Öffentliche Diskussionen finden heute noch immer weitgehend im nationalen Rahmen statt. Oft sind die Kategorien in unterschiedlichen Ländern anders konnotiert, auch wenn sie etymologisch aus einer gemeinsamen Wurzel stammen oder lexikalisch „korrekte“ Übersetzungen darstellen. Zudem sind auch die jeweiligen Hintergrunderfahrungen und Argumentationswei-sen anders geartet. Sie wirken aus der Außensicht oft befremdlich. Und auch der sogenannte Zeitgeist tritt jeweils in einem anderen Gewand auf.
Dennoch zeigen sich neben zu erwartenden Unterschieden manchmal auch frappierende Ähnlichkeiten. Jürgen Habermas spricht deshalb von der „Transnationalisierung der bestehenden nationalen Öffentlichkeiten“ und skizziert eine (zukünftige) globale Öffentlichkeit, in der „die Grenzen der nationalen Öffentlichkeiten [...] dadurch gleichzeitig zu Portalen wechselseitiger Übersetzungen“ werden. 1 Der folgende Essay will am Beispiel der in Japan seit 1945 geführten öffentlichen Diskurse über die Moderne und Modernisierung Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Japan aus ideenpolitischer Sicht skizzieren und gleichzeitig eine transnationalisierende Übersetzung im obigen Sinne versuchen – unter Berücksichtigung der besonderen Rolle von Jürgen Habermas in der japanischen Debatte.
Kritische Aufarbeitung der Vergangenheit unmittelbar nach dem Krieg
„Ach wie oft haben wir damals die Parole gehört: ‚Weg von der Vormoderne hin zur Moderne, weg von dem Feudalen hin zum Modernen!‘ Das war ein gemeinsames Schlagwort.“ 2 So schrieb 1964 im Rückblick auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre Hidaka Rokurô, 3 einer der damals berühmtesten Soziologen Japans. Viele Intellektuelle haben in den ersten Nachkriegsmonaten und -jahren mitten in Hungersnot und im Überlebenskampf auf der Suche nach den Gründen der japanischen Katastrophe die vormodernen und feudalen Strukturen im Vorkriegsjapan als die entscheidenden Faktoren identifiziert, die die Nation ohne Aussicht auf Erfolg ins kriegerische Abenteuer geführt hatten. Wichtig war auch die mentalitätsgeschichtliche Analyse. Der junge Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Maruyama Masao kritisierte im Mai 1946 in seinem programmatischen Aufsatz „Logik und Psychologie des Ultranationalismus“, der ihn über Nacht berühmt machen sollte, dass bis 1945 in Japan der Staat als ethische Substanz wahrgenommen wurde. Die Folge sei die „wechselseitige Übertragung von Sittlichkeit und Staatsgewalt“. 4 Der historische Hintergrund ist für ihn die in der frühen Meiji-Zeit vorgenommene ideologieplanerische Umfunktionierung der feudalen, aus der Schogunat-Zeit stammenden Tugend der Loyalität zu einer spezifisch japanischen Version des Nationalismus, in dessen Zentrum der Tenno-Kult stand. Nach schonungsloser Analyse dieser in der Mentalität verankerten Struktur proklamiert er am Ende des Aufsatzes nicht ohne pathetischen Ton: „Der 15. August 1945 [der Tag des Kriegsendes, K.M.] war [...] der Tag, an dem das kokutai Japans, die Grundlage des Gesamtsystems des Ultranationalismus, seinen absoluten Anspruch einbüßte. Dem japanischen Volk und den japanischen Bürgern, die jetzt zum ersten Male ein freies Subjekt geworden waren, wurde damit ihr Schicksal in die eigenen Hände gelegt.“ 5
Nun in die Freiheit entlassen, müssen die Bürger eine der modernen Persönlichkeitsstruktur immanente prinzipienorientierte Moral entwickeln, um die Demokratie zu verwirklichen – so ließe sich die Forderung des Autors resümieren. Der Wirtschaftshistoriker Ôtsuka Hisao, neben Maruyama Masao einer der wichtigsten Befürworter der Wende vom Feudalen zum Modernen, sprach von der „Schaffung eines modernen Menschentypus“. Es ging also um ein neu zu bildendes Persönlichkeitsethos in einer nun endlich angekommenen, das heißt von außen her durch amerikanische Okkupation eingeführten Demokratie. Das Wort „Modernisierung“ war in aller Munde. Gemeint war damit Demokratisierung, in Auseinandersetzung mit der eigenen japanischen Geschichte. Es sollte also eher auf eine kulturelle und politische Modernisierung als auf eine wirtschaftlich-industrielle ankommen, weshalb man von dieser Schule auch als der „Nachkriegsaufklärung“ spricht.
Vorbild Max Weber und der bürgerliche Westen
Von heute aus gesehen, sind bei selbstkritischen Diskussionen über die Modernisierung der japanischen Gesellschaft in den unmittelbaren Nachkriegsjahren drei Faktoren wichtig: Erstens stand Max Weber Pate. Über alle individuellen Unterschiede der Matadoren hinweg galt die von Weber beschriebene protestantische Ethik mit ihrer asketischen und methodischen Lebensführung, mit ihrer Betonung auf die in individueller Innerlichkeit zu vollziehende Prinzipienorientierung als ein anzustrebendes Vorbild aus Europa. Für die Paradoxie der Modernisierung, jene Schreckensvision vom völligen Freiheits- und Sinnverlust, die am Ende des berühmten Protestantismus-Buches von Weber thematisiert wird und die für die Frankfurter Schule von großer Bedeutung werden sollte, fehlte jedoch – für die damalige Situation in Japan unvermeidlich – die Sensibilität. Die ironische Distanz, die Weber zu der protestantischen Lebensform an vielen Stellen des Buches anklingen lässt, wurde vermutlich kaum empfunden.
