Ausgabe Februar 1998

Die japanische Krankheit

Als Franklin Delano Roosevelt 1933 sein Präsidentenamt antrat, dürfte er voller Vorhaben gewesen sein, die Vereinigten Staaten von Amerika aus der schlimmsten Krise ihrer Geschichte hinauszuführen.

Aber an Projekte für Arbeitsbeschaffung, Landwirtschaft und Wohlfahrt war nur zu denken, wenn den grassierenden Zusammenbrüchen von Banken irgendwie Einhalt geboten werden konnte. Mit glücklicher Hand gelang es Roosevelt, das nötige Vertrauen in das amerikanische Kreditwesen wieder herzustellen und die Reformprojekte des "New Deal" auf den Weg zu bringen. Spätestens mit dem Ruin des Finanzhauses Yamaichi im November vergangenen Jahres dürfte auch für Premierminister Ryutaro Hashimoto klar geworden sein, daß alles an einer Reform des japanischen Kreditsystems hängt. Nur von dieser Stelle aus ist die Krise in Südostasien und auf den internationalen Finanzmärkten zu beruhigen. Und nur mit der Wiederherstellung gesellschaftlichen Vertrauens für Tokios Banken, Broker und Assekuranzen sind Reformen für Japans Zukunft auf den Weg zu bringen.

Aber es spricht nichts dafür, daß Hashimoto dies Werk gelingen wird. Finanzreformen setzen nicht nur gesellschaftliche Erschütterungen voraus, sondern auch die Entwicklung hegemonialer Kraft. Das haben sie mit den Veränderungen von Steuersystemen gemein.

Schließlich gelang Weimar oder Bonn nur eine finanzielle Neuordnung, weil jeweils vorher Inflation resp. Währungsreform das Bankkapital zu einem Schatten seiner selbst gemacht hatten. Japan steht erst am Anfang eines konjunkturellen Abschwungs, es rutscht in diesen Monaten unaufhaltsam in eine Rezession. Das macht Spielräume zunichte. "Derzeit erleben wir die Frühwarnzeichen einer dramatischen Krise," erklärt der ehemalige Tokioter McKinsey-Chef Kenichi Ohmae. "Das ganze japanische Finanzsystem wird zusammenbrechen." ("Manager Magazin", 1/1998) Hashimotos Regierung hat sich darüber hinaus in eine Finanzmisere verstrickt, aus der sie keinen Ausweg findet. Und seine regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) verfügt zwar über die Macht, aber schon längst nicht mehr über Hegemonie. Die Sozialdemokratische Partei (SDP) hätte sich niemals an der Regierung beteiligen dürfen unübersehbar zieht die LDP sie mit in ihren Abgrund. Und die bislang stärkste Oppositionskraft Neue Fortschrittspartei (NFP), mit der Ichiro Ozawa eine große konservative Koalition hatte herstellen wollen, löste sich im Dezember vergangenen Jahres in ihre Bestandteile auf. Der von der LDP geführte Block zerfällt, Hashimoto ist eben kein Roosevelt. "Wir sind tatsächlich in der Krise," unterstreicht Kenzaburo Oe, der 1994 den Nobelpreis für Literatur erhielt. "Am Beispiel Japans beweist sich, daß Wirtschaftskrisen nur das Symptom für allgemeine Krankheiten abgeben. Sie haben erst das Finanzsystem befallen, dann die Politik, schließlich, vielleicht am schlimmsten, die Intellektuellen." ("FAZ-Magazin") Das Problem einer gesellschaftlichen Krise, schreibt der Aachener Ökonom Karl Georg Zinn, besteht eben nicht nur in ihrer zerstörerischen Logik, sondern auch in ihrer Mythenbildung. 1)

Von der japanischen Bankenkrise, die sich mittlerweile zur bedeutendsten in diesem Jahrhundert entwickelt hat, heißt es, daß sie das Resultat einer verschleppten Liberalisierung sei. Spätestens Anfang der 90er Jahre hätte man sich in Nippon entscheiden müssen, das korporative Geflecht aus Finanzministerium, Großbanken und Industriekartellen aufzubrechen. Durch Krisenmanagement habe Tokio nur Zeit und Geld verloren. Insofern täte die japanische Regierung besser daran, sich auf ein "Tal der Tränen" einzustellen. Im Prinzip ist das auch das Rezept, das Ländern wie Thailand, Indonesien oder Südkorea ausgestellt wird. Unter dem Eindruck kollabierender Banken, Makler und Versicherungen war Hashimoto deshalb wild entschlossen, die Banken zu forcierter Sanierung zu drängen und die Staatsfinanzen entschiedener zu konsolidieren. Er meinte, dies den Erwartungen der Weltbörsen schuldig zu sein. Daraufhin brach Mitte Dezember das Nahrungsmittel-Großhandelsunternehmen Toshoku Ltd. zusammen. Mit der sich zuspitzenden Verschuldungskrise Südkoreas zog dieser Ruin einen überraschenden Gesinnungswandel an der Wall Street und in Washington nach sich, denn nun hieß es, Hashimotos Weg führe gleichzeitig zu gedrosselter Kreditvergabe und weniger Investitionen. US-Finanzminister Robert Rubin fiel Hashimoto in den Arm, sein Stellvertreter Lawrence Summers wurde in Tokio vorstellig. Selbst Bundesbankpräsident Tietmeyer mahnte im Falle Japans zur Rücksicht, nachdem er sich zuvor dafür ausgesprochen hatte, auch mal einen wirklichen Staatsbankrott nicht zu scheuen.

