Ausgabe Dezember 1995

Leitbilder für ein zukunftsfähiges Deutschland

Aus der neuen Studie des Wuppertaler Instituts

Im Auftrag des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der katholischen Organisation für Entwicklungszusammenarbeit MISEREOR hat das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie eine Studie erarbeitet, die bereits vor der für Januar 1996 angekündigten Veröffentlichung für Aufsehen und Debatten sorgt. Näheres dazu in der "Umweltinformation" dieser Ausgabe. Aus der Kurzfassung der Studie dokumentieren wir mit freundlicher Genehmigung des BUND (Im Rheingarten 7, 53225 Bonn) das zentrale, 'Leitbilder' überschriebene Kapitel 6 im ungekürzten Wortlaut. Die Langfassung wird unter dem Titel "Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung" im Birkhäuser Verlag, Basel, erscheinen. D. Red.

Bisher wurde der stofflich-quantitative Umriß der zukunftsfähigen Gesellschaft bestimmt; nun geht es um ihre sozial-qualitative Gestalt. Die rein naturwissenschaftliche Darstellungsweise mit ihren quantitativen Reduktionszielen sorgt für Klarheit und Konkretion in der Debatte.

Aber der unzweifelhaften Stärke dieser Darstellungsweise stehen auch bedeutende Schwächen gegenüber: Durch ihre Reduktion von Natur auf Umwelt, durch ihre Konzentration auf Verbrauchsgrößen, die hinter den Erscheinungen - den Vögeln, Wäldern und Bachläufen liegen, vermag sie nur schwer die Empfindungen der Menschen zu rühren. Die Überraschungen und die Merkwürdigkeiten der Natur, ihre Laute, Farben und Formen kommen in ihr nicht zur Sprache; daher kann sie nur das Verlustwissen, nicht aber das Verlusterleben thematisieren.

Insbesondere beraubt sich diese Darstellungsweise - mit ihrer Konzentration auf Naturquanten - eines Organs zur Wahrnehmung des Gesellschaftlichen; Menschen, mit ihren Organisationen, Interessen und Wünschen, kommen gar nicht in den Blick. Höchstens stolpert man über sie im Nachgang, wenn Umsetzung und Akzeptanz der Schlußfolgerungen zum klaffenden Problem werden. Beschränkt sich die Darstellung auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge, kann sie nicht erklären, warum und wie die Gesellschaft sich in hohe Stoffverbräuche verwickelt hat. Vor allem aber wird nicht sichtbar, wie die quantitativen Reduktionsziele in die Lebenswelten der Menschen eingehen könnten. In welchen sozialen Innovationen, in welchen geistigen Entwürfen, in welchen Verhaltensmodellen, in welchen institutionellen Umbauten könnte sich die Suche nach einem maßvollen Naturverbrauch ausdrücken? Die Reduktionsziele müssen darum überführt werden in eine Darlegung qualitativer Zielvorstellungen, sonst bliebe die Studie in der Expertenfalle hängen: zwar Grenzwerte zu ermitteln, aber nichts für die Teilnahme der Bürger tun zu können. Aus diesem Grunde werden Leitbilder vorgestellt, die sich als Gestaltungsentwürfe für Akteure in unterschiedlichen sozialen Feldern verstehen - Unternehmer, Erwerbstätige, Verbraucher, öffentliche Versorger, Gesetzgeber, Städter, Bürger in ländlichen Gebieten, entwicklungspolitisch Engagierte. Die Leitbilder bauen auf Ideen und Initiativen auf, welche in diesen Bereichen über die Jahre vorgeschlagen, entwickelt und ausprobiert wurden, und versuchen, die in diesen Anstrengungen implizierten Zukunftsentwürfe freizulegen.

1. Rechtes Maß für Zeit und Raum

Höhere Geschwindigkeit der Verkehrsmittel und flinke Erreichbarkeit aller Orte nah und fern - in seltenem Einklang von populärem Verlangen, wirtschaftlichem Interesse und politischer Planung wurde in Deutschland über Jahrzehnte unmerklich und doch programmatisch die ruhelose Gesellschaft geschaffen. Eine Unzahl von Einzelentscheidungen vollzog ganz selbstverständlich einen Fortschritt, dessen Grundannahmen lauten: Es ist in jedem Fall besser, Geschwindigkeiten zu steigern und die Durchlässigkeit des Raumes zu erhöhen.

So haben Einfallstraßen und Autobahnkreuze, Brückenbauten und Airports das Antlitz des Landes verändert. Bis auf den heutigen Tag bestimmt die Utopie vom größtmöglichen Fortkommen in der kürzestmöglichen Zeit die Verkehrs- und Raumordnungspolitik der Staaten. Großprojekte wie die Ostseeautobahn, die Überbrückung des Öresunds oder der Straße von Messina, die Alpendurchtunnelungen an Brenner und Gotthard verraten eine Vision von Europa als Raum ohne Hindernisse.

