzt?

Zerfall des Bündnisses, das die Revolution anstieß

Das Bündnis der ersten acht Wochen Ihrer Revolution - besteht es noch? Oder ist es dabei, sich in die Normalität aufzulösen, die Ihr Ziel sein muß. Wenn sich aber diese Verbindung auflöst, welche Gefahren resultieren aus dem Zerfall dieses nur wenige Wochen alten Bündnisses? Überspitzt gesagt, die DDR-Bevölkerung in ihrer Mehrheit beginnt einer Dreiteilung anheimzufallen.

Da gibt es, e r s t e n s die im Dissidententum erprobten DDRErneuerer, die nach wie vor überwiegend von Minderheitsgefühlen bestimmt, nach wie vor weithin Intellektuelle, Künstler und Sympathisanten sind. Eine der Gruppen bei der Dreiteilung der DDRBevölkerung, von der ich hier analytisch - nicht wertend - spreche, sind also die DDR-Erneuerer, die - und das ist nun wertend seit Jahren meinen Respekt, meine Zuneigung haben. Ich bin nicht in allen Fällen überzeugt von ihrer politischen Weisheit. Diese Gruppe hat, wie ich in Gesprächen mit einigen von ihnen gemerkt habe, wie idealistisch gesinnte Kommunisten bei ihrem Tun und Handeln an den neuen Menschen geglaubt. Und als die Mauer fiel, ging der neue Mensch als alter Adam und alte Eva rüber, ins Bilka-Kaufhaus, statt sich um die Erneuerung der DDR zu kümmern. Das ist so. Ulbricht hätte gesagt: Das ist ein Fakt. Und mit diesem Fakt wird der pluralistische Neubeginn dieser DDR leben müssen, damit wird er fertig werden müssen.

Die z w e i t e G r u p p e in dieser Dreiteilung hat sich in schnell wachsender Gegnerschaft zu der erstgenannten Gruppe herausgebildet: das sind die Sofort-Vereiniger. Nebenbei: Zwischen allen drei Gruppen gibt es fließende Übergänge, am wenigsten wahrscheinlich zwischen der ersten und den beiden anderen. Diese zweite Gruppe legt eine wachsende Feindseligkeit gegenüber den DDR-Erneuerern an den Tag, auch auf ihren Plakaten. Von ihr nicht von ihr allein, aber ganz bestimmt auch nicht zuletzt k ö n n t e n etwaige Gewalttätigkeiten ausgehen. Diese Gruppe ist in sich weiter gegliedert: es gehören auch junge Leute zu ihr, für die - dies gibt es genauso bei uns - ein Teil der Volksbewegung der letzten Wochen eine Art Happening war.

So ein Happening ist um so erfolgreicher, je provokativer die Thesen sind, die man mit sich herumträgt, je mehr sie die Autoritäten beleidigen. Und die Oppositions f ü h r e r, die zunächst als Minderheit begonnen hatten und dann eine Basis fanden, sind für diese Art von jungen Leuten schon wieder Autoritäten. Ein Teil der aggressiven Vereinigungsparolen muß so psychologisch gedeutet werden. Diese Gruppe junger Leute, die es bei uns und die es hier gibt, muß man in ihren politischen Aussagen nicht zum Nennwert nehmen. Aber da sie sich an sehr gefällige, glatte, schnelle Lösungen verheißende Losungen anhängen, an nationale Parolen, an Parolen, die die sofortige Wiedervereinigung verlangen, haben sie möglicherweise mehr Einfluß auf die Entwicklung, als ihnen zahlenmäßig zukäme.

