Ausgabe Mai 1992

Ansprache von Prof.Dr.Helmut Ridder auf der Trauerfeier für Prof.Dr. Gerhard Riege am 5.März 1992 im Luther-Haus zu Jena (Wortlaut)

Sehr verehrte liebe Frau Riege, verehrte Familie Riege, sehr geehrte Freunde Kollegen, Mitarbeiter und Schüler von Gerhard Riege! Ich danke Ihnen allen dafür, daß ich in dieser unwiederholbaren Stunde zu Ihnen sprechen darf. Wir haben uns hier nicht versammelt, um von Gerhard Riege Abschied zu nehmen oder ihn gar zu verabschieden. Wir wollen verstehen, was wir betrauern, und bedürfen dazu seiner Hilfe.

Noch sind wir dabei, Fäden der Erinnerung und der Erwartung zu einem immer deutlicheren Bild zu verknüpfen, das wir, seiner gedenkend, mitnehmen und nicht unter den Scheffel stellen wollen. Wir wissen, daß die irdische Zeit nur kommt und geht und nicht verweilt. Wir wissen, daß Geschichte die Existenzweise der aus jüdischen, antiken und christlichen Wurzeln hervorgegangenen und recht eigentlich erst durch ihre Häresien lichter werdenden europäischen Zivilisation ist und daß sie dadurch wird, daß die Menschen und Gesellschaften, um überhaupt leben zu können, sich immer eine Gegenwart erschaffen müssen. Wir wissen daß der Weitergang der Geschichte dadurch bestimmt wird, wie es schon bei der Erschaffung der Gegenwart mit der Stärke und Unbefangenheit der Einsicht in die nie mehr zu verändernden Geschehnisse der Vergangenheit und der Ehrlichkeit des daraus in Ansehung von Möglichkeiten der Zukunft hergeleiteten Wollens und Handelns bestellt ist.

Wir wissen, daß das Leben und Wirken des Professors Gerhard Riege, der die Pflichten seines Lehre und Forschung miteinander verbindenden Hochschulamts geliebt hat, jetzt auch eine Vergangenheit ist, über deren zukunftweisende Gegenwartsmächtigkeit wir durch unseren Umgang mit ihr mitentscheiden. Es gibt in dem durch seine Veränderungen nach Maßgabe wachsender Erkenntnis, vermehrter Erfahrung und verfeinerter Sensibilität für Zeichen an der Wand mit sich selbst gerade identisch bleibenden wissenschaftlichen Lebenswerk von Gerhard Riege keine "Wende". Dieses vom Denken dispensierende neue deutsche Unwort ohne genitivus subiectivus und genitivus obiectivus, dieser gängigste Chip in der Hektik eines demoralisierten politischen Zahlungsverkehrs diese semantische Hülse, die alle Realitäten des demokratischen Aufbruchs in der DDR und des Prozesses der "deutschen Vereinigung" verschluckt, paßt zu den Mitläufern, von denen die eiligsten sich sogar darauf verstehen, wie man schon heute Mitläufer von morgen werden kann.

Nicht paßt sie zu dem Professor, der die Geschichte seiner Universität Jena sehr genau kannte und stolz darauf war, daß sie auf dem höchsten Gipfel der Entfaltung von zukunftsoffener idealistischer Philosophie von den Wächtern der Heiligen Allianz als "Jakobiner-Universität " angeschwärzt - und derart mitsamt ihrem großherzoglichen Patron Karl August unfreiwillig geehrt worden ist. Professor Riege, der Kommunist, war zutiefst davon überzeugt, daß mit der nachgerade zwangsläufig der Gründung der BRD folgenden Gründung der DDR der historisch allein richtige Ansatz für den Aufbau einer vor jedem Rückfall in die Barbarei nach innen wie nach außen gesicherten deutschen Staatlichkeit gefunden worden sei.

Die institutionellen Ausformungen von Sozialismus in der DDR hielt er für notwendig. Und da er Weg und Ziele bejahte, konnte ihm nicht einmal der Gedanke kommen, das System durch "Überlistung" beseitigen zu wollen - ein Verfahren, in dem nach dem Ende der DDR so mancher meint oder behauptet, sich versucht zu haben. Nein, es ging Gerhard Riege in seinen Schriften wie in seiner Lehre - und insoweit auch ganz ähnlich wie einer Vielzahl seiner Kollegen - von den Mühen der Ebene bis zum TheoretischPrinzipiellen darum, wie in diesem System, das ohne Machtbildung aus der Gegenwelt des Kapitals weder durchzusetzen noch zu erhalten gewesen wäre, dem offensichtlichen, aber zu seinem eigenen Schaden geleugneten Defizit an effektiver Demokratie und Rechtsschutz für die Bürger abzuhelfen sei. Alle größeren Arbeiten Rieges, mögen sie nun die Staatsbürgerschaft oder die Souveränität oder was immer sonst zum Thema haben, umkreisen immer wieder und im Laufe der Zeit immer stärker die mit dieser bedrückenden Problematik gegebene Ineinanderschürzung der gordischen Knoten des sog. demokratischen Zentralismus, der sog. sozialistischen Gesetzlichkeit, der sog. Machtfrage.