Doch diese Utopie, in weiten Teilen der Politik noch kaum gebrochen, verliert in der Bevölkerung allmählich an Glanz. Wo rastlose Mobilität regiert, dort keimt der Geschmack für Gemächlichkeit und Gelassenheit; wo der Nahraum durchstoßen, begradigt, betoniert und verlärmt wird, um raschen Zugang zur Ferne zu schaffen, da wächst die Aufmerksamkeit für den eigenen Ort; und wo der Siegeszug der Massenmotorisierung den Zugewinn an allgemeiner Mobilität durch Systemverstopfung wieder aufzehrt, da mischt sich im Seelenhaushalt der Beschleunigungsgesellschaft Vergnügen immer mehr mit Verdruß. Weil die Utopie von der fortschreitenden Raumund Zeitüberwindung über die vergangenen Jahrzehnte so durchschlagend wirksam war, droht die Gesellschaft heute an ihrem Mobilitätsaufwand und -aufkommen zu ersticken. Dieser Zwiespalt bildet den Ausgangspunkt für politische Veränderungen, die auf Zukunftsfähigkeit abzielen. Weil neue Wünsche, etwa nach Zeitautonomie, intakter Natur und lobenswerten Städten, sich zunehmend im Kontrast zur rasenden Gesellschaft artikulieren müssen, deshalb wird es historisch möglich, öffentlich von Entschleunigung und der Regeneration der Orte zu sprechen: vom rechten Maß für Zeit und Raum.

In immer weiteren Bevölkerungskreisen, in den mobileren Gruppen zumal, schiebt sich die Erfahrung in den Vordergrund, daß Beschleunigung und Fernverflechtung jenseits einer bestimmten Schwelle keinen Zugewinn an Lebensqualität bedeuten, sondern kontraproduktive Wirkungen hervorbringen. Wenn aber nicht mehr zu wenig, sondern zu viel Verkehr das Problem ist, dann steht die Suche nach einem schlanken Verkehrsapparat auf der Tagesordnung, der funktional, sozial angepaßt und zukunftsfähig ist. Das Herzstück einer solchen Verkehrs- und Raumordnungspolitik ist die Verkehrsvermeidung. Sie wird nur gelingen, wenn in Deutschland die Geschwindigkeiten gedrosselt und keine zusätzlichen Magistralen gebaut werden. Langsamere Geschwindigkeiten und kürzere Distanzen könnten zu einer Befriedung der Beschleunigungsgesellschaft führen, ja es könnte sich eine soziale Ästhetik herausbilden, die gelassene Zeitmaße und mittlere Entfernungsmaße als besonders gelungen empfindet. Langsam färbt sich so für unsere Zeit um, was Fortschritt bedeutet. Welche gesellschaftlichen Projekte wären einer solchen Orientierung gemäß? Einige Beispiele: Eine Stadtentwicklung, die auf Urbanität und kurze Wege setzt und Bodenspekulation unterbindet, um so die Flucht ins grüne Umland zu beenden. Eine maßvoll motorisierte Automobilflotte, die anspruchsvollstes Design bietet, Spartechnologien zum Einsatz bringt und zunehmend erneuerbare Antriebsenergie nutzt. Eine Flächenbahn mit dichtem Schienennetz und bedarfsgerechten Bahnhöfen, Haltepunkten und Güterumschlaganlagen: In dicht besiedelten Gebieten soll es kein Bürger weiter als drei Kilometer bis zum nächsten Bahnanschluß haben. Die ökologische Gestaltung der Kommunikationstechnologien, so daß physischer Verkehr zunehmend durch elektronischen Datenverkehr ersetzt werden kann. Unter gegebenen Randbedingungen ist von der Informationsgesellschaft keine automatische Einsparung von Verkehr zu erwarten. Erst wenn ernsthaft mit einer Begrenzung der mechanischen Raum-Zeit-Verdichtung begonnen wird, kann die elektronische Raum-Zeit-Verdichtung ihre ökologischen Möglichkeiten entfalten.

2. Eine grüne Marktagenda

Die Ökologisierung der Marktwirtschaft schließt zwei Dimensionen ein: die Begrenzung marktwirtschaftlicher Mechanismen einerseits und ihre ökologisch zuträgliche Entfaltung andererseits. Wird nur eine dieser Dimensionen betont, entsteht ein unvollständiges Bild. Markteuphorikern, die die ökologische Frage auf einen Kampf um Zukunftsmärkte und -technologien reduzieren, entgeht leicht die schlichte Tatsache, daß ökonomischer Expansionismus und das Niederreißen sämtlicher kultureller Schranken durch weltwirtschaftliche Arbeitsteilung von ausnehmender Zerstörungskraft sind. Marktskeptiker hingegen erkennen oft nicht, welch schöpferisches Potential in der umweltgerechten Entfaltung von Marktkräften liegen kann. Nicht eine Marktgesellschaft, in der die Regeln von Angebot und Nachfrage sämtliche Bereiche menschlicher Existenz bestimmen, kann das Ziel sein, sondern eine Marktwirtschaft, die (wieder) eingebettet ist in ein größeres Ganzes, das wir Gesellschaft nennen. Das Territorium, innerhalb dessen die Marktkräfte gelten sollen, kann zunächst einmal negativ abgegrenzt werden.

So wie die soziale Marktwirtschaft aus der Erkenntnis geboren wurde, daß der Markt selbst keine Gerechtigkeit hervorzubringen vermag und ihm deshalb ein sozialer Rahmen gegeben werden muß, so ist auch die ökologische Blindheit des Marktes durch Gesellschaft und Politik zu korrigieren. Wer keine Gifte in der Muttermilch will, der muß die Herstellung dieser Gifte verbieten; wer Bodenerosion und Grundwasserbelastung reduzieren will, der muß gegen die industrielle Landwirtschaft und Massentierhaltung vorgehen; wer eine ökologische Verkehrswende will, der muß den Straßenneubau beenden und öffentliche Transportmittel begünstigen. Der Markt wird dies nicht leisten können. In seinem Kategoriensystem bestimmen andere Faktoren das Verhalten der Teilnehmer: Kosten und Nutzen, Gewinn und Verlust. Ist die ökologische Grundorientierung von Gesellschaft und Politik aber erst einmal bestimmt, der Rahmen also festgelegt, dann freilich können marktwirtschaftliche Instrumente sehr hilfreich wirken und zur schnelleren Zielerreichung beitragen.

