Vom Verlust sozialwissenschaftlicher Urteilskraft in Deutschland
Es ist still geworden um die Soziologie. Die letzte soziologische Deutungsfloskel, die von der Risikogesellschaft, verhallt wie Hohn in den neuen Bundesländern. Die beiden großen theoretischen Entwürfe der neueren deutschen Soziologie bewähren sich im Vereinigungsprozeß nicht. Habermas' Theorie der kommunikativen Kompetenz wird der sozialen und wirtschaftlichen Not in den östlichen Lebenswelten kaum ihre Sprache andienen können. Luhmanns Systemtheorie verbreitet eine Grundstimmung existentialistischer Entfremdung, die ihre ursprüngliche Intention, entfremdete bürokratisch-organisatorische Problemlösungshandlungen zu erleichtern, längst desavouiert. Die westdeutsche Soziologie hat seit den 70er Jahren eine wechselvolle Geschichte durchlaufen. Nach Hoffnungen aus den Anfängen der sozialliberalen Koalition, die Soziologie könne zu einer etablierten Politikberatungswissenschaft in Sachen Lebensqualität (Sozialindikatorenbewegung), Strukturpolitik ("Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel") und nicht zuletzt in Sachen Abfederung der sozialen Folgen von Rationalisierung und Automatisierung (Aktionsprogramm "Humanisierung der Arbeitswelt") werden, wird längst von ihrer Krise gesprochen.