Auffällig war zweitens die Hypostasierung des Ost-West-Gegensatzes im Sinne der Dichotomie zwischen Ostasien und Europa. Die bürgerliche Gesellschaft, die sich im 17. und 18. Jahrhundert im nordwestlichen Teil Europas etabliert hatte, wurde idealisiert, der europäische Weg der Modernisierung verherrlicht, der Individualitätsgedanke, der dort entstanden war, als aneignungswürdig für das defizitäre Japan hervorgehoben. Merkwürdig ist, dass Europa trotz der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und trotz des nationalsozialistischen Massenmordes für die japanischen Intellektuellen von damals an kultureller Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit kaum eingebüßt hatte. Infolgedessen war dieses Bekenntnis zur Moderne gekennzeichnet durch eine Abwendung von Asien und eine Hinwendung zu Westeuropa. In dem auf die vier Hauptinseln zusammengeschrumpften Japan, das sich vom Größenwahn einer großostasiatischen Wohlstandssphäre verabschieden musste, bedeutete die Dichotomie von Ost-West eigentlich nur die von Japan-Westeuropa, der „Rest“ geriet gar nicht in den Blick. Deswegen fand, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, relativ wenig Diskussion über den Umgang mit den Opfern in Asien statt.
Drittens waren diese Modernitätsbekenner für den Großteil des Volkes zu vornehm, sie wirkten mit ihren Europakenntnissen elitär. Viele von den auf Modernität bedachten Meinungsführern waren Professoren der ehemaligen Reichsuniversität Tokio. Sie hatten, darin der ersten Generation der Kritischen Theorie durchaus verwandt, kaum eine Antenne für die subversive Energie, die häufig gerade auch in der Subkultur steckt. Die Wiener Klassik zählte für sie mehr als der von den Jugendlichen begrüßte Jazz und die spätere Rock‘n’Roll-Welle aus Amerika.
Dieser Diskussionsstrang war jedoch stets Zielscheibe der Kritik, zunächst von Seiten der orthodoxen Marxisten, ab den 80er Jahren dann von Seiten der Anhänger der modischen Postmoderne, und darüber hinaus durchgehend seitens der linksradikalen Romantiker.
50er und 60er Jahre: Die Hegemonie der marxistischen Orthodoxie
Anders als in den frühen Jahren der Bundesrepublik waren in Japan nach 1945 Marxisten lange Zeit gesellschaftlich tonangebend. Das wäre in der Adenauer-Republik mit ihrem Gerede vom christlichen Abendland und mit der Heideggerschen Besinnung auf die planetarisch gewordene Technik undenkbar gewesen. In Japan dagegen beherrschten in den 50er und 60er Jahren – neben den eingangs erwähnten, durchaus einflussreichen „Modernisten“ (ursprünglich ein von den Marxisten eingesetzter Kampfbegriff) – orthodoxe Marxisten, die auch „Vulgärmarxisten“ genannt werden können, nicht nur die Szene der Sozialwissenschaften. Ihre Kategorien und Begrifflichkeiten beanspruchten bis in die Literaturwissenschaften und Philosophie hinein Deutungshoheit. Sowohl der späte, verkorkste Lukács als auch der „humanistische“ Marx der Pariser Manuskripte, aber auch die Lesart von Marx’ Philosophie durch Sartre und viele andere Variationen, darunter auch die Imperialismus-Theorie von Lenin und natürlich aus geographischen und historischen Gründen die Schriften von Mao, haben auf je verschiedene Weise die Mentalität der damals von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs zurückgekehrten jungen Wissenschaftler und Intellektuellen geprägt.
Dabei blieb die eigentliche Frage umkämpft und offen: War der japanische Faschismus eine notwendige Folge der modernen kapitalistischen Gesellschaft? Oder war er eher Resultat der japanischen Rückständigkeit? Auch innerhalb der KPJ konnte man sich auf eine gemeinsame Geschichtsinterpretation nicht einigen. 6 Diejenigen, die sich für Japans Rückständigkeit interessierten, konnten mit den Befürwortern einer japanischen Moderne halbwegs zusammengehen. Diese Gruppe von Marxisten vertrat die These, zunächst solle die bürgerliche Gesellschaft etabliert werden, um dann die Revolution des kämpferischen Proletariats herbeizuführen. Im Kampf gegen die noch weiterwirkende feudale Struktur der Vorkriegszeit glaubten diese Anhänger der Doppelstrategie, mit den linksliberalen Theoretikern der Modernisierung so etwas wie eine Volksfront bilden zu müssen.