Hier werden vier große Schlüsselprojekte zur Erreichung einer ökologischen Marktwirtschaft vorgeschlagen: - der Abbau offener und verdeckter Subventionen, die umweltschädlich wirken; - die Durchführung einer ökologischen Steuerreform; - die Etablierung von Haftungsregelungen für risikoträchtige Aktivitäten; - die Umorientierung der Wettbewerbspolitik auf Ziele der Ökologie und der Ressourceneffizienz. Diese vier Projekte sollen zuvörderst im Energie- und Verkehrssektor umgesetzt werden. Abzubauende Subventionen sind insbesondere die nicht erhobenen Kosten für den Personen- und Güterverkehr auf der Straße, das bislang unbesteuerte Flugbenzin, die Steuerbefreiung von Dieselkraftstoff in der Landwirtschaft und der bis heute anhaltende Verzicht des Staates auf Steuereinnahmen aus der Verwendung von Erdöl als Industriegrundstoff. Die ökologische Steuerreform im Energiesektor sieht die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer vor. Die Energiepreise sollen jährlich inflationsbereinigt um 5 Prozent steigen, und zwar über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Im Gegenzug sollen die Abgaben für den Produktionsfaktor Arbeit gesenkt werden. Die Haftungsbegrenzung für Schäden aus Atomunfällen muß aufgehoben werden. Solange diese Energieform eingesetzt wird, erfordert das Verursacherprinzip eine risikoadäquate Gestaltung der Versicherungspränüen für ihre Nutzung. Aus Ökologie- und energiepolitischen Gründen ist der schnellstmögliche Verzicht auf Atomkraft geboten. Der Wettbewerb im Energiesektor soll durch staatliche Rahmensetzung und Aufsicht in Zukunft so gestaltet werden, daß die dezentrale und effiziente Erzeugung von Strom und Wärme sowie die Nutzung erneuerbarer Energien systematisch begünstigt wird. Die Versorgungsunternehmen sollen von der staatlichen Preisaufsicht Anreize erhalten, um ihren Kunden beim Energiesparen zu helfen.

3. Von linearen zu zyklischen Produktionsprozessen

Heute ist beinahe der ganze Planet ein einziges Bau-, Ressourcen-, Treibstoff- und Abfallager. Es werden der Natur große Mengen wertvoller Dinge entnommen - erneuerbare wie auch nicht erneuerbare. Bereits in diesem Produktionsprozeß erster Ordnung entstehen enorme Abfallmengen. Die entnommenen Materialien werden in einem mehrstufigen wirtschaftlichen Produktionsprozeß zu Konsum- und Investitionsgütern verarbeitet, die nach ihrem Gebrauch über kurz oder lang zu wertlosem Abfall werden und die ökologischen Prozesse beeinträchtigen, schädigen oder gar zerstören. Das Ganze geschieht unter Einsatz gewaltiger, meist fossiler, Energiemengen. Diese Wirtschaftsweise ist nicht zukunftsfähig. Vollzögen die Länder der Südhemisphäre den Industrialisierungsprozeß nach, wie ihn der Norden in der Vergangenheit vorgemacht hat, wäre der globale Umweltkollaps programmiert. Da das ökonomische Teilsystem die beiden anderen, Gesellschaft und Ökologie, zu zerstören droht, sind ganzheitliche Denkansätze erforderlich, und damit auch neue Wirtschafts- und Managementformen. Das wird nicht gegen die Unternehmen und wirtschaftlichen Institutionen gehen, sondern nur mit ihnen. Sie müssen aktiver Teil der grundlegenden systemischen Transformationsprozesse sein. Dazu bedarf es neuer Orientierungen für das unternehmerische Handeln.

Vier Prinzipien sollten für die konkrete Um- und Neugestaltung unserer bisherigen Wirtschaftsweise richtungsgebend sein. - Die Natur kennt keine Abfälle. Alles kann anderswo im natürlichen System konstruktiv absorbiert und verwendet werden - jetzt oder zukünftig. Ebenso können in einer zukunftsfähigen Wirtschaftsweise sehr viele Abfälle wertvolle Stoffe für andere Produktionsvorgänge sein. - Natürliche Prozesse werden von der Sonnenenergie angetrieben. Ebenso muß die Wirtschaft allmählich auf eine solareriergetische Grundlage gestellt werden. - Die Natur erlaubt jedem Individuum einer Art eine unabhängige Aktivität, aber verknüpft auf kooperative Weise die Aktivitätsmuster aller Spezies. Zusammenarbeit und Wettbewerb sind verkettet und werden in einer dynamischen Balance gehalten - auch für Einzelunternehmen und die Gesamtwirtschaft eine vernünftige Orientierung. - So wie die Natur für ihr Funktionieren von Vielfalt abhängig ist und auf Grund von Unterschieden gedeiht und blüht, gilt es, menschliche Lebens- und Wirtschaftsweisen ähnlich vielfältig auszugestalten. Konkret bedeuten diese Prinzipien für unternehmerisches Handeln zunächst die Übernahme systemweiter Produktverantwortung: Werkstoffe und Produkte werden am Ende ihrer Gebrauchszeit von den Verkäufern oder Herstellern zurückgenommen. Dies stellt neue Anforderungen an die Produktgestaltung: Langlebigkeit, Schadstofffreiheit, Demontierbarkeit und Wiederverwertbarkeit werden neben Funktionalität und Ästhetik zu wichtigen Designkriterien. Produkte werden zunehmend nach dem Baukasten-Prinzip konzipiert; durch den Austausch von Komponenten können so nachträglich Produktverbesserungen erzielt werden.