Dabei profiliert sich allmählich immer mehr auch die Individualität eines in rechtspolitischer Absicht schreibenden Autors, der die vorhandenen Machtstukturen als notwendige Tatsachen in Rechnung stellt, ohne sich mit ihrem zynischen oder blinden Gebrauch abzufinden; die von einer geradezu wilhelminischen Borniertheit heimgesuchten Tölpel des Hurra und "Es ist erreicht" Sozialismus haben es ihn fühlen lassen. Die etablierte Macht hat dem Rechtspolitiker riege, der nicht nur im stillen Kämmerlein über die Organisation der Machtkontrolle und die Aktivierung der örtlichen Gemeinschaften nachdachte, manchen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Es traf keinen blinden Ignoranten, sondern einen geschichtsbewußten Juristen, der sich als Rechts- und Systemvergleicher auf die Tiefendimension des realen Funktionierens verstand und auch wußte, daß und wie Mechanismus der Machtkontrolle ihrerseits wieder politisch mißbraucht werden können, wo sie installiert sind. Gerhard Riege war ein sozialistischer Patriot der DDR, der immer genau hinsah und wußte, in wie hohem Maße die Probleme seines Landes hausgemacht waren und mit welchen triftigen Gründen der Vorwurf, ihrem Sozialismus fehle "das menschliche Antlitz", aufwarten konnte, der aber auch ganz genau wußte, daß die aus diesem Vorwurf Kapital schlagende Politik vor allem eines zu befürchten hatte und deswegen zu verhindern entschlossen war, nämlich die durch keine physisch ausgestattete Macht zu überwindende moralische Autorität eines Sozialismus mit unanzweifelbar menschlichem Antlitz.

Ist das alles belanglos geworden, nachdem es keine DDR und (wohlgemerkt in europäischer Sichtweite) auch keine anderen Staaten mit funktionierenden sozialistischen Systemen mehr gibt? Gehören Gerhard Rieges Schriften in die Museumsschränke einer landfremd werdenden Universität? Oh nein! Sie werden benötigt, wenn es vorbehaltlos und ernsthaft an die vielberedete Aufarbeitung der DDR-Geschichte gehen soll, die zur Zeit nicht stattfindet, da sie nur als integrierender Teil der (eben nicht stattfindenden) dialogischen Aufarbeitung der schlimmen gesamtdeutschen Geschichte des ganzen Jahrhunderts möglich ist. Als solche hatte sie aber doch längst vor der kurz und irreführend so genannten Wende und vor der kurz und irreführend als Beitritt der DDR bezeichneten Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten begonnen. Im fatalen und trügerischen Siegesrausch der einen im Westen und im fatalen und trügerischen Unterwerfungsjammer der anderen im Osten scheint das dem Gegenwart konstituierenden Bewußtsein der Deutschen verloren gegangen zu sein. Erinnern wir uns doch: 20 Jahre lang hatten die beiden deutschen Nachkriegsstaaten, alles andere als ohnmächtige und von zwei feindlichen Supermächten kommandierte und an die Frontgeschickte Vorposten, zu Lasten der Menschen in konfrontativer Symmetrie gemeinsam die ideologische Zentralheizung des permanenten Kalten Krieges für die ganze Welt eingerichtet und bedient.

Dann aber begannen, nachdem schließlich auch die sich am heftigsten sträubende BRD an den Verhandlungstisch der globalen Entspannungsbemühen getragen werden konnte, 20 Jahre der hilfreichen sog. menschlichen Erleichterungen, begann zaghafte Normalisierung, gab es Ansätze zum Dialog, zur Belebung der wissenschaftlichen Kontakte, des künstlerischen Austauschs usw.

So klein und langsam das alles heute erscheinen mag, und so sehr es auch einseitig propagandistisch ausgebeutet oder verwässert worden ist, besagt das doch nichts gegen die Richtigkeit der damit eingeschlagenen Richtung. Nur die Spätgeborenen der DDR können nicht würdigen, wie wohltätig sich unter den Bedingungen des waffenstarrenden Machtgleichgewichts der "Blöcke", des "Gleichgewichts des Schreckens", der Beginn eines zivilisierten Umgangs der beiden deutschen Staaten miteinander auch auf die Lebenswelt der DDR ausgewirkt hat. Am Beginn dieses Zeitabschnittes steht für ganz Deutschland der Abschluß des Grundlagenvertrags der BRD mit der DDR und ein Abkommen der vier vormaligen Besatzungsmächte über Berlin. Warum schämt man sich all dessen?