Viele Marxisten wurden jedoch den Verdacht nicht los, dass die Anhänger des modernen Liberalismus letztendlich dem amerikanischen Muster folgen wollten. Sie unterstellten, dass sich hinter Max Weber, den sie ohnehin nicht mochten, sogar Talcott Parsons verstecke. Inoue Kiyoshi, damals der Doyen der marxistischen Geschichtswissenschaft an der Universität Kyoto, schrieb noch 1963: „Die Modernisten sehen in der bürgerlichen Moderne einen Ewigkeitswert, sie sehen die Bourgeoisie als das letzte Ziel der Entwicklung der Menschheit. Sie ignorieren dabei die Angriffskriege, das Auseinanderdriften von Arm und Reich und die kritische Verschärfung der Entfremdung, also alles, was der bürgerlichen Moderne immanent ist und dem Humanismus und der sozialen Gerechtigkeit zuwiderläuft.“ 7
Die „Modernisten“ waren somit stets mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht radikal genug, ja sogar Helfershelfer der konservativen Regierung zu sein, die nur noch im Dienste des Kapitals arbeite. Diese marxistische Pauschalkritik mit ihrer reduktionistischen Sichtweise ging dann über in die studentische Kritik der späten 60er und 70er Jahre, wobei die linksradikalen Studenten mit ihrer infantilen Revolutionsromantik nicht nur die klassischen Marxisten, sondern auch die „Modernisten“ zur Zielscheibe einer harschen Kritik gemacht haben. Als die Studenten das Büro von Maruyama besetzten, soll dem linksliberalen Politologen spontan das später viel zitierte Wort entglitten sein, nicht einmal die Faschisten hätten so etwas gemacht!
Heiße oder kalte Kultur – die heitere Schwarzmalerei der Postmoderne
Mit Beginn der 80er Jahre wurden die „Modernisten“ von den ebenfalls zur Pauschalisierung neigenden postmodernen Kritikern der Vernunft, wenn auch nicht überrollt, so doch übertönt. 1983 machte ein junger Assistent der Wirtschaftswissenschaften in Kyoto namens Asada Akira mit seinem Buch „Struktur und Macht“ Furore. Diese Arbeit wurde das meistverkaufte philosophische Buch (mehrere Millionen Exemplare) nach 1945, dessen Umsatz später nur noch von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ (die Übersetzung erschien 1995) übertroffen wurde. Der Grundton ist eine am französischen Poststrukturalismus orientierte Modernitäts- und Zivilisationskritik. In den dort gesammelten, an aperçus reichen philosophischen Essays werden mit entwaffnender Leichtigkeit traditionelle Fächergrenzen, wird auch die Grenze zwischen Sub- und Hochkultur übersprungen.
Auffällig ist, dass in dem von der Stimmung der jugendlichen Subkultur lebenden Buch von dem für die Diskussion der Nachkriegsmoderne so maßgeblichen Unterschied zwischen Ost und West überhaupt nicht mehr die Rede ist. Mit von Deleuze/Guattari animierten und mit teilweise dem psychiatrischen Wortschatz von Lacan entlehnten Denkfiguren geht der frühreife Autor, damals erst 26 Jahre alt, von einem anderen Gegensatz aus, nämlich dem von Lévi-Strauss entwickelten Kontrast zwischen „kalter“ und „heißer Kultur“. Die Moderne ist demnach eine heiße Kultur, in der die frühere Menschheitsphase der kalten Kultur mit ihrem jeweils kulturspezifischen stabilen Code nicht mehr gilt. „Durch den Tod Gottes, durch die Enthauptung des Königs, durch die Entwertung der Absolutheit des Vaterwortes begann ja die Moderne, wie jeder weiß.“ 8 In diesem dekodierten Raum rase nur noch ein endloser Prozess der Zeichendifferenzierung vorwärts. „Wo müssen wir aber hingehen, wenn wir die permanente Diktatur der Struktur ablehnen und doch an das souveräne Subjekt nicht mehr glauben?“, 9 fragt sich der Autor, der sich in der subkulturellen Szene wie in der Popmusik, aber auch in Kellertheatern und Studiokinos gut auskennt. Das freie moderne Subjekt, von dem Maruyama 1946 geschwärmt hatte, ist für einen jungen subversiven Poststrukturalisten nichts anderes als eine Illusion. Die Moderne ist für ihn eine cloîture, ein Schließungsmechanismus. Es gibt keinen Ausweg nach außen. Deswegen bleibt uns nichts anderes übrig, als die ordnende und disziplinierende Macht, die der Moderne eigen ist, durch Überschreitung und Exzesse zu beunruhigen, dabei den Überschuss, der sich als das Ausgeschlossene, als das Andere der Vernunft bei jeder Selbst-Schließung der Moderne doch nicht einkesseln ließe, spielerisch zum Tragen kommen zu lassen. Gerade diesen homme non assujetti, diesen homme en procès, 10 habe Nietzsche mit seinem Spielbegriff anvisiert. „Um mit Hegel zu brechen, muss man nicht mit Adorno, sondern mit Nietzsche zusammengehen“, 11 lautet eine der zentralen Sentenzen.
Das Fazit: Man muss stets switchen, also umschalten können, zwischen dem Aussteigen aus der perpetuell leerlaufenden modernen Maschinerie und dem partiellen Wieder-Einsteigen in den sinnlosen Betrieb. Das sei die einzige Spielmöglichkeit.
Hinter diesem innerlich-spielerischen Distanzhalten gegenüber dem Konformitätszwang steckt auch der Spaß an der Vielfalt neuer Lebensstile, die das klassische bürgerliche Verständnis von Familie, zwischengeschlechtlichen Beziehungen und Berufsleben durcheinanderbringen. Mit Heidegger und Gehlen wird der normative Gehalt der modernen Zivilisation relativiert und aus den Angeln gehoben. Das anthropologische Instrumentarium eines Marcel Mauss ebenso wie das eines George Bataille, vor allem die Gabe und die heterologisch konzipierte Verausgabung, werden als schweres Geschütz gegen die geschlossene moderne Tauschgesellschaft aufgefahren. Vom coup de don Derridas ist ebenso die Rede wie von der Fetischtheorie von Marx, wobei Asada sich auf die Lesart von Althusser stützt.