Grundsätzlich gilt: Langlebigkeit kommt vor Recycling. Effizienzorientiertes Umweltmanagement, ökologische Produktpolitik und Innovationsorientierung im Netzwerk sind wichtige Charakteristika des Unternehmens der Zukunft. Es wird sein Geld nicht mehr mit dem Absatz von Produkten verdienen, die auf schnellen Verschleiß ausgerichtet sind, sondern mit der Erzeugung und Betreuung von guten Produkten. Der Dienstleistungsanteil an der gesamten Wertschöpfungskette wird steigen. Solche Unternehmen brauchen Kundennähe und sind eher klein als groß, eher dezentral als zentral und eher kooperativ als hierarchisch gegliedert. Politik und Verbraucher sollen die Ökologisierung der Wirtschaftsweise, mit der von grünen Pionierunternehmen schon begonnen wurde, begünstigen und honorieren: durch Rahmensetzung und Nachfrageverhalten.

4. Gut leben statt viel haben

Das Glück liegt nicht in der stetigen Steigerung der Bedürfnisse. Diese Überzeugung ist seit langem der Stachel im Fleisch der Wachstumsgesellschaft. In den Hoffnungen auf ökologisch segensreiche Wirkungen des Wertewandels macht er sich heute wieder bemerkbar.

Doch der Wertewandel, der die Gegenwart prägt, ist zweideutig. Einerseits hat der distanzierte Konsument die Bühne betreten, jene Person, die zurückhaltend und selektiv kauft, mehr nach Qualität als nach Quantität sucht und auch, über den eigenen Nutzen hinaus, die Natur und das Gemeinwesen im Auge hat. Andererseits tritt der erlebnissüchtige Konsument auf, der Waren und Dienste nach ihrem Genuß- und Inszenierungswert verbraucht. In beiden Figuren kann sich schließlich das Ideal der Selbstverwirklichung verkörpern: Der eine sucht sie im reflektierten Abstand zur Güterwelt, der andere bringt eben diese Güterwelt im konsumistischen Erlebniskitzel auf Touren. Weil aber große Teile der Konsumgesellschaft einem Punkt der Sättigung zustreben, ist in den letzten eineinhalb Jahrzehnten das Verlangen nach einem Ende der Raubwirtschaft an der Natur zu einer Marktmacht aufgestiegen.

Ökologie ist vom Nischendasein zu einem relevanten Nachfragefaktor geworden, Eine Anzahl von Branchen hat die neue Sensibilität deutlich zu spüren bekommen: Der Lebensmittelhandel wartet mit Bio-Produkten auf, die Elektrogerätehersteller bieten verbrauchsarme Geräte an, die Urlaubsindustrie denkt an sanften Tourismus, Autofabrikanten versuchen sich mit dem Öko-Argument, Kaufhäuser sortieren Wasch- und Reinigungsmittel aus, in Bekleidungsgeschäften finden sich Öko-Kollektionen, und auch bei Lacken und Farben, ebenso wie bei Kosmetika und Körperpflege werden neue Produktlinien aufgelegt. Die Verbraucher sind aber noch keineswegs mit der ökologischen Qualität der Produktpalette zufrieden. Die Hälfte der Verbraucher wünscht mehr Information über das Umweltengagement von Unternehmen. Erst wenn der Konsument über unabhängige Verbraucherberatung und ökologische Gütesiegel die Instrumente in die Hand bekommt, wirklich eine Wahlentscheidung zu treffen, ist der Weg von der Überflußwirtschaft zur Einflußwirtschaft geöffnet. Sicher läßt sich kritisieren, daß der Verhaltenstyp "ökologischer Konsum" noch immer in eine verschwenderische Wirtschaft eingebettet ist. Auch üben die meisten umweltbewußten Konsumenten keineswegs in allen Verhaltenskategorien Konsequenz. Vielmehr stellt sich ein jeder sein eigenes Bündel an guten Taten zusammen und entpflichtet sich an anderer Stelle.

