Ansprache des polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 28. April 1995 aus Anlaß des 50. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges (Wortlaut)
Ansprache des polnischen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 28. April 1995 in Bonn aus Anlaß des 50. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges
(Wortlaut) Die Regie Kohlscher "Geschichtspolitik" (Hans Mommsen) zum 50. Jahrestag des 8./9.Mai 1945 hat die Modalitäten deutscher Präsenz bei den Gedenkveranstaltungen in London, Paris und Moskau bis ins Detail und zur Chefsache stilisiert. Bei der Berliner Zwischenetappe des "Gedenkmarathon" allerdings gab es am 8. Mai zwar Platz für Amerikaner und Briten, für die Russische Föderation und, was sich versteht, auch für Frankreich, aber Polen - erstes Opfer der deutschen Wehrmacht 1939 und 1944/45, wie im nachstehenden Text betont wird, mit etwa 600 000 Soldaten in den Reihen alliierter Armeen präsent - wurde durch die Abweisung des Teilnahmewunsches seines Staatspräsidenten brüskiert. Offenbar sollte das Berliner Arrangement, das die neue Bundesrepublik sozusagen in den Kreis der Siegermächte aufrücken ließ, nicht beschädigt werden. Statt dessen hatte der polnische Außenminister Bartoszewski bei einer am 28. April vorgeschalteten Gedenkstunde des Deutschen Bundestages in Bonn Gelegenheit zu sprechen. Diese in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Rede dokumentieren wir nachstehend - mit Ausnahme der von Bartoszewski für das Fernsehen seines Landes eingelegten polnischsprachigen Version des ersten und des letzten Absatzes - im vollen Wortlaut. D. Red. Ein halbes Jahrhundert ist es her, seit der blutigste und grausamste Krieg in der Geschichte Europas zu Ende ging: der Krieg, der am 1. September 1939 mit der Aggression des Dritten Reiches auf Polen und des Feldzugs gegen Polen, das das erste Opfer war, begann und am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation vor den Vertretern der Vier Mächte in Europa beendet wurde, die mit dem Gang der Ereignisse - seit 1941 - die Hauptlast der Kriegsführung übernommen und über sein Schicksal entschieden hatten. Für Polen dauerte der Krieg 5 Jahre, 8 Monate und 8 Tage. Während dieser ganzen Zeit haben Hunderttausende von Polen zu Lande, zu Wasser und in der Luft gemeinsam mit anderen Armeen der Alliierten um ein einziges Ziel gekämpft - die Wiedererrichtung ihres freien und souveränen Staates in einem freien demokratischen Europa. In der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs haben insgesamt etwa 600 000 Polen in regulären Einheiten aller Staaten der Alliierten gekämpft und einige hunderttausend in der Untergrundarmee in Polen selbst. Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede am 8. Mai 1985 ausgeführt: "Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa." Dieser heute schon klassische Text von Richard von Weizsäcker gehört zu den Leistungen des politischen und moralischen deutschen und europäischen Denkens. Bei allem Vorbehalt, das Wort "historisch" überzustrapazieren, ist es meiner Meinung nach wohl angebracht, wenn er diesen Begriff mit dem Datum des 8. Mai 1945 in Verbindung bringt. Ein halbes Jahrhundert nach jenem Tage und an der Schwelle zu einem neuen halben Jahrhundert der Geschichte Europas scheint es sinnvoll zu sein, das Augenmerk auf eine gänzlich neue Etappe in den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen im Rahmen der sich neu gestaltenden Gemeinschaft der Völker und Staaten Europas zu richten. Und so wurde es heute möglich, daß der Außenminister Polens im deutschen Parlament auf Einladung dieser höchsten Vertretung des gesamten deutschen Volkes spricht. In meiner Dankesrede für den mir zuerkannten ehrenvollen Friedenspreis des deutschen Buchhandels habe ich am 5. Oktober 1986 in der Frankfurter Paulskirche gesagt, "daß die Polen auf jeden Fall mit dem Verständnis und der Solidarität der deutschen Bevölkerung rechnen, die zum wichtigen Faktor beim Brückenbau zwischen unseren Völkern werden können." Ich schloß damals meine Dankesworte mit dem optimistischen Satz der Hoffnung: "Vielleicht wird es auch mir vergönnt sein, daran weiter mitzuwirken. Gesagt wurde dies drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Am Vorabend des 40. Jahrestages des Kriegsausbruchs, am 31. August 1989, hatte ich Gelegenheit, an einer einstündigen ARD-Sendung im Gespräch mit Willy Brandt teilzunehmen. An der Spitze der neuen polnischen Regierung stand damals schon der erste nichtkommunistische Ministerpräsident der Länder des ehemaligen Ostblocks. Die neue Ära in der Geschichte Mittel-Ost-Europas war bereits eröffnet worden, aber die Berliner Mauer stand noch fest. Unsere damaligen Äußerungen im Fernsehen bewegten