Die Moderne wird reduziert auf technologischen Fortschritt und Sozialtechnologie, von denen der Autor sich mit Hohn und Spott, aber mit gewissen pessimistischen Untertönen, zynisch distanziert. Sozialreformen oder die Bemühungen um einen sozialen Wohlfahrtsstaat, das heißt die Orientierung an der Verteilungsgerechtigkeit, was immer man darunter auch versteht, sind für ihn eine bloße Reparaturarbeit für eine weitere Zurichtung des Nicht-Dressierbaren. Dem normativen Gehalt der Moderne, dessen politische Entfaltung erst in der vitalen Demokratie möglich wird, wird hier gar nicht Rechnung getragen.
Die veränderte Zeitstimmung ist frappierend: In den 50er Jahren, ja noch weit in die 60er Jahre hinein war für viele Intellektuelle, die noch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in frischer Erinnerung hatten, die Moderne ein sehr positiv besetzter Begriff gewesen. Ihre Realisierung galt als oberstes Ziel, schon deswegen, weil man mit dem normativen Potential der Moderne, das heißt mit demokratischen Mitteln, die Wiederkehr des militärischen Imperialismus verhindern wollte. Maruyama sprach über seine Vision der Modernisierung im Sinne der sich nie vollendenden Demokratisierung von einer „permanenten Revolution“. In verachtungsvoller Distanzierung von dieser linksliberalen Diskurstradition suggeriert Asada den jungen Lesern, sie sollten nur noch diesem geschlossenen Kreis entweichen, zumindest an das Außen, an das Andere appellieren in vollem Bewusstsein, dass dieses Andere bloß als Kontingenz ins Gehege der Moderne einbricht – in Form von Kunst, in den dekonstruktivistischen Sätzen und vor allem im Durcheinanderbringen der Ordnung von Sexualität. Insgesamt schienen die inzwischen erreichte Prosperität und die vielen damit einhergehenden neuen Probleme die Vision der Moderne entkräftet und entwertet zu haben, die die Intellektuellen der ersten Nachkriegsgeneration einst beflügelt hatte.
Jürgen Habermas in Japan und das „Projekt der Moderne“
In diese kulturelle Stimmung platzte der große Vortrag von Habermas über das unvollendete „Projekt der Moderne“ herein, der 1982 übersetzt wurde. Das Echo war entsprechend groß, aber äußerst geteilt. Interessant war, dass die unterschiedlichen Reaktionen oft von der jeweiligen Disziplin abhängig waren. Während sich jene Soziologen, die Max Weber ernst nehmen, über die Wiederaufnahme der Modernisierungsdiskussion freuten, waren viele Politologen skeptisch, die sich ohnehin eher für Ausschlussprobleme in der Mikroszene interessieren. Philosophen und Kultur- bzw. Literaturwissenschaftler reagierten oft spöttisch. Insgesamt gab die Kritik großen Aufschluss über die herrschende Psychose tonangebender Geisteswissenschaftler in Japan. Überall war der Eurozentrismus-Vorwurf zu hören. Die in Europa als dem Habermas ureigenen Diskussionsraum entstandene Begrifflichkeit weiterzuentwickeln, ist jedoch keineswegs eo ipso Eurozentrismus. Das jedoch wollten viele nicht akzeptieren.
Der wichtigste Antrieb, der die Arbeiten von Habermas seit seinem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ belebt, ist ja gerade die Suche nach Bedingungen, die symmetrische, universalistisch gültige und damit dezidiert nicht eurozentrische Verhältnisse ermöglichen. Gerade der selbstkritische Teil der japanische Geisteswissenschaftler neigt jedoch dazu, auf jeden auch noch so leichten Hauch europäischer Selbstgenügsamkeit abwehrend zu reagieren; zudem sind diese Intellektuellen als gebrannte Kinder selbst hochsensibel gegenüber nationalen Tönen und demzufolge vorsichtig gegenüber allen Argumenten, die ethnozentrisch klingen könnten.
Kritiker von Habermas gab es aber auch unter jenen, die aus der Tradition der Kritischen Theorie kommen. Anhänger von Adorno bezeichneten Habermas als einen naiven optimistischen Aufklärer, sozusagen den Condorcet in zweiter Auflage. Die marxistische Linke, die früher sehr viel Hoffnung auf Habermas gesetzt hatte (vor allem aufgrund seiner „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“), warf ihm vor, nicht gebührend gegen den Kapitalismuscharakter der modernen Gesellschaft zu Felde gezogen zu sein. Und Feministinnen wiederholten die üblichen Motive.