Warum hat die BRD genauso wie die über die deutsche Vereinigung verhandelnde DDR das alles 20 Jahre später verdrängt? Ist es nicht schlimmer, sich einer guten Tat zu schämen, als eine schlimme Tat zu begehen? Wollte man wieder einmal die unbestechliche Geschichte überlisten, wie die beiden deutschen Staaten sich zuvor 20 Jahre lang überlisten wollten? Herausgekommen ist dabei eine Vereinigung, die so aussieht, als ob die BRD auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die DDR erobert hätte, weswegen unter dem Stichwort "Aufarbeitung" denn auch nur ein Gerichtstag des "Rechtsstaats" über die DDR vorbereitet wird.

Doch mit dieser von der Gelegenheit des Machtverfalls in der DDR gemachten wendigen Vergeßlichkeit ist die Geschichte nicht im Bunde, aus der sich auch die volle Wahrheit über jene 20 Jahre der Entspannungsbemühungen und -behinderungen nicht ausklammern läßt. Gerhard Riege erscheint in diesen beiden Jahrzehnten als ein fachliterarischer Blockadebrecher mit seinem Buch über die Staatsbürgerschaft der DDR, das im Westen nicht weggewischt, sondern ernst genommen wird. Gerhard Riege habe ich es zu danken, daß er mich in dieser Zeit mit seiner Universität, an der ich als Student im Kriegsjahr 1939 schreckliche und groteske Darbietungen deutscher Knecht- und Tagesseligkeit erlebt habe, wieder in eine nähere Verbindung gebracht und zum freundschaftlich-heftigen Streiten verlockt hat, so zum Streit darüber, ob und wann und wo und wie und unter welchen Gegebenheiten das formalisierte Verfassungsrecht nach sei es "sozialistischen", sei es anderen "Wert"Orientierungen ohne Gefährdungen des gemeineuropäischen Zivilisationspegels wieder rematerialisiert werden dürfe.

Beim besten Willen zum Streit gar nichts zu streiten gab es zwischen uns über das, was ich vor nunmehr vier Jahren in der Aula seiner - und jetzt darf ich sagen, auch meiner - Universität zum Programm der "Aufarbeitung" der jüngsten deutschen Vergangenheit mit den Mitteln der wissenschaftlichen Wahrheitssuche gesagt habe und hier wörtlich zitieren möchte - ich zitiere also jetzt ihn und mich. Ich sprach da vom "Abbau der aus der Konfrontation entstandenen" Unnormalitäten. "Die Genese dieser Unnormalitäten mit den Mitteln der wissenschaftlichen Wahrheitssuche angehen heißt, sich vor sich selbst, im Verhältnis zueinander, vor der Welt und vor der Geschichte ehrlich machen, nicht an Wunder glauben, sich nicht darüber wundern, daß es keine Wunder gibt, einsehen, wes a-demokratischen Geistes Kind diese Deutschen in ihrer Gesamtheit waren, die sich nicht als Gesamtheit zum Widerstand gegen die Machthabenden jener zwölf Jahre erhoben haben... und daß sie sich am 8. Mai 1945 nicht über Nacht eine andere Ideologie angezaubert haben." Ich sprach also über den "völligen ideologischen Gleichstand der Deutschen des Jahres 1945", aus dem heraus die beiden 1949 gegründeten deutschen Nachkriegsstaaten ihre unterschiedlichen Wege angetreten haben, den Weg der entnazifizierenden Systemrestauration auf der einen und den "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" genannten Weg auf der anderen Seite, und darüber, was auf diesen Wegen auf der Strecke geblieben ist.

"Damit muß man fertig werden, und mit den daraus erwachsenen, je spezifischen Problemen und Defiziten in Sachen Menschenrechte, Demokratie und demokratische Gesetzlichkeit, bei deren Bewältigung auch kein Staat den andern vertreten darf, über die aber jeder öffentlich verhandeln muß, schon um die Giftküche dicht zu machen, in der die Konfrontation an den Problemen der anderen Seite gewärmt wird." Unter sehr veränderten Bedingungen nicht des ideologischen Befunds, aber der Machtverhältnisse, brodelt die Giftküche heute mehr als damals. Betrieben wird sie von den Philistern Gesamtdeutschlands, vor denen wir damals warnten und die Gerhard Riege, der Moralist, jetzt über sich sah. Zu deren sicherer Überwindung hat er mit seinem Leben und mit seinem Tod jeden von uns auf unbedingte Ehrlichkeit vor sich selbst und vor der ganzen Mitwelt in die Pflicht genommen.

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