Aber doch wird in immer weiteren Bevölkerungskreisen die Bereitschaft erkennbar, sich auch beim Konsum als Bürger zu verstehen, der maßgeblich an einer zukunftsfähigen Gesellschaft mitwirken will, die ohne Naturausbeutung und in Fairneß gegenüber der Dritten Welt existieren kann. Vier Kriterien spielen dabei eine Rolle: Sparsamkeit, Regionalorientierung, gemeinsame Nutzung, Langlebigkeit. Sparsamkeit, jene alte Regel haushälterischen Denkens, bekommt einen neuen Klang nicht als Pfennigfuchserei, sondern als Achtsamkeit für die Masse an Natur, die jemand für sich privat "vernutzt", obwohl sie im Prinzip ein Gemeingut darstellt. Regionalorientierung beim Einkauf oder beim Wochenendausflug ergibt sich aus dem Interesse, ein Leben zu führen, das den Anfall an Transportkilometern in erträglichen Grenzen hält. Das tut nicht nur der Umwelt, sondern auch der regionalen Wirtschaft und nicht selten der Qualität der Waren gut. Gemeinsame Nutzung ist die Devise derjenigen, denen aufgefallen ist, daß zwischen Ressourcenaufwand und individuellem Gütereigentum ein Zusammenhang besteht. Waschmaschinen, Autos, Rasenmäher oder Skiausrüstungen stehen für den größten Teil ihrer Lebenszeit nutzlos herum. Um die Gebrauchsintensität zu erhöhen und die Ressourcenintensität abzusenken, liegt es nahe, organisatorische und technische Lösungen ins Auge zu fassen, die Nutzung und Eigentum voneinander trennen. Car-Sharing-Organisationen, Leihstationen für Werkzeuge und Haushaltsgeräte, Mietdienste für Ausrüstungen sind Beispiele für eine nicht an Besitz orientierte Logistik. Es führt schließlich kein Weg daran vorbei, die Nutzungsdauer der in Umlauf gesetzten Produkte zu verlängern. Wer mit seinen Gegenständen Freund werden will, tut gut daran, auf ihre Qualität in der Zeit zu achten; da kommt das Interesse an Ästhetik mit dem Interesse an Ökologie überein. Jenseits eines gewissen Niveaus werden die Dinge zu Zeitdieben. Ihre Überzahl verstopft den Alltag, zerstreut die Aufmerksamkeit und verzettelt die Energien.

5. Für eine lernfähige Infrastruktur

Die gegenwärtige materielle Infrastruktur Deutschlands ist Ausdruck einer Wirtschaft, die sich in erster Linie am Durchsatz von Masse orientiert. Ein umherschweifender Blick führt über Gebäude, Straßen, Lagerhallen, Werksgelände, Brücken, Schienenstränge, Hafenanlagen, Flughäfen, Kraftwerke, Stromnetze und anderes mehr. Unter der Oberfläche verbergen sich weitverzweigte Kanal-, Leitungs- und Rohrsysteme. Diese gebundenen Stoffmengen sind in hohem Maße umweltrelevant: Sie wurden natürlichen Lagerstätten entnommen, bearbeitet, transportiert und belegen Fläche; ihre Nutzung - etwa Kraftwerke, Gebäude oder Straßen - ist mit Emissionen aller Art verbunden; und früher oder später enden die Massen als Bauschutt oder Sonderabfall. Auch heute noch weist die staatliche Infrastrukturplanung in diese Richtung. Vielerorts werden neue Flughäfen errichtet oder erweitert, Straßen gebaut, Leitungen und Stromnetze verlegt und Flächen freigegeben, die in den nächsten Jahrzehnten zu ihrer Überbauung animieren sollen.

Die Infrastruktur wird, so offizielle Verlautbarungen der Regierung, für den zu nehmenden internationalen Wettbewerb aufgerüstet. Sie soll die Produktionsstätten eines größer werdenden Marktes untereinander verbinden und als Drehscheibe und Sprungbrett für weltweiten Handel dienen. Wir begründen die These, daß diese tonnenschwere und am Massendurchsatz orientierte Infrastruktur nicht zukunftsfähig ist - und zwar weder ökologisch noch ökonomisch. Ein modernes Verständnis von Infrastruktur setzt vor allem auf menschliche Fähigkeiten und die Ausschöpfung regionaler Innovationspotentiale. Ziel ist die Sicherung der ökologischen, sozialen und technologischen Basis eines Standortes. An drei Beispielen wird gezeigt, wie eine dematerialisierte Infrastrukturpolitik aussehen könnte: sichere Energieversorgung mit weniger Kraftwerken; Mobilität mit weniger Straßen; Wohnen mit weniger Umweltverbrauch. Im Energiebereich ist das neue Denken am weitesten ausgeprägt. Verschiedene Energieversorger - vor allem Stadtwerke - nehmen Schritt für Schritt Abstand vom reinen Absatzdenken und bieten Energiedienstleistungen an. Die Grundüberlegung ist einfach: Die Energieverbraucher verlangen in Wahrheit nicht Brennstoffe oder Strom, sondern eine bestimmte Dienstleistung, nämlich angenehm beheizte und gut beleuchtete Räume, gekühlte Lebensmittel, arbeitende Maschinen und Geräte.

Ein Energiedienstleistungsunternehmen (EDU) fragt nun: Wie kann die nachgefragte Dienstleistung mit einem möglichst geringen Einsatz an Primärenergie bereitgestellt werden? Die Antwort wird dann oft lauten: durch optimal gedämmte Gebäude, moderne Heizungsanlagen, Energiesparlampen, verbrauchsarme Geräte und Maschinen, kurz: durch ein systematisches Nachfragemanagement. Das EDU der Zukunft wird also für den Kunden nicht nur die Energie bereitstellen, sondern ihn umfassend beraten und betreuen, von der Planung von Energiesparmaßnahmen über deren Finanzierung und Realisierung bis zur Wartung von Gebäuden, Anlagen und Geräten. Die staatliche Preis- und Wettbewerbsaufsicht freilich muß das Geldverdienen mit Energieeinsparung attraktiv machen. Die Beschäftigungseffekte und der volkswirtschaftliche Nutzen werden positiv sein, da an die Stelle von hoher Kapitalintensität (Bergbau, Öl- und Gasimporte, Kraftwerksund Netzbau) eine hohe Personalintensität (Beratungsleistungen, Handwerk, Anlagenbau) treten wird. Der weitere Ausbau des Straßennetzes stößt auf immer größeren Widerstand.

