Der Krieg in der Ukraine und Deutschlands historische Verantwortung

Bild: Anne Applebaum auf der Frankfurter Buchmesse 2024, 19.10.2024 (IMAGO / Panama Pictures / Dwi Anoraganingrum)
Es ist mir eine große Ehre, mich in die Gesellschaft der früheren Preisträger einzureihen, vor allem der Schriftsteller, Philosophen und Dichter, die allesamt über die Gabe verfügen, sich andere Welten vorzustellen. Als Historikerin und Journalistin bin ich dagegen jemand, die versucht, diese Welt zu erklären und zu verstehen, was oft weniger inspirierend und befriedigend sein kann. Umso dankbarer bin ich dafür, dass Sie mich in diese illustre Runde aufgenommen haben.
Mein ganz besonderer Dank gilt Irina Scherbakowa, einer außergewöhnlichen Frau, die ihre Laufbahn ähnlich begonnen hat wie ich: mit Interviews mit Überlebenden des sowjetischen Gulag. Wobei sie ihre Forschung zwanzig Jahre vor mir aufgenommen hat, als die Geschichtsschreibung in Russland noch eine gefährliche Angelegenheit war. Ich hatte das Glück, mit meiner historischen Forschung in den 1990er Jahren zu beginnen, als sich Überlebende und Historiker frei äußern konnten und es so schien, als könne auf dem Fundament der historischen Wahrheiten, die Scherbakowa und ihre Kollegen enthüllten, ein neues Russland errichtet werden.
Diese Hoffnung verflog sehr schnell. Ich kann Ihnen sogar den exakten Zeitpunkt nennen, an dem sie sich endgültig erledigt hatte: Es war der Morgen des 20. Februar 2014, als russische Truppen völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim besetzten. Von da an wurde die Arbeit der russischen Geschichtsschreibung wieder gefährlich.