Doch alle Einwände lassen sich relativ leicht entkräften. Schon im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ geht Habermas ja in seiner Kant-Darstellung auf die Gerechtigkeitsproblematik ein, die sich bei Kant aus dem Ausschluss von Frauen und Kindern aus dem öffentlichen Raum ergibt. Eine kurze, aber eindeutige Distanzierung von Condorcet in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ haben die Kritiker bei uns wohlweislich ignoriert. Das Diskussionsmodell schließlich, das Habermas in seinem Moderne-Vortrag aus der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss ableitet, hätte mehr Anregungen geben können, wenn die Kritiker bereit gewesen wären, sich darauf einzulassen. Und dennoch wollten zahlreiche japanische Intellektuelle Habermas in den 80er Jahren wohl regelrecht missverstehen. Erst aufgrund des von ihm entfachten Historikerstreits (ins Japanische übersetzt erst 1995) und dann mit seinen politischen Stellungnahmen in den Wochen und Monaten vor und nach der deutschen „Wiedervereinigung“ (übersetzt beinahe zeitgleich) sahen vie-le ein, dass sie einem Vorurteil erlegen gewesen waren und dass Habermas’ Vortrag zur Verleihung des Adornopreises 1980 keineswegs ein verstecktes Plädoyer für die imperiale Vernunft gewesen war. Schade, dass es so lange gedauert hat.
Ab Beginn der 90er Jahre setzte sich auch unter den Politologen allmählich die Habermassche Theorie der Diskursethik durch. Doch 1982 konnte davon nicht die Rede sein. Die gelegentlich geradezu abschätzigen Bemerkungen der Postmodernen über die Demokratie waren für die wenigen überlebenden Vertreter der Nachkriegsaufklärung ebenso verblüffend wie die in gewissen Kreisen der Postmoderne aufflackernde links-postmoderne Lesart von Carl Schmitt, die auf denunziatorischer Schadenfreude über die vom Großteil der Öffentlichkeit nicht akzeptierten linksliberalen Diskussionen beruht. Diese Schadenfreude teilen bis heute auch die Anhänger der Empire-Theorie von Negri/Hardt und manchmal ein paar japanische Vertreter der Systemtheorie. 12
Der Hang zum religiösen Okkultismus und nicht eingestandene normative Konnotationen
Ebenfalls 1982, im Jahr des Erscheinens von Habermas’ unvollendetem „Projekt der Moderne“ stand ein Buch mit dem Titel „Mozart in Tibet“ lange Zeit auf der japanischen Beststellerliste. Verfasst von dem jungen Kulturanthropologen und Religionswissenschaftler Nakazawa Shinichi, basierte das Buch auf einer ethnologischen Feldstudie, die der Autor bei den buddhistischen Äbten in Tibet als Klosterbruder durchführte.
Aus der teilnehmenden Beobachtung wird allmählich eine totale Identifizierung mit den Praktiken im Kloster. Die Erfahrung buddhistischer Zauberübungen wie die Annihilation des zivilisatorisch aufgeklärten Selbstbewusstseins, die meditative Durchbohrung des eigenen Gewichtszentrums, nämlich der eigenen Hoden, die Entrückung der eigenen Seele aus dem Leib, bis schließlich diese von der Zimmerdecke auf den bewegungslos liegenden eigenen Körper herunterblicken kann: Lauter solch phantastische Dinge werden in prächtig-schillernder, metaphernreicher Sprache den Lesern dargeboten. Die normale Zeit- und Raumwahrnehmung gilt nicht mehr, sie soll nur in der modernen Zivilisation gelten. Man muss, so der Autor, hinter alle diese konstruierten Regeln gehen, um jene Weltsphäre zu erfahren, wo der Unterschied zwischen Vorher und Nachher, von Oben und Unten, wo die Trennung zwischen Subjekt und Objekt noch nicht anfängt. Und das sei die urbuddhistische Welt in einer tibetanischen Abtei.
Hier meldet sich der esoterisch verstandene Osten zurück. Nur steht hier der Asien-Europa-Gegensatz unter umgekehrtem Vorzeichen. In dieser Hinsicht ist, anders als bei Asada, die Dichotomie von Ost und West übertragen auf die beiden Pole des Westlich-Modernen und des Östlich-Ursprünglichen. Und mit Letzterem soll man in die Postmoderne übergehen – ausgestattet mit einem poststrukturalistischen Begriffsrepertoire. Das Archaische und das Post- bzw. Hypermoderne wirken gegenseitig als Klangboden.
Gemeinsam ist den japanischen Anhängern der Postmoderne aber auch ein zweideutiges Verhältnis, eine schillernde Einstellung zu der damals aufkommenden Informations- und Mediengesellschaft, zur Nintendoisierung des Konsumlebens, zum Paradies der digitalisierten, frei flottierenden Zeichen, aber auch zur Welt der edlen Markenzeichen. Auch hier schwanken sie zwischen Kritik und Affirmation. Einerseits wollen sie dem konformistischen Schub des Konsums elegant aus dem Weg gehen, andererseits schwelgen sie in dieser glitzernden Welt der Simulation, in der virtual reality, als könnte man von hier aus die festgefahrene Moderne aus den Angeln heben und dekonstruieren. Ein normatives Kriterium zu setzen, bleibt ihnen fremd. Mit der Sprache von Sloterdijk gesprochen: Zynismus und Kynismus sind frei kompatibel. Wer heute Zyniker ist, kann morgen Kyniker werden.
Es gibt in der japanischen postmodernen Szene ein vielfältiges Angebot an Cocktails aus diversen Theoriesträngen, etwa die Verbindung von digitaler Welt mit der archaisch-magischen Welt. Nakazawa meint, auf den Hügeln in der Innenstadt von Tokio, auf denen vor mehr als 2000 Jahren Kultstätten der Urbewohner entstanden, ragen jetzt Sendezentren der großen Fernsehgesellschaften hoch. Oft ergötzen sich die Alt-Heideggerianer über die Welt der frei flottierenden Zeichen. Die linken Vertreter der Postmoderne wiederum verbinden die feministische Perspektive mit Semiotik. Einige dieser Cocktails möchte man beinahe mit „Friedrich Kittler“, „Norbert Bolz“ oder „Christina von Braun“ bezeichnen, ohne dass ihre Erfinder sie je gelesen hätten.