Denn in den beiden letzten Jahrzehnten ist offenkundig geworden: Wer Straßen baut, wird Verkehr ernten. Eine neue Verkehrsplanung geht deshalb von der Grundüberlegung aus, daß das menschliche Bedürfnis nach Mobilität beeinflußt und umweltgerechter befriedigt werden kann. Durch die Wiederbelebung und Begrünung der Städte werden Anreize zur Seßhaftigkeit gegeben, so daß ein großer Teil des Fluchtverkehrs entfallen kann. Es etablieren sich Mobilitätsdienstleistungsunternehmen (MDU), die Autos vermieten, Car-Sharing organisieren, Informationen über Verbindungen und Verkehrsträger bereitstellen, Sammeltaxen und -busse anbieten. Im gewerblichen Bereich entwickeln sich Logistik-Pools und EDV-gestützte Kooperationsnetzwerke für den Einzelhandel und den Werksverkehr.

So kann das Wachstum des straßengebundenen Personen- und Güterverkehrs eingedämmt werden. Die Notwendigkeit zusätzlicher Straßen entfällt. Wohnen mit weniger Umweltverbrauch ist vor allem angesichts der fortschreitenden Zersiedlung der Landschaft eine öffentliche Aufgabe. Wichtige Elemente einer sozial-ökologischen Wohnungspolitik sind die Sanierung von Altbauten, die Umwidmung nicht mehr genutzter gewerblicher oder landwirtschaftlicher Gebäude für Zwecke des Wohnungsbaus, das Flächenrecycling, verdichtetes Bauen oder die gemeinschaftliche Nutzung von Hof - und Gartenflächen, um so Nachbarschaftlichkeit zu begünstigen. Auch im architektonischen Bereich bieten sich vielfältigste Möglichkeiten: Durch flexibel nutzbare Grundrisse, also bewegliche Innenwände, kann die Raumaufteilung an neue Lebenssituationen angepaßt werden; durch die Verwendung biologischer und wiederverwertbarer Baustoffe läßt sich der Rohstoffverbrauch absenken; durch Solararchitektur lassen sich Heiz- und Beleuchtungskosten reduzieren.

6. Stadt als Lebensraum

Die Stadt als Lebensraum und als Organisationsform gesellschaftlichen Lebens und Handelns hat im Rahmen einer zukunftsfähigen Entwicklung einen hohen Stellenwert. Städte sind Zentren der Industrie, des Handwerks und des Handels, der Bildung, Kultur und Verwaltung.

Doch auch das andere Bild der Stadt rückt immer stärker in den Vordergrund. Müllnotstand, Luftverschmutzung, Lärm, Autoverkehr, Obdachlosigkeit, Kriminalität, Verödung der Innenstädte und vieler Wohngebiete, Anonymität, Zersiedlung und Wildwuchs in die freie Landschaft hinein kennzeichnen die Probleme. Immer weniger können diese Probleme bewältigt werden, immer ärger wird die Finanznot der Kommunen. Städtische Lebensweisen sind keineswegs mehr auf Städte begrenzt, sondern haben sich über das ganze Land ausgebreitet. Was einst die Vielfalt städtischen Lebens ausmachte, verkehrt sich zunehmend in Einfalt. Selbstverständlich gibt es in verschiedenen Städten architektonische Besonderheiten und unterschiedliche Stadtkulturen.

Aber immer deutlicher wird die Tendenz, nach den gleichen baulichen Prinzipien vorzugehen und gleiche Baumaterialien zu verwenden. Die Stadtkerne - besonders deutlich wird dies in den Fußgängerzonen - gleichen sich in ihren Strukturen mehr und mehr an. Und während die Einkaufsquartiere während der Geschäftszeit bevölkert sind, sind sie abends und nachts wie ausgestorben und müssen von privaten Sicherheitsdiensten bewacht werden. Umgekehrt führen die unwirtlichen Städte zur Flucht in die Vorstadt. Auch hier jedoch gedeihen Nachbarschaft und Quartierbindung nur selten. Öffentliches Leben findet in den gesichtslosen Vororten kaum statt; statt dessen wächst der Bedarf an organisierter Freizeit. Die Stadt der Zukunft ist eine Stadt der kurzen Wege. Die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Versorgung und Freizeit werden, wo immer möglich, schrittweise zusammengeführt.

In den reurbanisierten Städten - vor allem in deren Zentren - steigt die Bevölkerungsdichte. Hier bieten Sportstätten, Kunst, Kultur und intellektuelle Präsenz ein reiches Angebot für Neugierige und Unternehmungslustige. Der Autoverkehr in der Innenstadt ist auf das notwendige Maß zurückgeführt; Straßen werden so wieder zu Aufenthaltsorten. Die Architektur weist wieder mehr regionale Besonderheiten auf und mischt Altes mit Neuem. Der öffentliche Nahverkehr und die Bahnverbindungen sind deutlich verbessert worden. Seitdem ist der Zugang zu den Innenstädten für die Bewohner der ländlichen Regionen leichter geworden. Umgekehrt können die Städter bequem ins Umland; dort läßt sich in Augenschein nehmen, woher Wasser, Gemüse, Früchte und Fleisch für das städtische Leben kommen.

So kommt es zu Rückkopplungen, zu einem neuen Stadt-Land-Verhältnis. Die breiige Zersiedlung der Landschaft ist gestoppt, da Raumordnungs- und Bauleitpläne sich konsequent am Bodenschutz orientieren. Durch eine Innenverdichtung entstehen langsam wieder Stadtgrenzen, die die Unterschiede zwischen Stadt und Land wiederbeleben und ihre unterschiedlichen Qualitäten deutlich machen.

