Am 8. April 1993 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, Anträgen von SPD und FDP zu folgen und eine einstweilige Anordnung gegen die Bundesregierung zu erlassen, die sich am 2. April 1993 mit dem Einsatz deutscher AWACS-Soldaten bei der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossenen militärischen Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina einverstanden erklärt hatte. Die Entscheidung fiel mit 5 zu 3 Richterstimmen. Wir dokumentieren nachstehend den wesentlichen Teil B der Urteilsbegründung. D. Red.
(...) Eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen.
1. Nach Paragr. 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist (vgl. auch BVerfGE 83, 162 (171 f.)). Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86, 390 (395); st. Rspr.).
2. Der Antrag der Antragsteller im Verfahren 2 BvE 5/93 und der angekündigte Antrag der Antragstellerin im Verfahren 2 BvQ 11/93 gegen die Bundesregierung sind weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Diese Anträge sind insbesondere nicht deshalb unzulässig, weil es etwa an einer Maßnahme im Sinne des Paragr. 64 Abs. 1 BVerfGG fehlte. Der Beschluß der Bundesregierung vom 2. April 1993 stellt eine solche Maßnahme dar. Er entscheidet mit rechtserheblicher Wirkung über die Teilnahme deutscher Soldaten an der Überwachung und Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch den NATO-AWACS-Verband nach Maßgabe der Resolutionen 781, 786 und 816 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Seine Umsetzung bedarf, wie sich auch aus der mündlichen Verhandlung ergeben hat, selbst dann keiner erneuten Beschlußfassung durch die Bundesregierung, wenn das Bundesverfassungsgericht die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung als unzulässig verwerfen oder mit der Begründung zurückweisen würde, der Organstreit sei unzulässig. Dies hat Bundesminister Bohl in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt. Dem Beschluß liegt danach auch kein mündlicher oder stillschweigender Vorbehalt dieses Inhalts zugrunde. Die Möglichkeit, daß der Beschluß bei veränderter politischer Lage aufgehoben oder geändert werden könnte, bedeutet nicht, daß ihm Rechtserheblichkeit nicht zukäme. Einer weiteren Prüfung der Zulässigkeit der Organstreitverfahren bedarf es nicht, weil die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung aufgrund der gebotenen Folgenabwägung keinen Erfolg haben.
3. a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweist sich aber der Einsatz deutscher Soldaten später als verfassungsrechtlich als zulässig, drohen der Bundesrepublik Deutschland schwere Nachteile. Die Bundesrepublik Deutschland unterhält und betreibt von Anfang an zusammen mit elf anderen, der NATO angehörenden Nationen den NATO-Frühwarnverband (AWACS-Verband) als voll integrierten Verband des Bündnisses. Sein allgemeiner Auftrag besteht darin, im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung Frühwarnung zu betreiben und die Luftlageerstellung zu unterstützen. Der deutsche Anteil am militärischen Personal beträgt über 30%; die Flugsicherung wird ausschließlich von Deutschen gewährleistet.
Die mündliche Verhandlung hat ergeben, daß dem Einsatz gerade dieses Verbandes für die Durchsetzung des Flugverbots eine Schlüsselrolle zukommt. Wenn die gefestigte, auf eingehender Schulung beruhende Zusammenarbeit bei den Einsätzen des AWACS-Verbandes aufgrund vorangegangener Resolutionen des VN-Sicherheitsrates gerade in dem Zeitpunkt abgebrochen würde, in dem nach Auffassung der Bündnispartner ein besonders gewichtiger Einsatz ansteht, so müßte dies nach Einschätzung der Bundesregierung, aber auch des Generalsekretärs der NATO, von den Bündnispartnern - ungeachtet etwaiger Möglichkeiten, das Ausscheiden deutscher Soldaten auszugleichen - als eine empfindliche Störung der von der Völkerrechtsgemeinschaft autorisierten und von der NATO unterstützten Maßnahme empfunden werden. Die mündliche Verhandlung hat zudem ergeben, daß bei einem Abzug der deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband dessen Einsatzfähigkeit erheblich beeinträchtigt, die Durchsetzung des Flugverbots mithin gefährdet wäre.
