Ausgabe Oktober 2022

Endspiel um die Demokratie: Von Gorbatschow zu Putin

Ein Wandgemälde in Rom zeigt ein hypothetisches Time-Magazin-Cover, auf dem das Gesicht von Wladimir Putin mit einem Muttermal auf dem Kopf in Form der Ukraine abgebildet ist (in Anlehnung an das Muttermal von Michail Gorbatschow), 17.2.2022 (IMAGO/ZUMA Wire, Marilla Sicilia)

Bild: Ein Wandgemälde in Rom zeigt ein hypothetisches Time-Magazin-Cover, auf dem das Gesicht von Wladimir Putin mit einem Muttermal auf dem Kopf in Form der Ukraine abgebildet ist (in Anlehnung an das Muttermal von Michail Gorbatschow), 17.2.2022 (IMAGO/ZUMA Wire, Marilla Sicilia)

Als vor 35 Jahren, am 27. Januar 1987, der mit 55 Jahren für sowjetische Verhältnisse blutjunge Generalsekretär der KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, auf dem Plenum des Zentralkomitees seiner Partei für deren Öffnung und Demokratisierung plädierte, wurde diese Rede umgehend als historisch begriffen und mit der legendären Abrechnung Nikita Chruschtschows mit dem Stalinismus 1956 verglichen. „Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen, denn sonst werden unsere Politik und die Umgestaltung ersticken“, so der drängende Reformer. „Einen anderen Weg haben wir nicht. [...] Zurück dürfen und können wir nicht.“[1] Hier deutete sich bereits jenes legendäre „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ an, das Gorbatschow Erich Honecker zur Feier des 40. Geburtstags der DDR am 7. Oktober 1989 angeblich[2] entgegenhielt – wenige Tage bevor die Mauer fiel. Insofern war das eigentliche annus mirabilis weniger 1989 als vielmehr das Jahr 1985, in dem der freiheitlich gesinnte Gorbatschow nach den stalinistischen Hardlinern an die Spitze des Herrschaftsapparats gelangte und anschließend das im Westen für unmöglich Gehaltene unternahm: die Öffnung des autoritären Riesenreiches für Glasnost und Perestroika, Transparenz und Umgestaltung.

Zugleich sorgte Gorbatschow damit auch für die Befreiung der mittel- und osteuropäischen Staaten und, wenn auch durchaus ungewollt, für das Ende der Sowjetunion. Vor allem deshalb ist der am 30.

Oktober 2022

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1.00€)
Digitalausgabe kaufen (11.00€)
Druckausgabe kaufen (11.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte, islamistische und linksradikale Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.

Was der Westen nicht wissen will

von Steffen Vogel

Es ist eine von jenen scheinbar unwichtigen Nachrichten, die rückblickend wie ein übersehenes Vorzeichen wirken können: Anfang Mai erschien in Russland ein Buch, zu dem Außenminister Sergej Lawrow ein Vorwort beisteuerte. Die These des von Regimeseite derart gewürdigten Werkes: Eine litauische Nation und Sprache gebe es nicht.