Mit den Bundestagswahlen 1998 ist in Deutschland zum ersten Mal die Linke in freien Wahlen an die Macht gekommen. Anders als zu Zeiten der sozialliberalen Koalition, anders auch als in den ersten Regierungen der Weimarer Republik regiert die Linke diesmal ohne bürgerliche Koalitionspartner - zumindest was ihr politisches Selbstverständnis, nicht was ihre objektive soziale Zusammensetzung betrifft. Mit den Koalitionsverhandlungen ist zunächst und vielleicht nur für kurze Zeit jener Bruch geheilt worden, der sich in den siebziger Jahren zwischen SPD, Neuer Linker und Neuen Sozialen Bewegungen aufgetan hat. Auch an dieser Regierungsbildung bewährt sich die soziologische Erkenntnis von der integrierenden Kraft des sozialen Konflikts. Bündnis 90/Die Grünen sind so sehr das auch ihrem subjektiven Befinden widersprechen mag mit diesem Koalitionsvertrag als ökologische, pazifistische und feministische Partei gestorben, um als linksliberale Funktionspartei nach dem Muster der niederländischen D66, die ebenfalls der Neuen Linken entsprang, wiederaufzuerstehen. Die Niederlagen bei der Ökosteuer und dem Atomausstieg beweisen dies ebenso eindrücklich, wie das Hinnehmen von Garzweiler II in Nordrhein-Westfalen diesen Prozeß besiegelt hat.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.