Ausgabe November 1996

Gesellschaftsverträglichkeit

Vielleicht hat sich Jürgen Schrempp ja mit seinem Vorpreschen in Sachen Lohnfortzahlung um die Republik verdient gemacht. Sicher haben es die 20 000 Daimlerbeschäftigten getan, die am 5. Oktober - ohne einen einzigen Streikposten oder Streikbrecher - den wochenendlichen Sonderschichten einfach fernblieben und ihrem Chef die Gegenrechnung aufmachten: 120 Millionen durch Kürzung der Lohnfortzahlung erhoffte Ersparnis p.a. kosteten Daimler an einem Wochenende 200 Mio. DM Produktionsausfall. Über die Motive der Kontrahenten und die Reichweite ihrer Überlegungen braucht in diesem Zusammenhang nicht spekuliert zu werden: Das statuierte Exempel, die gewollte Kraftprobe und der Ausgang der ersten Runde, haben Fragen bloßgelegt, die über die künftige Verfaßtheit der Bundesrepublik mitentscheiden, gewiß folgenschwerer als die (Nicht-) Entscheidungen jener Gemeinsamen Kommission von Bund und Ländern zur Verfassungsreform "nach der Einheit".

Der Vorstoß ins Spannungsfeld zwischen Gesetz und Vertrag, zwischen Parlament und Regierung (die man in Deutschland gern exekutivlastig unter "der Staat" subsumiert) sowie der bürgerlichen Gesellschaft, den mehr oder weniger organisierten Individuen auf der anderen Seite, hat nicht nur in Erinnerung gerufen, daß Zündeln Feuer zur Folge haben kann.

November 1996

Sie haben etwa 11% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 89% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Frieden durch Recht

von Cinzia Sciuto

Am Anfang stand der 11. September 2001. Danach wurde die Lawine losgetreten: Ein langsamer, aber unaufhaltsamer Erdrutsch erfasste die internationale rechtliche und politische Ordnung. Ein Erdrutsch, der nach und nach die supranationalen Institutionen und die stets fragile, aber nie völlig illusorische Utopie einer friedlichen und auf dem Recht basierenden Weltordnung tief erschüttert hat