7. Regeneration von Land und Landwirtschaft

Menschen sind ein Teil der Natur und leben von ihr. Essen, Trinken und Atmen sind biologische Prozesse, die diese Abhängigkeit deutlich machen sollten. Die vielfältigen Funktionen und Aufgaben der ländlichen Räume sind aber immer mehr aus Wahrnehmung und Bewußtsein verdrängt worden. Nur noch drei Prozent der Bevölkerung arbeiten auf dem Land. Der Beitrag von Land- und Forstwirtschaft zum Bruttosozialprodukt geht gegen Null. Die ländlichen Räume sind vielen gleichgültig geworden. Sie dienen als Reservoir für Siedlungs-, Verkehrs- und Deponieflächen am Rande der Ballungsräume oder als Erholungsraum für gestreßte Städter. Die fehlgeleitete Agrarsubventionspolitik, die einseitige Betonung der Produktionsfunktion und die Flut an Billigprodukten vom Weltmarkt haben die Nutzung der ländlichen Räume dramatisch verändert. Der ökonomische Druck, unter dem Land- und Forstwirte stehen, zwingt immer mehr zur weiteren Intensivierung der Produktion, zur Monokultur oder andernfalls zur Aufgabe der Betriebe und zur Stillegung von Flächen. Die Folgen: wachsende Umweltprobleme wie Bodenerosion, Grundwassergefährdung, Artenschwund und Verlust landschaftlicher Schönheit. Zur ökologischen Erosion geselle sich die soziale. Vor allem junge Leute verlassen das Land, weil Arbeitsplätze fehlen.

Doch auch in Zukunft gilt: keine Kultur(landschaft) ohne Agrarkultur. Stadt und Land können nur gemeinsam überleben. In einem zukunftsfähigen Deutschland werden die Rahmenbedingungen für die Nutzung der ländlichen Räume durch Verbraucher und Politik neu gestaltet. Die Nachfrage nach gesunden Nahrungsmitteln und Produkten aus der Region zu angemessenen Preisen stärkt die regionale Wirtschaftskraft, belebt die regionale Identität, schafft Arbeitsplätze auf dem Land. Bauern und Forstleuten wird wieder ein Wirtschaften in organischen Kreisläufen, ein Arbeiten im Einklang mit der Natur möglich. Der rechtliche Rahmen durch den Bund und die Europäische Union ist entsprechend umzugestalten: durch Festlegung einer Obergrenze für die Zahl der Nutztiere pro Fläche, Maßnahmen zur Eindämmung der Überproduktion, strikte Wasser-, Boden- und Tierschutzgesetze.

So wird Naturhaushaltsschutz auf der Gesamtfläche möglich. Reservate werden sich vor allem dort finden, wo natürliche Lebensgemeinschaften vor wirtschaftlicher Nutzung durch den Menschen generell zu schützen sind. Die Erfahrung von Wildnis ist gerade für Kinder von elementarer Bedeutung. Schlüsselprojekte für ein zukunftsfähiges Deutschland sind aus den vorgenannten Gründen die Landbauwende, die Waldwende und die Integration von Land- und Forstwirtschaft, Handwerk, Handel, Gastronomie und Tourismus. Tragender Pfeiler der Landbauwende ist die ökologische Landwirtschaft. Sie wirtschaftet in weitgehend geschlossenen Betriebskreisläufen. Der Betriebsorganismus integriert kleinräumig Tierhaltung und Pflanzenbau. Dies entkoppelt die Landwirtschaft von den heutigen globalen Material- und Nährstoffströmen und verhindert gleichzeitig die ungesunden Konzentrationen in der Massentierhaltung. Der vollständige Verzicht auf chemisch-synthetische Düngemittel und Pestizide reduziert den Ressourcenaufwand und führt zu einem Wirtschaften in Allianz mit der Natur. Es kommt zu einer Renaissance der biologischen Stickstoffbindung (durch Mikrooganismen und Hülsenfrüchte) und der Stast-Humuswirtschaft ("Tum waste into food"). Die Selbstheilungskräfte der Naturwerden wiederbelebt, die Kosten für die Gesamtwirtschaft sinken.

Ziel der Waldwende ist der Übergang vom Holzacker zum naturnahen Wald. Abwechslungsreiche Mischwälder aus Nadel- und Laubbäumen ersetzen die monotonen Fichtenkulturen. Reinbestände sind auf Standorte begrenzt, auf denen von Natur aus eine geringe Artenvielfalt auftritt. Unter dem Schirm des Altbestandes wächst der junge Wald nach. Statt künstlicher Aufforstung von Kahlflächen wird die natürliche Verjüngung zum Normalfall. Liegendes und stehendes Totholz verbleibt im Wald und wird zum "Biotopholz". Daß diese Art der Bewirtschaftung auch ökonomische Vorteile hat, beweisen rund vierzig seit Jahrzehnten nach diesen Prinzipien arbeitende Waldbetriebe in Deutschland. Das Land als Wirtschafts- und Lebensstandort wird vor allem dann eine Zukunft haben, wenn über Land- und Forstwirtschaft hinaus und zusammen mit ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Das betrifft vor allem Gastronomie, Tourismus, Nahrungsmittelverarbeitung und -verteilung, Handwerk, Dienstleistungen (Transport, Post, Bank, Apotheke etc.), Einrichtungen der Weiterbildung, der Altenpflege und der Kindererziehung. In vielen dieser Sektoren weist das Land Standortvorteile gegenüber dem Ballungsraum auf. Die gilt es gezielt zu nutzen.

