Theorie und Praxis: Jürgen Habermas zum 80.
Von Sprachtalenten wird die Erfahrung berichtet, dass mit der Zahl der Sprachen, die sie bereits beherrschen, die Zeit und die Anstrengung steil abnimmt, die sie zum Erwerb einer weiteren Sprache benötigen. Demnach wäre das Sprachenlernen selbst lernbar. Jürgen Habermas ist mir immer als ein einzigartiges Beispiel dafür vorgekommen, dass dasselbe auch für den Umgang mit und die Geläufigkeit in den Sprachen sozialwissenschaftlicher Theorien gilt. Ihm gelingt es zuweilen, aus fremden Texten selbst dann schon Sinn zu machen, wenn diese sich bei ihrem Urheber noch im embryonalen Status einer hermetischen Privatsprache befinden. Das könnte sicher mehr als einer unter seinen Doktoranden und Schülern bestätigen.
Ich nutze die Gelegenheit dieses öffentlichen Geburtstagsgrußes dazu, zum Beleg eine kleine Geschichte mitzuteilen, an die sich heute (höchstens) drei Beteiligte erinnern. In dem späteren Kollegen N., der seine Studienzeit ebenso maßlos wie produktiv überzogen hatte, war der Entschluss gereift, sein Studium mit einer soziologischen Diplomprüfung bei Habermas im Dezember 1968 abzuschließen. Als Assistent an Habermas’ Lehrstuhl in Frankfurt hatte ich N. ermutigt, vielleicht sogar (nach gebührender Abwägung dienstlicher Loyalitätspflichten) angestiftet, zum Thema seiner mündlichen Diplomprüfung einen schwierigen Text über „Funktion und Kausalität“ vorzuschlagen, den der Soziologe Niklas Luhmann 1962 veröffentlicht hatte. Luhmann hielt 1968 als Gastprofessor, in Vertretung von Adorno, in Frankfurt eine Vorlesung, die freilich bei den kritisch inspirierten Studierenden ebenso wie beim akademischen Personal nur marginale Aufmerksamkeit fand. N. und ich neigten dagegen zu der besorgten Einschätzung, dass wir in dem schneidenden Intellekt Luhmanns (später für 14 Jahre mein Zimmernachbar an der Bielefelder Fakultät) eine Figur vor uns hatten, die die deutsche Soziologie womöglich über Generationen prägen würde.
Der Prüfer Habermas hatte sich selbstverständlich gründlich auf das damals völlig ausgefallene Prüfungsthema vorbereitet, zumal ihm der Kandidat als ein hochtalentierter Kopf bekannt war. Dennoch müsste mich meine Erinnerung als Protokollführer des angeregten Prüfungsgesprächs arg täuschen, wenn nicht eine größere Versiertheit im Umgang mit Luhmanns damals schon umfangreichen Schriften beim Prüfungskandidaten zu bemerken war. Was immer es auf Seiten von Habermas an Rezeptionsrückständen gegeben haben mag – er hat sie in kurzer Zeit aufgeholt. Das Ergebnis ist sein Beitrag zu der berühmten Kontroverse mit Luhmann (Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971), in dem er wichtige Argumentationsziele seines Hauptwerkes (Theorie des kommunikativen Handelns, kurz: TkH, 1981) vorwegnimmt. 1985 (Der Philosophische Diskurs der Moderne, S. 415-454) kommt er nochmals kritisch auf seinen wichtigsten Antipoden in der Sozialtheorie zurück.
Habermas’ Schrift von 1971 ist ein rein handwerklich unüberbietbares Beispiel für die kritische Aneignung einer fremden wissenschaftlichen „Sprache“. Sie verbindet den Nachweis „sachlicher Fehler“ bei Luhmann und der bei ihm wahrgenommenen „Hochform eines technokratischen Denkens“ mit der Hoffnung, „von Luhmann zugleich das zu lernen, was wir von einem umfassend gebildeten und überraschenden Geiste allemal lernen können“. Ganz anders schallt es aus dem auch auf der Reflexionsebene selbstreferenziellen „System“ Luhmann zurück: „Ich gewinne nicht viel bei der Lektüre von Habermas […]; wenn ich nur strikt das lesen würde, was mich […] in meiner Theorieentwicklung weiterführen würde […], würde ich gar nicht auf Habermas kommen.“ Formal gesehen dreht sich der Streit der beiden demnach um die Frage, ob sie auf demselben Planeten leben oder auf zwei weit voneinander entfernten.
