Ausgabe November 1991

Das Jahr Eins ist vorbei

Langsam begreift es das Ausland. Deutschland ist feige geworden. Ganz anders als befürchtet.

So ist es ihnen auch wieder nicht recht. Im Golfkrieg: Lieber die Rechnung mit verdoppeltem Trinkgeld bezahlen als mit dem Säbel zur Bagdadbahn stürmen. In Jugoslawien: Wir sind unbedingt dafür, dort Truppen hinzuschicken, aber selbst den Sheriffsposten zu übernehmen, erlaubt uns leider unsere Verfassung nicht. In Hoyerswerda: Der Rechtsextremismus ist gewalttätig, aber feige und defensiv. Er will nicht fremde Länder erobern, sondern die Fremden heraushalten. Die Sozialbezüge sollen nicht für sie da sein, sondern für uns. Kein Politiker sagt ihnen laut und fernsehdeutlich, daß "Ausländer" mehr in die soziale Kasse zahlen, als sie aus ihr entnehmen. Die Schläger setzen sich auch lieber mit Frauen und Kindern am Stadtrand auseinander als mit bewaffneten Feindtruppen im Orient. Ich höre hier in Harvard viele politische Vorträge. Daß Deutschland sich seinen Verpflichtungen entziehen könnte, ist hier die größere Befürchtung, als daß es wieder Kanonenboote ausschicken könnte. Daß es seine überlegene Macht nicht einsetzen könnte. Die USA, sagt ein kluger Analytiker hier, sind die letzte Supermacht, eine mit Klumpfuß und leerem Geldbeutel.

November 1991

Sie haben etwa 19% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 81% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die neue Merz-Doktrin?

von Jürgen Trittin

Jahrzehntelang durfte in keiner Grundsatzrede eines deutschen Politikers in Regierungsverantwortung der Satz fehlen: „Wir setzen auf die Stärke des Rechts statt auf das Recht des Stärkeren.“ Doch das war einmal. Bundeskanzler Merz‘ lautstarkes Räsonieren über den Krieg Israels gegen den Iran markiert den Bruch mit dieser Tradition.

Eigennutz statt Solidarität

von Klaus Seitz

Etwa eine Milliarde Euro weniger als im vergangenen Jahr steht dem Bundesentwicklungsministerium 2025 zur Verfügung. Doch nicht nur der Spardruck macht der Entwicklungszusammenarbeit zu schaffen, auch die strategische Neuausrichtung gefährdet ihre Zukunftsfähigkeit.

Besser als ihr Ruf: Die europäische Afrikapolitik

von Roger Peltzer

Schon unter Angela Merkel hat der afrikanische Kontinent in der deutschen Bundesregierung große politische Aufmerksamkeit erfahren. Die Ampelregierung setzt diesen Kurs fort: Seit seinem Amtsantritt reiste Bundeskanzler Olaf Scholz jedes Jahr nach Afrika.