8. Internationale Gerechtigkeit und globale Nachbarschaft

Die Suche nach Zukunftsfähigkeit ist die Suche nach Naturverträghchkeit und Gerechtigkeit. Beide Ziele gehören untrennbar zusammen. Gerechtigkeit ist die zentrale Kategorie für friedensfähige Nord-Süd-Beziehungen, und ohne die wird der Menschheit der Schutz ihrer natürlichen Lebensgrundlagen nicht gelingen. Volle Gerechtigkeit ist ein feines, möglicherweise unerreichbares Ziel; aber Annäherungen sind sehr wohl möglich. Vor allem läßt sich in aller Regel durchaus benennen, was erkennbar nicht gerecht ist. Die Behebung offenbaren Unrechts ist darum die aussichtsreichste Annäherung an das, was von Gerechtigkeit erwartet wird. Für das NordSüd-Verhältnis bedeutet das zu allererst: Die Industrieländer schädigen die Armen im Süden weit weniger durch das, was sie ihnen an Hilfe vorenthalten, als durch das, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen.

Das heißt keineswegs, daß finanzielle Unterstützung aus dem Norden zur Armutsbekämpfung in den Ländern des Südens fortan überflüssig wäre. Gerade sie ist erforderlich, um Menschen ein würdigeres Dasein zu ermöglichen und um friedensfähige Beziehungen zwischen Norden und Süden zu erreichen. Als Daumenregel kann heute gelten: Das Fünftel der Menschheit, das in den Industrieländern lebt, verursacht etwa achtzig Prozent der Klimaschäden. Wenn sich jedoch das Tempo fortsetzt, mit dem sich die knapp zwanzig Schwellenländer (einschließlich China und Indien) gegenwärtig industrialisieren, werden bereits in wenigen Jahrzehnten die Länder des Südens zwei Drittel der klimaverändernden Spurengase in die Atmosphäre schicken. Die Industrieländer müssen also mit der ökologischen Erneuerung beginnen, und dies aus drei Gründen:

Sie haben erstens in den beiden Jahrhunderten ihrer Industrialisierung bereits starke Umweltschäden verursacht und bleiben einstweilen die größten Schädiger der Natur.

Zweitens verfügen die Industrieländer für die notwendigen Veränderungen über erheblich mehr technische und finanzielle Mittel als die allermeisten Länder des Südens.

Drittens ist ihre Lebensweise in den Ländern des Südens zum Vorbild geworden und wird dort kaum abgelegt werden, solange ihre Urheber nur kosmetische Änderungen vornehmen. Was können Nord und Süd voneinander lernen? Der Norden braucht die in so viel begrenzteren Verhältnissen gewonnenen Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten aus Ländern des Südens samt den an sie angepaßten Technologien; er braucht auch ihre lebendigen Traditionen und Zukunftsvorstellungen für die Erneuerung der Industriegesellschaften.

Den Ländern des Südens wiederum werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Erfolge und Fehlschläge einer technischen Zivilisation samt den dabei gewonnen Erkenntnissen unentbehrlich sein. Kultureller Austausch und gemeinsame Arbeit an Forschungsprojekten sind Wege zum gegenseitigem Verständnis. Hier liegt ein großer Wirkungskreis für Stiftungen und andere Nicht-Regierungsorganisationen. Gegenwärtig ist Technologie-Transfer das Zauberwort. Von den Zukunftstechnologien erwarten sich die Oberschichten im Süden den entscheidenden Anschub: wirtschaftlichen Aufschwung, Überwindung der Armut, ökologische Unbedenklichkeit. Im Blick sind vor allem Großtechnologien, die eine schnelle Industrialisierung, zentrales Wirtschaften und intensive Exportorientierung ermöglichen.

Aber damit würde die unhaltbar gewordene Lebens- und Produktionsweise auf immer größere Teile der Menschheit übertragen - und mit ihr die ökologischen und sozialen Probleme, die sie hervorruft. Alternatives Denken gerade in den Ländern des Südens setzt demgegenüber auf Dezentralisierung und Subsidiarität als entscheidende Kriterien eines ökologischen Wirtschaftens und eines partizipatorischen Gesellschaftsaufbaus. Der produktive Streit um eine zukunftsfähige Lebensweise steht also dem Süden nicht anders als dem Norden bevor.

Um so wichtiger ist es, gerade beim Technologie-Transfer zu fragen: Wer will haben, was die Industrien des Nordens liefern können? Wem kommt zugute, was als fortschrittliche Technologie etikettiert wird? Die Antworten auf diese Fragen müssen aus den betroffenen Ländern selbst kommen. Engagierte Menschen aus den Industriestaaten können aber den Aufbau von sozialökologischer Gegenmacht unterstützen: Umweltverbände aus Europa können eng mit entsprechenden Gruppen in Afrika, Asien und Lateinamerika zusammenarbeiten, um Öko-Dumping und schädliche Großprojekte zu bekämpfen. Und nicht zuletzt: Mittelständische Unternehmen, die in den Industriestaaten öko-effiziente Techniken und Dienstleistungen entwickeln, sollten durch entsprechende Förder-, Bürgschafts- oder Kreditprogramme gezielt unterstützt werden, wenn sie sich in Ländern des Südens engagieren wollen. Großunternehmen finden ihren Weg auf die lukrativen Märkte des Südens von selbst; ökologischen Pionieren hingegen müssen Brücken gebaut werden.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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