Die auf Zusammenarbeit der jeweils 17-18 Besatzungsmitglieder unterschiedlicher Nationen beruhende Einsatzfähigkeit des Verbandes würde nach Auskunft des Kommandeurs der Einheit, Brigadegeneral Ehmann, bei Herausnahme der deutschen Besatzungen selbst unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nach 14 Tagen - gemessen am Einsatzauftrag - entscheidend geschwächt. Die mit der Resolution 816 des Sicherheitsrats beabsichtigte politische Signalwirkung würde so verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat keine Anhaltspunkte, die zu der Annahme zwingen, daß diese Einschätzungen fehlerhaft sein könnten. Führt das Verfahren in der Hauptsache zu einer abschließenden Klärung dahin, daß die Verfassung die Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Maßnahme nicht erlaubt, so muß das Bündnis das Ausscheiden deutscher Soldaten hinnehmen, selbst wenn dadurch die Einsatzfähigkeit des integrierten NATO-Verbandes empfindlich geschwächt würde und nur noch eine lückenhafte Durchsetzung des Flugverbotes möglich wäre.
Es handelte sich dann um die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlage eines Mitgliedstaates für den Einsatz seiner Streitkräfte, wie sie nach Art. 11 des NATOVertrages jedem Bündnispartner vorbehalten ist. Solange indes die Verfassungsrechtsfrage noch offen ist, läge ein schwerer Nachteil vor wenn die Bundesregierung entgegen i hr e r Rechtsauffassung und politischen Einschätzung die deutschen Soldaten aus dem Verband abziehen müßte, sich später aber erwiese daß die Verfassung die Mitwirkung deutscher Streitkräfte zuläßt. Dadurch würde das Vertrauen das sich die Bundesrepublik Deutschland innerhalb des Bündnisses durch ihre bisherige stetige Mitwirkung in dem AWACS-Verband erworben hat, aufs Spiel gesetzt. Die Haltung der Bundesregierung zum AWACS-Einsatz beruht maßgeblich auf der Tatsache, daß der Sicherheitsrat in seiner Resolution 816 diese Maßnahme im Rahmen des Friedensauftrages nach Kapitel VII VN-Charta autorisiert hat und erwartet, daß die in ihr angesprochenen Mitgliedstaaten einzeln oder durch regionale Organisationen sich daran beteiligen.
Diese Erwartung wurde in der mündlichen Verhandlung sowohl vom Bundesminister des Auswärtigen wie vom Bundesminister der Verteidigung bestätigt; ihre Grundlage ist die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen und in der NATO Unbeschadet der in der Vergangenheit und gegenwärtig geäußerten verfassungsrechtlichen Vorbehalte hat die Bundesrepublik Deutschland gerade in jüngster Zeit in einer Reihe von internationalen Dokumenten ihre Bereitschaft bekundet, im Rahmen der verschiedenen Bündnissysteme friedenserhaltende und friedensherstellende Operationen unter der Autorität des VN- Sicherheitsrats zu unterstützen (vgl. etwa das neue Strategische Konzept des Bündnisses, veröffentlicht auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates am 7. und 8. November 1991 in Rom, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 128 vom 13. November 1991, S. 1039 (1045 unter Nr. 42); die sogenannte Petersberg-Erklärung der Westeuropäischen Union vom 19. Juni 1992, Bulletin Nr. 68 vom 23. Juni 1992, S. 649, unter I.2., II.4.; Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 17. Dezember 1992 in Brüssel, Bulletin Nr. 141 vom 29. Dezember 1992, S. 1305 (1309 unter Nr. 68)).
Erginge die einstweilige Anordnung, müßte die Bundesrepublik Deutschland indem sie ihre Mitwirkung an dem integrierten multinationalen Verband im Rahmen einer völkerrechtlich vereinbarten Friedenssicherungaufgabe im Augenblick der Aktion abbricht, die durch ihr bisheriges Verhalten begründete Erwartung enttäuschen. Angesichts der Unaufschiebbarkeit der Maßnahme könnte sie den ihr obliegenden Beitrag zur Friedenssicherung gerade jetzt nicht leisten, wo er gefordert ist. Ein Vertrauensverlust bei den Bündnispartnern und allen europäischen Nachbarn wäre unvermeidlich, der dadurch entstehende Schaden nicht wiedergutzumachen.
b) Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstehen, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, die Mitwirkung deutscher Soldaten sich später aber als unzulässig erweist. Durch eine Mitwirkung deutscher Soldaten in dem AWACS-Verband - sie allein ist Gegenstand dieses Urteils - wird kein völkerrechtlich erheblicher Vertrauenstatbestand begründet. Eine solche Mitwirkung kann auf der Grundlage des anhängigen Verfahrens und des vorliegenden Urteils nur als vorläufige, in ihrer Fortsetzung vom Ausgang der Hauptsacheverfahren abhängige Zusammenarbeit gedeutet werden, zumal wenn die Bundesregierung dies den beteiligten auswärtigen Staaten notifizieren wird. Ein wesentlicher Schaden erwächst dem Gemeinwohl auch nicht aus der Situation der zum Einsatz kommenden deutschen Soldaten.
Nach der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Einschätzung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Naumann, und des Kommandeurs des AWACS-Verbandes, Brigadegeneral Ehmann, besteht für die Soldaten bei der gegebenen Einsatzplanung keine erhebliche militärische Gefährdungslage; deren Eintreten sei zudem militärpolitisch wenig wahrscheinlich. Der Soldat trägt auch kein rechtliches Risiko, wenn sich später die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes ergeben sollte. Die Tätigkeit des Verbandes hält sich im Rahmen des Beschlusses des Sicherheitsrates 816 vom 31. März 1993 und steht im Einklang mit der Zielsetzung der Charta der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten, unabhängig von der abschließenden Klärung der Frage, ob die Bundesregierung seinen Einsatz anordnen durfte. Die Verantwortung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Anordnung tragen nicht die an dem Einsatz beteiligten Soldaten, sondern die Bundesregierung. Das Gesetz stellt die Soldaten von dieser Verantwortlichkeit frei (Paragr. 11 Soldatengesetz).
Allerdings kann in einer Lage, in der Soldaten der Bundeswehr erstmalig zu einem Kampfeinsatz geschickt werden und dieser nicht der unmittelbaren Verteidigung gegen Angriffe auf die Bundesrepublik oder einen ihrer Bündnispartner dient, ein Nachteil für das gemeine Wohl daraus erwachsen, daß bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Einsatzes das Vertrauen der Soldaten darauf enttäuscht wird, daß eine so weittragende Entscheidung auf einer gesicherten verfassungsrechtlichen Grundlage beruht. Dieser Nachteil tritt hier jedoch an Bedeutung zurück; die Bundeswehrführung wird darauf verweisen können, daß ihre Befehle auf einer verantwortlichen Beurteilung der komplexen Rechtslage durch die dafür zuständige, demokratisch legitimierte Bundesregierung beruhten. Auch für die innerstaatliche Ordnung entsteht kein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Vollendete Tatsachen werden nicht geschaffen. Erkennbar ist für die Bürger in Deutschland, daß über die Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Mitwirkung deutscher Soldaten bei der Durchsetzung der Sicherheitsratsresolution 816 vom 31. März 1993 derzeit noch nicht entschieden ist, die in der Hauptsache zu treffende Entscheidung aber sofort befolgt werden wird. Deshalb kann weder für das Rechtsbewußtsein in Deutschland noch für das Vertrauen in die verfassungsrechtliche Gebundenheit der Bundesrepublik Deutschland ein Schaden entstehen. Eine wie immer geartete Präjudizierung künftiger Entscheidungen von Verfassungsorganen tritt nicht ein.
Entgegen der seitens der Antragsteller geäußerten Auffassung könnte daher bei der Entscheidung über die Hauptsache das Argument nicht gehört werden, der Einsatz des AWACS-Verbandes unter Beteiligung deutscher Soldaten habe als Element der Staatspraxis Gewicht für die Auslegung des- NATO-Vertrages. Die Überzeugungskraft der Argumente, mit denen die Antragsteller ihre abweichende Gewichtung der bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung befürchteten Nachteile begründen, leidet im übrigen daran, daß mit den Anträgen nur der Abzug des fliegenden Personals des AWACS-Verbandes begehrt wird, obwohl die vorgetragenen Bedenken - abgesehen von der Frage nach einer potentiellen Gefährdung - in gleicher Weise für das Bodenpersonal gelten, dessen Einsatz sie bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen bereit sind.