Japan war von seinem Ursprung her ohnehin eine postmoderne Gesellschaft – so lautet eine zentrale These der vielen Theoretiker der Postmoderne. Außerdem wurden auch von einigen ihrer Anhänger Rorty und Lyotard regelrecht missbraucht (vor allem Ersterer mit seiner relativistischen Konstruktionstheorie), um die auf soziale Gerechtigkeit und eine differenzierte Demokratietheorie bedachte linksliberale Diskussion als geschichtsentfremdet und seicht zu desavouieren – genau so, wie es Karl Heinz Bohrer in seiner Gadamer-Vorlesung mit seiner tiefsitzenden Ranküne gegen Habermas unter vermutlich bewusster Missachtung der linksliberalen Position von Rorty getan hat. 13
Alle diese Diskurse sind naturgemäß nicht auf die Scharmützel im Feuilleton beschränkt geblieben. Sie hatten durchaus konkrete Folgen. So wirkte Asada eine Zeitlang als Sonderberater der staatlichen Kommunikationsgesellschaft (NTT, das japanische Pendant zur deutschen Telekom) in einer Zeit, wo diese in mehreren Etappen privatisiert wurde, um der heraufkommenden Digitalisierung gerecht zu werden. Und Nakazawa sprach in den frühen 90er Jahren entgegen der öffentlichen Kritik an der Aum-Sekte enthusiastisch von der spiritualistischen Dimension, die diese Sekte authentisch vertrete. Als aber im März 1995 von dieser Sekte tatsächlich ein Anschlag mit dem Gas Salin verübt wurde, geriet er in der Öffentlichkeit in Schwierigkeiten. Als einer, der sich rühmt, alles nicht todernst zu nehmen, meldete er sich beinahe unbeschadet und schnell in der Medienwelt zurück. Er arbeitete auch mit dem späteren Staatsminister für Kultur, Kawai Hayao, einem liberal-konservativen esoterischen Jungianer, zusammen.
Mit diversen Cocktails aus digitaler Popkultur, aus dem Poststrukturalismus entlehnten Denkfiguren, aber auch aus versteckter Sehnsucht nach dem Urtümlichen, aus der Sympathie für die von der Moderne noch nicht erfassten Kulturen und aus einer ambivalenten Begeisterung für die neue markenzeichen-orientierte Konsumkultur handelte man sich, oft ohne dass deren Vertreter es gewünscht hätten, einen am technischen Innnovationsschub orientierten neoliberalen Konservatismus ein.
Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit diesen intellektuellen Impulsen auch die Sensibilität für die vom bisherigen Diskurs der Modernisierungsbefürworter Ausgeschlossenen wuchs, beispielsweise für die Schwulen, für die Lesben, für die Aidskranken – und für die Opfer der japani-schen Invasion in Asien. Damit fand auch die für die japanischen Intellektuellen typische ausschließliche Europa-Orientierung ihr vorläufiges Ende. Nakazawa beispielsweise macht sich neuerdings stark für die Beibehaltung von Artikel 9 unserer Verfassung, der Nicht-Wiederbewaffnungsklausel, die langsam ausgehöhlt worden ist. Er bezeichnet diese Klausel als „Weltkulturerbe“. Und Asada hat sich in den späten 90er Jahren mit Tanaka Yasuo, dem auf Bürgerinitiative hin zum Gouverneur von Nagano gewählten grünen Schriftsteller, solidarisiert. Die von den meisten Vertretern der Postmoderne nicht eingestandenen normativen Konnotationen sind also doch untergründig weiter wirksam.
Kritik an der Modernisierungstheorie und die ethnozentrische Wende
Neben den Angriffen von erst marxistischer und dann postmoderner Seite hatten es die „Modernisten“ mit der Modernisierungstheorie selber schwer genug. Vor dem Hintergrund des in den frühen 60er Jahren sich abzeichnenden ökonomischen Erstarkens Japans hatten die USA damit begonnen, Japan mit bevormundendem Wohlwollen als gelungenes Beispiel der Modernisierung anzusehen. Dahinter verbarg sich aus der Perspektive des amerikanischen Mentors vermutlich die Absicht, aus Japan ein Erfolgsrezept herauszulesen, um dieses auf die Länder der „Dritten Welt“ anzuwenden. Damit sollte vor dem Hintergrund des Kalten Krieges deren Übertritt in das sowjetische Lager verhindert werden. Aus diesem Grund beargwöhnten viele Intellektuelle nicht zu Unrecht die amerikanische Wissenschafts- und Kulturpolitik einer Umarmung Japans. Es war eben eine Zeit, in der die US-Regierung die Zusammenarbeit mit vielen Diktatoren nicht scheute, vor allem mit den Potentaten in Südkorea und auch in Vietnam. Japan spielte in dieser ganzen Kriegsserie als logistischer Stützpunkt eine wichtige Rolle. Und die dadurch möglich gewordenen riesigen ökonomischen Impulse sorgten bei den Linksintellektuellen für ein latent schlechtes Gewissen. Das Gefühl, nicht nur eine bloße Schachfigur im amerikanischen System der Weltpolizei, sondern auch für das unsägliche Elend der Völker in der Region mitverantwortlich zu sein, steckt dem reflexiven Teil der Linksintellektuellen jeglicher Couleur tief in den Knochen. Einen amerikafreundlichen Teil der Linken, zu dem ja auch Habermas gehört, hat es in Japan nie gegeben, bis endlich in den 90er Jahren feministische Diskussionen eine gewisse Katalysatorfunktion für eine intellektuelle Annäherung ausübten.
