Ausgabe November 1994

Österreich: Auf wackligen Beinen in die EU

Bei Infektionskrankheiten gab es vor der Erfindung der Antibiotika das Phänomen der "Krisis": Wenn der Gipfel überschritten war, fiel das Fieber rasch ab, die Symptome verschwanden. Die Sterblichkeit war in der Krisis am größten. Die Familie reagierte fassungslos: War es dem Patienten nicht schon viel besser gegangen? War er nicht schon über dem Berg? Weil gegen politische Krankheiten leider keine Antibiotika helfen, gibt es gesellschaftliche Krisen, auch im klassischen Sinne, noch immer. Österreichs "zweite Republik" erlebt gerade eine. Langsam genest der Patient von seinen hartnäckigen Übeln - dem alles beherrschenden Personal-Protektionismus der großen Parteien, der Immobilität, dem Obrigkeitsdenken.

Doch ausgerechnet jetzt tritt Jörg Haider mit Stundenglas und Sense vors Bett. Hilfloses Entsetzen packt die Angehörigen. Nach dem Verlust von mehr als 7 Prozentpunkten, dem schlechtesten Ergebnis der SPÖ seit 1945, fielen Vranitzky als Gründe spontan die "mangelnde Kampagnefähigkeit" seiner Partei und die "Selbstgefälligkeit" mancher Funktionäre ein. Die Große Koalition wird wieder aufgelegt. Änderungen sind nicht geplant; es wäre auch nicht leicht, welche zu empfehlen.

November 1994

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