Die d r i t t e G r u p p e, die ich hier unterstelle, sind die Abwartenden. Diejenigen, die durch das Leben in der DDR über das Normalmaß hinaus lebensklug geworden sind. Diese Gruppe der Abwartenden, von denen die größte Gefahr für das Andauern der Staatlichkeit der DDR ausgeht, ist klug genug, während dieses Wetters nicht in einem Zeltlager in der Bundesrepublik Aufnahme zu suchen, sondern verbringt den Winter hier in den warmen, preiswerten Wohnungen. Niemand kann sagen, wieviele von denen im nächsten Frühjahr sagen: Nun gehn wir. - Wir alle haben über den dramatischen Ereignissen in der DDR schon beinahe verdrängt, wieviele noch immer auf Dauer in die Bundesrepublik kommen wollen, wieviele sogar jetzt jeden Tag übersiedeln, und wie es sein wird, für die DDR und für uns, wenn es warm wird und wenn man sich sagt, jetzt kann ich's auch ein paar Monate in einem Containerlager aushalten, wenn hier immer noch nicht der Golf für Jedermann für der Tür steht ...

Das, glaube ich, ist keine ungerechte Beschreibung der DDR-Situation jetzt, im Winter 1989/90. Ich will dieser Analyse eine kommentierende Bemerkung hinzufügen: Wenn dann bei den Sofort-Vereinigern in Wahrheit materielle Wünsche der Hauptgrund für ihre politische Forderung sind, dann ist das ihr gutes Menschenrecht. Ich bin dankbar für jeden DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin, die mit guten Argumenten ihren Mitbürgern diese Sofort-Vereinigungsgeschichte auszureden versucht, weil ich es für besser halte, wenn so verfahren wird. Ich will mich nach meinen Kräften als Außenstehender daran beteiligen.

Aber eines steht mir nicht zu: den materiellen Kern dieses Vereinigungsbedürfnisses zu kritisieren. Das ist ein Menschenrecht. Es ist kein Menschenrecht im Vergleich zu den Zuständen in der Dritten Welt.

Aber mir ist nicht erlaubt zu sagen: Du hier, der Du länger für den gemeinsam verlorenen Krieg bezahlt hast als ich, sollst Dich bitte, was Deine materielle Situation angeht, an der Dritten Welt orientieren! Er - und sie - dürfen sich orientieren an dem Staat, in dem ich lebe.

Keine neuen Menschen, weder hüben noch drüben

Wissen Sie, es ist sehr spannend, diese Revolution zu sehen. Normalerweise - und das ist keineswegs eine ausschließlich marxistische Definition - haben immer Bevorteilte und solche die einen bestimmten Bildungsfundus hatten, die nationale Karte gespielt. Diesmal wird sie von den Schwächeren ausgespielt, von der Gruppe der Abwartenden und der Sofort-Vereiniger. Die treten aber nicht als benachteiligte Klasse auf, sondern als Nationensplitter, der aus nationalen Gründen seinen Platz an der gut gedeckten Tafel haben will. Und gleichzeitig - während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, wenn man sich auskennt, die westlichen Gesichter studieren, etwa im Palasthotel, wo ich wohne - die Aufkäufer sind da! Das ist auch etwas, was es bei gewöhnlichen Revolutionen nicht gibt.

In der Bundesrepublik - mein nächster Punkt - verhält sich die große Menge der Bevölkerung spiegelbildlich zur großen Masse der Bevölkerung hier; beides sind keine neuen Menschen, es wird sie nicht geben, die neuen Menschen. Wieviele hier bereit sind, über die Erneuerung der DDR mit sich reden zu lassen, und wie weit sie dazu gediehen sind, wird sich erst im Frühjahr zeigen. Diejenigen, die nicht dazu bereit sind, die die Wiedervereinigung so schnell wie möglich wollen, wollen es nicht zuletzt, vielleicht überwiegend, aus materiellen Gründen; und da wird der Abstand zwischen dem Realinteresse und dem Etikett, das man darauf klebt, deutlich. Das Etikett ist erhebend und national, das Realinteresse ist eher materialistisch. Genau dieselbe Gruppe bei uns hält sich sehr bedeckt. Der erste Rausch der Begeisterung - wie nach einer Bombennacht, die man überlebt hatte; ich bin alt genug zu wissen, wie es war, wenn die Leute aus dem Bunker kamen, - der Rausch auf den Bahnsteigen in der Bundesrepublik im September/Oktober, als die Übersiedler kamen, hat stark nachgelassen. In der DDR denken die Benachteiligten, die Vereinigung bringe ihnen Vorteile: Bei uns denken die Benachteiligten, die Vereinigung könnte sie weiter schwächen.

