Ausgabe Januar 2026

Vom Einsturz zum Aufbruch: Die Protestbewegung in Serbien

Bürger:innen und Studierende gedenken in Novi Sad den 16 Opfern, die vor genau einem Jahr beim Einsturz des Bahnhofsdachs ums Leben kamen, 15.10.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire)

Bild: Bürger:innen und Studierende gedenken in Novi Sad den 16 Opfern, die vor genau einem Jahr beim Einsturz des Bahnhofsdachs ums Leben kamen, 15.10.2025 (IMAGO / ZUMA Press Wire)

Rund 110 000 Menschen füllen am 1. November die Fläche vor dem Hauptbahnhof in Novi Sad, um der Opfer zu gedenken, die ein Jahr zuvor unter dem einstürzenden Vordach starben. Für die seit Monaten Protestierenden steht der Einsturz nicht für ein bauliches, sondern für ein politisches und gesellschaftliches Versagen: ein sichtbares Symbol für Korruption und ein zunehmend autokratisches System. Punkt 11:52 Uhr – dem Zeitpunkt des Unglücks – schweigt die Menge 16 Minuten lang. Danach singt ein Chor ein Trauerlied, Blumen werden niedergelegt. Die größte Demonstration in der Geschichte der 300 000 Einwohner zählenden Stadt ist im Kern eine pietätvolle Trauerfeier.

Vielleicht wären die Proteste nie so groß geworden, hätten Präsident Aleksandar Vučić und sein System anders auf das Unglück reagiert. Der Einsturz ereignete sich an einem frisch renovierten Bahnhof, der kurz zuvor gleich zweimal – 2022 und 2024 – eröffnet wurde, um Stoff für zwei Wahlkämpfe zu liefern. Verantwortliche behaupteten nach dem Einstur, das Vordach sei nicht Teil der Renovierungsarbeiten gewesen – eine schnell widerlegte Lüge. Rasch standen Korruption und eine politisch motivierte, zu frühe Eröffnung im Raum. Bei ersten Demonstrationen kam es zu massiver Gewalt und Repressionen gegen friedlich Protestierende. Die Gewalt ging dabei häufig nicht von der Polizei aus, sondern von regierungsnahen Hooligans.

»Blätter«-Ausgabe 1/2026

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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