Ausgabe Oktober 1995

Schützt die Mehrheit!

Die Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kreuz-Verordnung des bayrischen Kultusministeriums war für jeden, der das Grundgesetz kennt, erstaunlich. Das Gericht hat wenn man von mißverständlichen Formulierungen in den "Leitsätzen" einmal absieht - nichts anderes gesagt, als was seit jeher dem Verfassungsverständnis entspricht. Aufgabe des Gerichtes war es in diesem Fall, das Recht einer Minderheit, jedenfalls in Bayern, durch sein Urteil zu schützen. Der Besuch der Grundschule ist obligatorisch. Die Mehrheit der Familien kann sich private Schulen, die Schulgeld kosten, nicht leisten. Der Staat aber hat nicht das Recht, ein Glaubenssymbol wie das Kreuz aufzuzwingen. Nur gegen diesen Zwang hat sich das Urteil gewandt. Die Anregung oder auch eine "Soll-Bestimmung" statt eines "Muß" wäre durchaus verfassungskonform gewesen. Der Rechtsstaat schützt die Minderheit, Mehrheiten brauchen diesen Schutz nicht. Zu den weitverbreiteten Mißverständnissen in unserer Gesellschaft gehört die Annahme, das Mehrheitsprinzip sei die einzige Norm sozialen Zusammenlebens. Schon mehrfach hat das BVG kleine Minderheiten gegen Bedrückung oder Verurteilung - auch durch Gerichte - in Schutz genommen. Die Urteile zur Bewertung des Tucholsky-Zitats "Soldaten sind Mörder" und der Sitzblockade von Mutlangen als "Nötigung" (Paragr.

Oktober 1995

Sie haben etwa 19% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 81% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Frieden durch Recht

von Cinzia Sciuto

Am Anfang stand der 11. September 2001. Danach wurde die Lawine losgetreten: Ein langsamer, aber unaufhaltsamer Erdrutsch erfasste die internationale rechtliche und politische Ordnung. Ein Erdrutsch, der nach und nach die supranationalen Institutionen und die stets fragile, aber nie völlig illusorische Utopie einer friedlichen und auf dem Recht basierenden Weltordnung tief erschüttert hat