Deswegen halten sie sich überwiegend bedeckt. Beide Gruppen sind verführbar - sind es in der Geschichte immer gewesen - von so glatten, gefälligen Parolen, wie nationale und nationalistische Parolen es sind. Was daraus wird, weiß man nicht.

Aber noch gibt es das überbordende Nationalgefühl außerhalb der gebildeten, interessierten, materiell besser gestellten Kreise und ihrer Zeitungen nicht.

Die DDR als Objekt der bundesdeutschen Wahlkämpfer

Was die Parteien in der Bundesrepublik angeht, so haben sie ihren Wahlkampf begonnen, und die DDR ist ihr Objekt, nicht ihr Subjekt. Dazu gehört, Steine ins Wasser zu werfen, die Wellen schlagen und eigentlich so noch gar nicht ins Wasser gehört hätten: Ideen, wenn's denn Ideen sind, Pläne, wenn's denn Pläne sind wenn's denn nicht nur einfach Schmierzettel waren, weil man die Haushaltsdebatte bestehen wollte. Und einen Punktvorsprung für den Wahlkampf in der Bundesrepublik erreichen wollte. Daß man Dinge in die Welt setzt, die über das neutrale Stichwort "Vertragsgemeinschaft" von Modrow hinausgehen und die Phantasie anregen und verführen können, gehört dazu. Und ebenso, daß - was ich sehr beklage - alle Parteien in der Bundesrepublik, auch die SPD, zu der ich gehöre, sich sozusagen ihren Partner ausgucken, d.h. den Wahlkampf bereits in dies Land hinein verlängern. Ich fände es angemessener, wenn die Stiftungen der Parteien bei uns (alle leisten sich welche, das ist steuerlich günstig, die haben eine Menge Geld) einen gemeinsamen Fonds zustande brächten.

Einen gemeinsamen Fonds, deutsch-deutsch verwaltet, wo alle neuen Gruppierungen materielle Hilfe für eine Erstausstattung bekommen könnten. Dies hätte der allgemeinen Demokratisierung geholfen und nicht der speziellen parteilichen. Daß dies durch, wie ich finde, voreilige Parteinahme hintangesetzt worden ist, beklage ich. Ich will auch ausdrücklich sagen, und ich rede hier nur auf meine Kosten: Ich beklage die Art, wie meine Partei, die SPD, auf die Entwicklung reagiert hat. Auch wenn ich die Gründe nur zu gut verstehen kann. Die Art, wie andere Parteien der SPD ihre Pionierzeiten in der Entspannungspolitik, in der Konkretisierung von albernen Floskeln und Phrasen, von Sonntagsreden in deutsch-deutscher Praxis heute ankreiden, ist ziemlich widerwärtig. Und so kann ich nur allzu gut verstehen, daß die SPD versucht, Abstand zu gewinnen von ihrer Vergangenheit. was die Beziehungen zur DDR anbelangt. Ich halte es dennoch für falsch.

Wiederbegründung eines totalitären Antikommunismus?

Warum soll man Gysi unter den Linden nicht grüßen? Wenn Sie, und das kann leicht sein, den totalitären Antikommunismus wiederbegründen wollen, der in Deutschland nie aufgehört hat zu existieren, weder hier noch in der Bundesrepublik, der hier nur verdeckt war und in der Bundesrepublik überlagert durch praktische Politik, wenn der primitive totalitäre Antikommunismus wieder ins Kraut schießt, sage ich Ihnen: Darunter haben die Deutschen, und nicht nur die Kommunisten, immer gelitten. Es geht nicht darum, ob man für oder gegen die Kommunisten ist. Ich kann nie einer werden.

