Gleichermaßen ratlos stehen BürgerInnen und PolitikerInnen in Ost und West vor einer grundlegend neuen Situation. Die Auflösung der bipolaren Weltordnung hat ungeahnte Konsequenzen. Besonders in Europa werden sie offenkundig, da hier der Ost-West-Gegensatz seine augenscheinlichsten und seine tiefsten Wirkungen hatte. Eine jahrzehntelange Fixierung auf diesen Gegensatz, aber auch die reale Differenz der ökonomischen Systeme, haben auf beiden Seiten politisch-kulturelle Verhaltensmuster erzeugt, die heute trotz entschieden veränderter Realität weiterbestehen, quasi in der Luft hängend - oder die sich in Angst und fatalistische Orientierungslosigkeit verwandelt haben. In bestimmter Weise sind die Spannungsfelder zwischen dem (armen) östlichen und dem (reichen) westlichen Europa heute explosiver als zu den Zeiten, in denen sie im globalen Systemgegensatz sich ausdrückten und damit politisch kalkulierbar erschienen.
Die ehemals in der gegenseitigen Nukleardrohung symbolisch gebündelte bipolare Ost-WestSpannung ist heute aufgelöst, erscheint aber neu in Gestalt multipolarer Gegensätze und real existierender Bürgerkriege im Osten sowie zunehmender Angst vor Sozialabbau, "Überfremdung" und gesellschaftlicher Destabilisierung im Westen.