Aber nicht nur mit der Modernisierungstheorie, sondern auch mit der Modernisierungsrealität taten sich die Modernisten schwer. Die enorme soziale Umstrukturierung, die mit der ökonomischen Prosperität vonstatten ging, ließ die in den 50er Jahren immer wieder angeprangerten „feudalen Überreste“ nicht unberührt. Zusammen mit der damit einhergehenden Urbanisierung war für viele die Prosperität von trügerischer Evidenz für die weitgehend akzeptierte Ansicht, die in Japan ohnehin erfolgreiche Modernisierung komme gut voran. Die aufklärerische Defizit-Theorie, wonach es einer moralisch-zivilisatorischen Erneuerung der politischen Kultur bedürfe, hatte daher keinen Platz mehr. Es verbreitete sich sogar die Auffassung, das Nachkriegsjapan verdanke seinen ökonomischen Erfolg ebenjener eigenen kulturellen Tradition, deren Schutt nach 1945 die „Modernisten“ abtragen wollten. Bereits 1957 stellte der junge Robert Bellah, später einer der wichtigsten Soziologen in den USA, in seinem Buch „Tokugawa Religion – The Values of Pre-Industrial Japan“ die vormoderne Religiosität in Japan quasi gegen den damaligen intellektuellen Strom in einem positiven Licht dar. 14 Eine bestimmte Richtung im religiösen Leben der japanischen Vormoderne erschien Bellah als funktionales Äquivalent für die von Max Weber analysierte protestantische Ethik.
Viele japanischen Soziologen hatten für dieses Buch nur ein Augenzwinkern übrig. Die Modernisierung Japans als Erfolg anzusehen und sich dabei auf die eigene verhasste Tradition zu berufen, war für ihre intellektuelle Phantasie nicht nachvollziehbar. Es überwogen Ratlosigkeit und Verlegenheit. Infolge des anhaltenden Wirtschaftswachstums vollzog sich aber in der Modernisierungsdiskussion tatsächlich so etwas wie eine ethnozentrische Wende, für die die These von Bellah nicht einmal traditionsfreundlich genug war. 15 Auf die vielfältigen kulturellen Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungsdiskurse, die sich, schön kommerzialisiert, sozusagen als Unterhaltungsindustrie verbreiteten und sogar auf die auswärtige Kulturpolitik auswirkten, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 16 Die Ernennung des vorhin erwähnten Kawai zum Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten durch Ministerpräsident Koizumi im Jahre 2002 bildete jedenfalls den Kulminationspunkt dieses sanften Kulturnationalismus.
Kawai, ein jungianisch geschulter Esoteriker, hat in mehreren Aufsätzen „Wesen“ und „Grundcharakter“ der japanischen Nation – angeblich mit der Methode der Psychologie von C. G. Jung – auf ein paar Göttergestalten der Mythologie des 8. Jahrhunderts zurückgeführt. 17 Trotz der primitiven Methoden, die er anwendet, ist er kaum auf ernst zu nehmende Kritik gestoßen. Was würde geschehen, wenn ein deutscher Kulturstaatsminister „Wesen“ und „Grundcharakter“ des „deutschen Volkes“ auf eine germanische Gottheit wie Wotan oder auf das „Faustische“ zurückführte, oder gar den Grundcharakter des „abendländischen Menschen“ auf Zeus oder Prometheus?
Während man in Deutschland die früher oft geführten verhängnisvollen Diskurse über das „deutsche Wesen“, an dem alsbald die Welt genesen sollte, auch dank der philosophischen Begründung der Republik aus dem kritischen Geist der Frankfurter Schule in die Rumpelkammer des 19. Jahrhunderts sperren konnte, wurde in Japan neues Selbstvertrauen mit Hilfe der kulturellen Tradition gebildet – und gerade nicht anhand der neuen politischen Kultur der Nachkriegszeit. Es ist allerdings nicht so, dass – frei nach Max Weber – die alten Götter den Gräbern entstiegen wären, um „nach Gewalt über unser Leben zu streben“. Eher war es so, als würden die alten Versatzstücke aus der Mottenkiste der Großvater-Generation geholt und als Sonntagsschmuckstücke zur Schau gestellt. Keine schrillen martialischen Töne, aber eine Borniertheit, die bis in die Kapillaren des Alltags hineingeht. Dabei herrschte ein erstaunliches Ergänzungsverhältnis: kalte Ernüchterung durch neoliberale Deregulierungswellen und sanfte kulturelle Erwärmungspraktiken.
Was ist die Lektion?
Nun fragt es sich, welche Lehre die schwer gebeutelten Theoriediskussionen in Japan über Moderne und Modernisierungswege aus dieser neueren intellektuellen Entwicklung ziehen sollten. Andersherum gefragt: Wie lassen sich die verschiedenen Debatten produktiv verarbeiten bzw. weiterentwickeln?