Aber es geht um die Art, antikommunistisch zu sein. Es ist traurig bestellt um die Menschen, wenn sie a priori eine Utopie, die auf Gerechtigkeit zielt, schon für verwerflich halten. Ich weiß nicht, wohin die SED kommen wird. Ich weiß nur, daß ich nicht aufhören werde, den totalitären Antikommunismus als eine Selbstverstümmelung und Dummheit anzusehen und ich werde Gysi unter den Linden grüßen!

Moralischer Rigorismus - die spezifisch deutsche Komponente?

Ich habe mich in den letzten Wochen gefragt: Wann taucht die spezifisch deutsche Komponente in dieser Revolution auf? Ich frage mich, ob der moralische Rigorismus in Ihrem Land die spezifisch deutsche Komponente dieser Revolution ist. Und ich mag diesen moralischen Rigorismus nicht! Alle Verbrechen und Vergehen müssen nach Gesetz geahndet werden.

Aber das Waffenlager in Rostock - na und?! Gibt es irgendeinen christlichen oder nichtchristlichen Staat auf der Welt, der keine Waffen verkauft? Und Wandlitz? - Aus Ihrem Kreis habe ich zu meiner Zeit, als ich hier Staatsdiener war, mit großem Vergnügen das Wort "Volvograd" gehört. Es ist doch nicht wahr, daß Sie das erst seit vier Wochen wissen. Ich bin leider nie in Wandlitz gewesen, ich hätte das sehr gerne gesehen! Nach dem, was man inzwischen darüber hören, lesen und sehen konnte: Ich hätte dort nicht wohnen mögen. Diese Mischung von aus Rußland kommenden, vor die Revolution zurückreichenden Abkapselungstendenzen der Höheren, möglicherweise aus nicht ganz unbegründeten Sorgen wegen des Kalten Krieges und schließlich dem Hang nach Exklusivität - diese Eingeschlossenen von Altona...

Das wird hoffentlich irgendwann ein neuer Sartre beschreiben. Das ist ungeheuer! Aber ich will auch nicht so tun, als hätten in dieser Gesellschaft - weil sie so war, wie sie ist und nicht bleiben soll und wird - nicht viele mitgenommen, was sie kriegen konnten. Ich will nur sagen: Alle Verbrechen und Vergehen müssen geahndet werden nach Gesetz. Lassen Sie sich nicht davon abbringen, die Maßstäbe zu behalten! Die Westmächte, die Sowjetunion, die Nachbarn verhüllen mehr oder weniger geschickt - Maggie Thatcher ist da am redlichsten, sie verhüllt es kaum -, daß sie die baldige staatliche Vereinigung nicht wollen.

Ob sie sie überhaupt wollen, müssen sie nicht sagen, weil sie im Moment damit beschäftigt sind, Sophisterei zu betreiben, Konditionen aufzustellen. Ich kann nicht finden, daß sich die andauernde Trennung sozusagen als Sühneopfer für die deutschen Verbrechen rechtfertige. Wir haben unsere Schuld nicht abgetragen. Es gibt Schuld, die kann man nicht abtragen.

Wir wollen sie nie, nie verbergen.

Aber die Frage, ob diese beiden deutschen Staaten zusammenkommen oder nicht zusammenkommen, so zu behandeln, daß man sagt: das ist das Sühneopfer!? Nein! Das nicht. Ich habe nur die Hoffnung, daß man Einsicht in Prioritäten hat und daß man weiß: Wenn denn wirklich die Straße die Kanzleien überrennen kann, was ich nicht weiß, aber angenommen, es wäre so: Wenn die Menschen auf den Straßen der DDR, wie viel bei uns spekulieren, die Kanzleien rings um die beiden deutschen Staaten ins Abseits drängen könnten, dann hätten wir also ein Deutschland vom Rhein bis zur Oder, in Sichtweite der Grenzen von 1937, errichtet unter dem Motto "Viel Feind, viel Ehr". Alle jüngeren Leute erheben Anspruch darauf, daß sie ihre eigenen bösen Erfahrungen machen ... Ich möchte das gerne den jungen Menschen ersparen. Ich denke, man könnte nachweisen, daß das nicht gut gehen wird.

