Ausgabe September 1992

Ein spiritueller Bankrott

Vor kurzem hat der Franziskaner Leonardo Boff, eine der wichtigsten Gestalten der Theologie der Befreiung, sein Priesteramt niedergelegt und ist aus dem Orden ausgetreten. Das ist das Ende eines zwanzig Jahre währenden Kampfes mit der Großinstitution, die Boff nach Strich und Faden verwarnt und gemaßregelt, bespitzelt, kontrolliert und schikaniert hat. "Wer sich ständig beugt, wird am Ende krumm", sagte Boff nach Jahren einer nicht ohne List praktizierten Demut. Viele Menschen werden diese Nachricht mit befriedigter Häme aufnehmen; haben sie's doch schon immer gewußt: die Unglaubwürdigkeit der christlichen Kirchen ist schließlich unübersehbar.

So schlau will ich, zur Minderheit derer gehörend, die eine europäische Befreiungstheologie zu entwickeln versuchen, nicht sein. Mich schmerzt das Faktum. Es ist nicht nur eine Niederlage Roms. Es ist auch ein spiritueller Bankrott, der die Basis für Befreiungsarbeit schmälert. Die seit etwa einem Vierteljahrhundert bestehende lateinamerikanische Theologie der Befreiung läßt sich in mancher Hinsicht mit den vorreformatorischen Bewegungen oder gar der Reformation in Europa vergleichen: eine andere soziale Klasse meldet sich zu Wort, die Marginalisierten der Elendswelt organisieren sich zu Basisgemeinden, "Stumme fangen an zu reden".

September 1992

Sie haben etwa 20% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 80% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Immer jünger, immer rechter: Teenager mit Baseballschlägern

von David Begrich

Ihre Haare sind kurz, gescheitelt und streng gekämmt. Sie zeigen den White Power- oder gar den Hitlergruß. Ist der Aufschwung der rechtsextremen Jugendszene wirklich etwas Neues – oder nur eine Fortsetzung neonazistischer Gewalt?

Maskulin und libertär

von Stefan Matern, Sascha Ruppert-Karakas

Echte Männer sind rechts“ – das auf Social Media viral gegangene Video des AfD-Politikers Maximilian Krah ist mehr als nur ein lapidares Bekenntnis zu traditionellen Familien- und Geschlechterrollen. Es ist vielmehr der strategische Versuch, junge Menschen niedrigschwellig an AfD-Positionen heranzuführen. Im provokanten Politainmentstil bespielt die Partei auf den digitalen Plattformen unpolitisch anmutende Themen rund um die Probleme und persönlichen Unsicherheiten junger Männer.