Ausgabe Juli 1994

Hesseloher Kreis: 13 Fragen an die Parteien zum Wahljahr 1994 (Wortlaut)

Die "Dreizehn Fragen" des Hesseloher Kreises, einer seit drei Jahren bestehenden Gesprächsrunde unabhängiger Persönlichkeiten in München, haben eine große Verbreitung gefunden und lebhafte Diskussionen ausgelöst. Zahlreiche Bürgerinitiativen arbeiten mit den "Dreizehn Fragen". Viele einzelne, Journalisten, Lehrer, Pfarrer, Schriftsteller, haben uns geantwortet. Von den Parteien, denen die Fragen am 15. Januar 1994 zugegangen sind, haben sich bislang die bayerische SPD, die FDP und CSU, am eingehendsten die Grünen geäußert. Mit einzelnen Kandidaten der Offenen Liste der PDS haben Diskussionen stattgefunden.

Der Hesseloher Kreis will vor der Bundestagswahl im Rahmen einer Veranstaltung in München die Fragen in der Diskussion mit Wählerinnen und Wählern aktualisieren und über die dann vorliegende Resonanz berichten. Dieter Lattmann. Der Zustand der Politik in unserem Land ist verheerend. Manches wäre erträglicher, wenn die Verantwortlichen zugäben, daß sie die Probleme mit bisherigen Mitteln nicht lösen können. Verdruß ist keine Lösung, zu mächtig greift Politik in das persönliche Leben von uns allen ein. Entscheidungen der Gewählten bestimmen Wohl und Wehe von Millionen Menschen, und niemand garantiert uns, daß sie nicht bald auch über Krieg oder Frieden entscheiden. Wer davor nur wegsieht, nimmt die eigene Zukunft nicht wichtig. Wir meinen, Politik muß sich vom Geschwätz befreien. Demokratie ist mehr als ein Markt.

Wir, ein Kreis von unabhängigen Einzelnen, fragen:

1. Warum heißen in der Politik so viele Dinge anders, als sie sind? Erklären Sie uns nicht, was Sie von Ihren Gegnern halten (das wissen wir). Erklären Sie uns prüfbare Inhalte Ihrer Politik! Wie sollen wir Ihr Wort prüfen? Sollen nicht eingehaltene Wahlversprechen wie Wahlfälschungen geahndet werden?

2. Was ist das Treue an der "Treuhand"? In den neuen Bundesländern hat die Hälfte aller Menschen, die arbeiten wollen, ihre Arbeit verloren. Soll diese Not auch im Westen fortgesetzt werden? Was tun Sie, um "Schaden vom Volk" zu wenden, wie es die Verfassung will?

3. Grundgesetzartikel 14,2 lautet: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Was tun Sie, um diesen Auftrag zu erfüllen?

4. Sind Sie bereit, in öffentlicher Verantwortung organisierte Verschwendung aufzugeben und statt dessen die ersparten Gelder für Wohnungen, Kindergartenplätze, Krankenhäuser und Altenpflege zu verwenden?

5. Immer mehr Wachstum bedeutet Krebs. Wie wollen Sie in Zukunft wirtschaften, gleichzeitig die Umwelt schonen und eine Existenz in einer humanen Welt sichern?

6. Ein 27-Millionstel Gramm Plutonium kann beim Menschen Lungenkrebs erzeugen. Wie stehen Sie zur Plutoniumwirtschaft? Soll dieses Gift, eines der gefährlichsten der Welt, uns alle weiterhin aus Atomkraftwerken bedrohen?

7. Rechtfertigen Sie UN-Militäraktionen, obwohl die Veto-Mächte des UN-Sicherheitsrats die größten Waffenlieferanten sind? Sollen auch Soldaten der Bundeswehr Wirtschaftsmonopolen der reichsten Länder rings um den Globus dienen?

8. Wollen Sie die Selbstbestimmungen der Frauen weiterhin den Männern überlassen? Sieben Männer und eine Frau haben im Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zum Paragraphen 218 umgekehrt, die auf Initiative von Frauen eine breite parlamentarische Mehrheit fand - über alle Fraktionsgrenzen hinweg. Wann wollen Sie dieses Mittelalter in der Neuzeit beenden?

9. Mit dem Schlagwort "So ist die Rechtslage" lassen sich lebensnotwendige Reformen im Keim ersticken. Politikverdrossenheit rührt auch aus althergebrachter Rechtsauslegung zugunsten erstarrter Macht. Ist es nicht an der Zeit, der Urteilsformel "Im Namen des Volkes" einen neuen beweglichen Sinn zu geben?

10. In Deutschland werden wieder Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihres Denkens gejagt, geschlagen, verbrannt. Und wieder weigert sich die schweigende Mehrheit, sich für den Zustand der Gesellschaft mitverantwortlich zu erklären. Was halten Sie von einem Wahlrecht für Ausländer? Werden Sie Gewalttäter, die nach neuem Nationalismus schreien, als Attentäter auf die Demokratie verurteilen?

11. Wieso nennen Sie kommerzielle Medien "privat"? Fernsehen ist immer öffentlich und daher immer politisch, um so mehr wenn es von Wirtschaftsinteressen gelenkt wird. Was tun Sie gegen den Mißbrauch dieser Macht? Was tun Sie gegen Verherrlichung von Gewalt und Sexismus im Komplott mit Reklame?

12. Wie wollen Sie deutsche Geschichte aufarbeiten, solange nur Archive der DDR-Geheimdienste geöffnet sind, Unterlagen von Verfassungsschutz, BND und aus der NS-Vergangenheit (Document Center) dagegen verschlossen bleiben?

13. Werden Sie das letzte Wort der Mütter und Väter des Grundgesetzes einlösen, das vorschreibt: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist"?

Wir meinen: Opposition ist der Pulsschlag der Demokratie. Bürgerbeteiligung weckt Hoffnung, Politik hinter verschlossenen Türen steigert Verdrossenheit. Die Situation erlaubt keine Resignation. Es ist Zeit für Zivilcourage!

Der Hesseloher Kreis stellt diese Fragen in Ansehen der Parteien allgemein zur Diskussion.

Über Antworten, die uns von Parteien zugehen, werden wir öffentlich informieren. Sich an dieser Fragestellung zu beteiligen, kann einen Schritt aus der Politikverdrossenheit bedeuten.

Kontaktanschrift: Dieter Lattmann, Gerd Tersteegen, Possartstraße 2, 81679 München

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