Zentraleuropäische Konförderationen...

Ich schlage seit längerem vor - und warum sollen immer nur Amtspersonen etwas vorschlagen -, das europäische Problem in Mitteleuropa nicht deutsch-deutsch zu verengen, sondern zentraleuropäische Konföderationen auf Sachgebieten zu gründen. Teilnehmer wären nach meinem Vorschlag die beiden deutschen Staaten, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich, das als neutrales Land gut den Vorsitz übernehmen könnte. Die Sachgebiete begründen sich nach dem Bedarf: gemeinsame Wirtschaftsvorhaben, Umweltschutz, High Tech-Entwicklung und anderes. Das, was bei der deutsch-deutschen Konföderationsidee besonders unklar bleiben muß, könnte hier klargemacht werden: Sicherheitspolitik gehört n i c h t zu diesen Sachgebieten. Dafür sind, solange sie existieren, NATO und Warschauer Pakt zuständig.

...in drei Stufen realisierbar

Die Konföderationen sollten in Stufen verwirklicht werden. Sie sollten so schnell wie möglich mit Expertengremien beginnen. Auf der zweiten Stufe sollten Regierungsvertreter der beteiligten Staaten in die Gremien hineindelegiert werden. Auf dieser Stufe könnte eine KSZE-Konferenz diese zentraleuropäischen Konföderationen förmlich zum Teil des KSZE-Prozesses erklären. Und als dritte Stufe schließlich: Konföderation auf Sachgebieten mit bindender Beschlußkraft. Diese zentraleuropäischen Konföderationen könnten und müßten, was nicht unproblematisch aber möglich ist, mit EG und RGW verzahnt werden. Ich will die Vorteile dieser Konzeption kurz zusammenfassen:

1. Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist in einer deutsch-deutschen Verengung nicht zu lösen. Was soll etwa die Folge sein, wenn das Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR gemildert wird - und sich das ohnehin schon vorhandene Wohlstandsgefälle zwischen der DDR und Polen vergrößert?

2. Der europäische Rahmen, von dem alle Politiker gern sprechen, würde endlich konkret. Ein Europa von Portugal am Atlantik bis zum europäischen Ende der Sowjetunion am Ural ist kein Rahmen für das, was in Mitteleuropa jetzt gebraucht wird, sondern eine Ebene, in der sich vieles verläuft. Die zentraleuropäischen Konföderationen auf Sachgebieten böten den europäischen Rahmen, von dem alle Politiker immer sprechen, wenn sie sich nicht klar ausdrücken wollen.

3. Keiner der schwachen Staaten wäre bilateral mit der mächtigen Bundesrepublik konfrontiert. Alle säßen ihr multilateral gegenüber, ein wichtiger, nicht nur psychologischer Faktor.

4. Polens Westgrenze wäre nicht länger ein Problem, denn in diesen zentraleuropäischen Konföderationen sind die Polen mit beteiligt.

5. Nichts, gar nichts würde für die künftige deutsch-deutsche Entwicklung verbaut. Alles bliebe offen, käme aber aus dem allgemeinen Palaver der letzten Wochen heraus und würde in einen europäischen Rahmen gestellt, der nicht nur eine Floskel ist.

6. Daß ein Vorzug solcher Konföderationen darin läge, daß man Sachgebiete auch ausklammern kann, nämlich die Sicherheitspolitik, habe ich erwähnt. Auf diese Weise würden diese zentraleuropäischen Konföderationen tatsächlich zu einer Art Klammer oberhalb der Blöcke, bei Beibehaltung der Blöcke, solange sie für die Stabilität notwendig sind.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Politik vor Recht: Die Aushöhlung der liberalen Demokratie

von Miguel de la Riva

Als der FPÖ-Chefideologe und heutige Parteivorsitzende Herbert Kickl im Januar 2019 in einem ORF-Interview darauf angesprochen wurde, dass seine Asylpläne an die Grenzen von EU-Recht, Menschenrechtskonvention und Rechtsstaat stoßen, antwortete der damalige österreichische Innenminister, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.