Fest steht: Die frühen Nachkriegsdiskussionen der „Modernisten“ waren aus heutiger Sicht nicht differenziert genug. Sie waren allzu sehr auf die Schaffung eines modernen Persönlichkeitstyps fokussiert, wie ihn die damaligen Repräsentanten der Diskussion in der bürgerlichen Gesellschaft in Europa zu erblicken meinten. Großgeschrieben wurde das individualistische „Ethos“, auch das Lieblingswort von Maruyama Masao. 18 Auch wurden das Demokratiepotential der Moderne und die Steigerung der industriellen Produktivität nicht hinreichend getrennt.
Die moderne Gesellschaft theoretisch auszubuchstabieren und nicht nur die erwünschte Persönlichkeitsstruktur zu umreißen, war sicherlich nicht die Aufgabe, die die erste Generation sich selbst gestellt und die die Öffentlichkeit von ihr erwartet hatte. Aber die nachkommende Generation hätte diese Aufgabe übernehmen können. Ein aufmerksamerer Blick auf den staatsinduzierten ökonomischen Wachstumsprozess im eigenen Land hätte mehr an theoretischer Sensibilität für die politischen Verzerrungen, aber auch für Flurschäden im fragilen Alltagsleben mit sich gebracht. So aber wurde die gewaltige ökonomische Expansion teuer erkauft mit einem ständigen politischen Desensibilisierungstraining und Konsensübungen, die so lange funktionierten, wie jede soziale Gruppierung an der Aufteilung des Kuchens teilnehmen konnte.
Mit einem Wort: Rasantes Wachstum ging auf Kosten der vitalen Demokratie, so dass inzwischen manche Intellektuelle das Wort „Demokratie“ nicht mehr über die Zunge bringen, ohne dabei schamrot zu werden. Der theoretische Schnitt zwischen kultureller und gesellschaftlicher Modernisierung, die Betonung des Normativitätspotentials, das nur in der politischen Öffentlichkeit frei entfaltet werden kann, das aber vielerorts blockiert wird, die Ausdifferenzierung der Vernunft in einzelne Wertsphären usw. – all das also, was Jürgen Habermas in seiner monumentalen „Theorie des kommunikativen Handelns“ ausgearbeitet hat, hätte bei größerer Sensibilität auf einen fruchtbareren Boden fallen können, trotz aller Unterschiedlichkeit der Hintergrunderfahrungen zwischen Japan und Deutschland. Der Ansatz von Maruyama, die Modernisierung vor allem als radikale Demokratisierung im Zeichen der individuellen Freiheit und Autonomie zu verstehen, wäre damit besser zum Tragen gekommen.
Die Modernisierungsdiskussion war schließlich oft zu konkretistisch in dem Sinne, dass sie sich bloß empirisch auf einzelne Etappen in einer einzelnen europäischen Region bezog. Was theoretisch versäumt wurde, war die Diskussion über die kulturelle Verankerung der Moderne. Das führte in den 90er Jahren zu einer unfruchtbaren, von Berührungsangst geleiteten Diskussion zwischen den Kommunitaristen und den Universalisten, welche beide etwa das wegweisende Konzept des Verfassungspatriotismus falsch verstanden. Beide gingen davon aus, dass sich ein politisches Gemeinwesen mit bloßer Treue zu den normativen Prinzipien zusammenhalten lasse. Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen 19 haben sie die für Habermas maßgebliche Verankerungsproblematik nicht erkannt. Man denke an die Tatsache, dass die Trennung von Religion und Staat auch unter den europäischen Staaten aus historischen Gründen erstaunlich vielfältige Formen angenommen hat.
In seiner kurzen Rede bei der Entgegennahme des Kyoto-Preises 2004 als einem der bedeutendsten Philosophie-Preise sagte Jürgen Habermas: „Japan was the first among the Eastern empires to assume an avant-garde role in confronting the challenge of modernization, while at the same time adhering to, and intensely drawing from, its own cultural resources. These creative achievements provided the first example for what we now call multiple modernities.“ 20 Tatsächlich redete Maruyama schon 1962 von der Vielfalt der Modernisierungswege, ohne jeden Ton einer expliziten japanischen Selbstbehauptung. Heute käme es darauf an, das von Habermas angesprochene zivilisationstheoretische Konzept der multiple modernities aufzunehmen – ohne dabei, wie in der Vergangenheit oft geschehen, vorschnell die Ost-West-Dichotomie zu essenzialisieren und auch ohne dabei zivilisatorische Differenzen blindlings zu ignorieren. Hier sehe ich eine interessante Möglichkeit für die Weiterführung der Modernisierungsdiskussion.
Jeder auch noch so normativ besetzte Begriff braucht eine motivationale Verankerung in einem jeweiligen soziokulturellen Kontext, um gleichsam leben zu können. Dies ist der Kern der im Theoriegebäude von Habermas so wichtigen begrifflichen Trennung von Norm und Wert, Lebensform und Lebensstil. In Japan harrt dieses durchaus vorhandene begriffliche Repertoire noch seiner konkreten Umsetzung.
Und dennoch: Auch in Japan findet jenseits aller realitätsfernen Diskussionen die Verankerung des Verfassungspatriotismus de facto statt. Die Protestbewegung gegen die kultische Verbeugung unseres Ministerpräsidenten vor dem Yasukuni-Schrein 21 am Tag der Kapitulation war und ist immer wieder von dieser Idee beflügelt. Die Zukunft wird erweisen, ob sich diese Strömungen gegen den grassierenden Kulturnationalismus durchsetzen können. Die Theorie von Jürgen Habermas zählt in diesem intellektuellen Streit jedenfalls zu den wichtigsten Inspirationsquellen auf Seiten der japanischen Aufklärung.