Luhmanns Projekt bestand in der konsequenten „Dehumanisierung der Gesellschaft“ (TkH, Bd. 2, S. 455), also der radikalen Aufklärung über und Destruktion von Akteurs-Fiktionen. Handelnde Menschen stehen in seiner Theorie außerhalb der Gesellschaft und werden von ihren verschiedenen Subsystemen in die jeweils relevanten Sinnbezüge so eingesponnen, dass sie diese „motivlos akzeptieren“. Dieses Bild der selbstreferenziell-unkontrollierten Borniertheit der Teilsysteme ist, wenn man nur an die aktuelle Finanzmarktkrise denkt, immer noch von faszinierendem Deskriptionswert. Dieser Reiz hat sogar manchen dazu geführt, Luhmann als Krisentheoretiker zu rezipieren, als Urheber eines „schwarzen“ Funktionalismus. Analytisch verbindet sich mit Luhmanns Grundidee jedoch die Botschaft, dass die Politik kategorisch unfähig ist, aus der Befangenheit in ihrem eigenen Code („Regierung versus Opposition“) herauszuspringen und andere Systeme unter verantwortliche Kontrolle zu nehmen. Die Systeme selbst sorgen, und sei es mit den Mitteln der „Ideologieplanung“, dafür, dass die Motive ihrer Teilnehmer den Funktionen, die sie erfüllen (also denen der Selbsterhaltung durch Komplexitätsreduktion), nicht in die Quere kommen.
Moderne, im Stadium der „funktionalen“ Differenzierung angelangte Gesellschaften können, so Luhmann, nicht mehr mit politischen Mitteln absichtsvoll auf sich selbst einwirken. Dazu fehlt ihnen das zureichende Wissen über sich selbst oder/und die adäquate Steuerungsfähigkeit. (Vielleicht kann man sagen, dass bei aller Machtfülle der Staatsgewalt die fehlende Selbstbeobachtungsfähigkeit das Problem des Staatssozialismus war, der sich ersatzweise auf die trügerische Praxis der Bespitzelung von Personen verlegte, während er zum self-monitoring mit den Mitteln rationaler Buchhaltung, ganz zu schweigen von den Mitteln freier Publizistik und wissenschaftlicher Forschung, unfähig blieb. Dann wären die Defekte westlicher Kapitalismen genau spiegelbildlicher Art: Sie wissen potentiell alles über sich selbst – nur fehlt es ihnen an den politischen Machtressourcen, mit denen sie auf sich selbst einwirken könnten.) Manchmal scheint selbst Luhmann seine eigene Eliminierung menschlicher Akteure unheimlich zu werden – etwa dann, wenn er sich die Erwägung leistet, moderne Gesellschaften könnten sich evolutionär „verdifferenziert“ haben.
Habermas hat dem gespenstischen Bild vom unbeherrschbaren Treiben monomaner Monaden immer wieder die These entgegengehalten: „Es gibt keine administrative Erzeugung von Sinn.“ (Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 99) Oder: „Geld und Macht können […] Sinn weder kaufen noch erzwingen.“ (Der Philosophische Diskurs der Moderne, S. 421) Als sprachbegabte Akteure können sich die Leute reflexiv von den Sinn-Zumutungen der Systeme distanzieren und sich miteinander darüber verständigen, was als Stabilitätsbedingung jener Systeme (eben keineswegs „motivlos“) akzeptabel ist und was nicht; denn anderenfalls blieben Begriffe wie Stabilität und Selbsterhaltung leer. „Das letzte ‚Motiv‘ ist stets die Überzeugung, dass ich mich im Zweifelsfalle diskursiv überzeugen lassen kann.“ (TkH, Bd. 2, S. 264) Nicht nur seine Schüler verdanken dem Wahrheits- wie dem Ermutigungswert solcher Einsichten viel. Sie haben unserer bangen Hypothese von 1968 über die Heraufkunft einer systemtheoretischen Hegemonie im sozialwissenschaftlichen Denken den Garaus gemacht.