Ausgabe November 2002

Scheitern als Chance

Täuschte der Eindruck oder lächelte Angela Merkel tatsächlich etwas gequält, als Edmund Stoiber am Wahlabend als strahlender Sieger vor die Kameras trat? Deutlich gelöster erlebte man "Kohls Mädchen" am folgenden Tage, als über Nacht aus dem großen Sieg eine klare Niederlage geworden war. Und endgültig zu alter Form lief die Parteivorsitzende am darauf folgenden Dienstag auf: Nach kurzem hitzigen Wortgefecht war in gewohnter Kaltblütigkeit der Fraktionsvorsitz übernommen und Friedrich Merz zum einfachen Abgeordneten degradiert. Seither präsentiert sich Angela Merkel in doppelter Funktion als die herausragende Figur der Union - genau wie ihr Vorgänger Helmut Kohl nach der verlorenen Wahl 1976.

Merkel könnte jedoch mit dieser Wahl das gelungen sein, wozu Kohl zwei Anläufe brauchte: 1976 egalisierte Kohl den Vorsprung der SPD aus den 72er-Willy-Wahlen, um 1980 seinen innerparteilichen CSU-Widersacher Strauß endgültig auszuschalten, indem er ihm den Vortritt ließ. Knappe zwei Legislaturperioden nach seiner ersten bundesweiten Kandidatur hieß der neue Kanzler Kohl. Einiges spricht dafür, dass es im Fall Merkel schneller gehen könnte. Anders als Kohl benötigte sie nur eine Wahl, um den Vorsprung der SPD wett zu machen und die Frage nach dem Vorrang zwischen den Schwesterparteien eindeutig zu klären.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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