Prinzipien sind nichts für den Ernstfall

Damit trat in der fernöstlichen Finanzkrise jener charakteristische Moment ein, den Marx auch schon am Peelschen Bankgesetz von 1844 beobachtete. Wenn es in einer Geldkrise wirklich ernst wird, dann tut die bürgerliche Gesellschaft gut daran, praktisch das Gegenteil ihrer Überzeugungen zu praktizieren - wenigstens einen Augenblick lang. Insofern war die Bank of England gut beraten, ihre eigene Verfassung in den Krisen von 1848 oder 1857 aufzuheben. Und das amerikanische Federal Reserve System sollte es bitter bereuen, sich in der Weltwirtschaftskrise zu lange an liberale Grundsätzen gehalten zu haben. Das Problem Hashimotos bestand nun darin, die amerikanische Eingebung seiner Öffentlichkeit verständlich zu machen, die darauf nicht eingestellt ist. Der japanische Staatsbürger und Girokontenbesitzer hat das dumme Gefühl, für kostspielige Spekulationen aufkommen zu müssen. Bloß auf derlei "Begriffsstutzigkeit" können Europa und die USA keine Rücksicht nehmen. "Schauen Sie nach Europa," verweist Ohmae. "Bei jedem größeren Finanzierungsprojekt, wie etwa dem Eurotunnel, sind Japaner dabei. Wir decken rund 20% des gesamten Finanzbedarfs solcher Großprojekte. Wenn sich unsere Banken jetzt aus dem internationalen Geschäft zurückziehen müssen, weil sie sich die Finanzierung nicht mehr leisten können, gerät Europa in eine Liquiditätskrise. Und für Amerika sieht es nicht viel besser aus." ("Manager Magazin", 1/1998) "Rubins verwirrender Alleingang" ("Süddeutsche Zeitung", 29.12.1997) wirft die Frage auf, inwieweit Diagnose und Therapie überhaupt zutreffend sind. Geschichtlich läßt sich wohl kaum bestreiten, daß der Toyota-Kapitalismus seinen Aufstieg dem Zusammenspiel von Konzernen (Zaibatsu), Ministerium für Industrie und Handel (MITI) und liberaldemokratischer Herrschaft (LDP) verdankt. Darin war auch das Finanzsystem eingebunden. Die Kreditvergabe lag in der Hand jener Banken, die sich an der Industriepolitik orientierten. Die Akkumulation ging flott vonstatten, weil das Kapital auch bei mäßiger Rentabilität auf Zuwachs und billiges Geld rechnen konnte. Die Bevölkerung begnügte sich mit bescheidenen Einkommen und Zinsen, solange sie ihre Vorsorge im Betrieb und beim Staat aufgehoben wußte. Dabei wuchsen dem Finanzministerium immer mehr Aufgaben zu, weil es die Regie für die Industriefinanzierung und alles andere führte.

Aber die 80er Jahre untergruben diese Konstruktion, weil die Banken der Industrie ins Ausland gefolgt waren, die Börse in Geld schwamm und die Industrie sich ihr Geld am Kapitalmarkt holte. "Ende der 80er Jahre war damit ein hochbrisantes Mischsystem entstanden," analysiert Ostasienforscher Werner Pascha. 2) Als diese bubble economy Anfang der 90er platzte, zog der Verfall der Immobilienpreise und Aktienkurse den Banken den Boden unter den Füßen weg. Die liberaldemokratische Herrschaft zerbrach, aber auf der tickenden Bombe eines faktisch bankrotten Finanzsystem, das die größten Banken der Welt stellt, klammerten sich alle Klassenkräfte an partielle Übereinkünfte. Das stärkte nicht nur die Bürokratie, sondern machte auch die gesellschaftliche Doppelmoral zu einem mafiösen Geschäftsfeld (Yakuza).

Gretchenfrage: Steuern für Spielschulden?

Von 1993 bis 1995 versuchte sich eine Vielparteienkoalition in einem Krisenmanagement, welche bis zum Jahre 2000 das Finanzsystem garantierte, die Banken zu Fusionen und Wertberichtigungen anhielt und ihnen mit einer Politik des billigen Geldes Spielraum bot. Diese Politik mißlang, weil die Konjunktur weder über den Export noch über Geldpolitik anspringen wollte. 1995 brachen kleine Banken reihenweise zusammen 3) und jeder Konkurs machte bevorzugte Spekulanten, korrupte Politiker und bilanzielle Verlogenheit publik. Vor allem geriet in Verruf, daß Ministerialbeamte sich bewirten ließen, mit Fünfzig in Pension gingen und dann Unterschlupf an lukrativer Stelle fanden. Dieses System nennen Japaner Amakudari: Herabkunft vom Himmel. Die ganze politische Auseinandersetzung biß sich schließlich an der Sanierung der Wohnungsbaugesellschaften fest. Alle Klassen waren an einer Stabilisierung des Immobilenmarktes interessiert, weil darauf die Kreditpolitik für familiäre Vermögensbildung beruht. Resultat dieser Auseinandersetzung ist ein abgrundtiefes Mißtrauen der Öffentlichkeit darüber, daß der Steuerzahler für die Rechnung der Spekulanten aufkommt. Damit sitzt der Knoten fest: Das Inselreich muß sich einer Dienstleistungsgesellschaft öffnen, wofür sie eine Finanzreform braucht. Aber dieser Reform steht die Sanierung im Wege, der kein Vertrauen geschenkt wird.

1) Karl Georg Zinn, Jenseits der Markt-Mythen, Hamburg 1997. 2) Vgl. Werner Pascha, Japanische Qualverwandtschaften, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 3.12.1997. 3) Vgl. Fritz Fiehler, Vor dem Banken-Crash? "Sozialismus", 4/1996.

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