sich im Rahmen eines gemäßigten Optimismus. Heute sind es schon fünfeinhalb Jahre her, daß die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht wurde: In Kürze wird der fünfte Jahrestag der Vereinigung Deutschlands begangen werden. Man kann aber diskutieren, wie es zu diesen Veränderungen gekommen ist: welche Rolle hierbei die erste organisierte oppositionelle Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc" in Osteuropa spielte sowie andere Widerstandsgruppen in Polen und der Tschechoslowakei und auch in Ungarn und in der DDR, die ohne Gewaltanwendung einen ständigen Druck ausübten, um den totalitären Machthabern bewußt zu machen, daß Reformen notwendig sind, und auch, welche Rolle die Tatsache spielte, daß man sich selbst im Kreml bewußt machte, daß diese Reformen unausweichlich seien. Die Abrechnungen mit der Vergangenheit sind häufig ein Akt des Mutes. Mutig und was hier klar gesagt werden muß - dem damaligen Stand des historischen Bewußtseins und der moralischen Bereitschaft der meisten Polen weit voraus waren die versöhnlichen Worte der polnischen Bischöfe an die Katholiken in Deutschland und die ausgestreckte Hand zur Eintracht im November 1965. Ein Ausdruck des achtungswürdigen historischen Mutes war auch die spontane Geste des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt, als er im Dezember 1970 in Warszawa vor jenem Denkmal niederkniete, das dem Gedenken an die Opfer und die Kämpfer des Ghettos gewidmet ist. Nicht leicht war auch die Entscheidung des polnischen Präsidenten Lech Walesa, zu den Feierlichkeiten aus, Anlaß des 50. Jahrestags des Warschauer Aufstands im vergangenen Jahr das deutsche Staatsoberhaupt trotz Widerständen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung einzuladen; der Warschauer Aufstand 1944 ist im kollektiven polnischen Gedächtnis nämlich nicht nur fixiert als eine bewaffnete Konfrontation, sondern auch als ein Akt der bewußten Barbarei: der Ausrottung der Zivilbevölkerung der polnischen Hauptstadt und der planmäßigen Verwandlung dieser gesamten Stadt in eine Ruine auf Befehl Hitlers. Mutig und aufrichtig waren die Worte des Bundespräsidenten Roman Herzog, die er bei den Feierlichkeiten am 1. August 1994 in Warszawa an das polnische Volk richtete. Viele Polen empfanden sie als die echte und lang erwartete Antwort des höchsten Vertreters Deutschlands auf die Botschaft der polnischen Bischöfe von 1965. Die Präsidenten Polens und Deutschlands überzeugten damals sogar die Skeptiker, daß Jahrestage, die trennen, gleichzeitig einen Impuls für die Gestaltung einer besseren Zukunft geben können, einer Zukunft, die verbinden wird. Meine heutige Anwesenheit in diesem Hause verstehe ich als einen weiteren Schritt auf demselben Wege. Es scheint an der Zeit zu sein, sich heute folgende Fragen zu stellen: Wie sieht die wahre Bilanz der Beziehungen von Polen und Deutschen 50 Jahre nach dem Kriege aus? Wieweit ist es Gesamteuropa gelungen, die unmittelbaren und langfristigen Folgen dieses Krieges zu überwinden? Die Historiker können die Schuld einzelner Politiker messen und verspätete Varianten dafür suchen, welche 1939 den Frieden hätten retten können. Unabhängig davon, inwieweit die westlichen Demokratien damals versagten und wie im Fall der Tschechoslowakei ein Jahr zuvor in München dem Egoismus der Politik eines "appeasement" erlagen, so war trotzdem der unmittelbare Anlaß des Krieges die aggressive Naziideologie, deren Durchsetzung die Absprache zwischen Hitler und Stalin ermöglichte. Der Pakt RibbentropMolotow vom 23. August 1939 zusammen mit dem Geheimprotokoll, das die Einflußzonen des Dritten Reiches und der UdSSR festlegte, entschied über das Schicksal des polnischen Staates und einiger anderer Staaten Mittel-Ost-Europas. Natürlich hätten die Polen sich 1939 passiv mit ihrem Schicksal abfinden, keinen Widerstand leisten und nicht kämpfen können, wodurch vielleicht ein Teil der Opfer geschont geblieben wäre. Jedoch hätten sie dadurch aufgehört, ein Subjekt in der europäischen Politik zu sein. Dieses entschiedene polnische "Nein" gegenüber Hitler bewirkte den Eintritt Großbritanniens und Frankreichs in den Krieg und ermöglichte in der Folge die Entstehung der Anti-Hitler-Koalition. Den Polen fiel es zu, an allen Fronten Europas zu kämpfen, im Westen, im Süden und im Osten, auch in Nordafrika, zu Wasser und in der Luft, an verschiedenen Punkten der Welt. Im besetzten Polen dagegen errichteten Polizei und Verwaltungsbehörden des Dritten Reiches in den Jahren 1940 bis 1942 Konzentrationslager für Polen und Vernichtungslager für Juden. Zum historischen Symbol dieses Systems wurden Bezeichnungen, die im Laufe der Zeit zu Begriffen wurden, welche mit der neuen Qualität des Verbrechens in Verbindung stehen: mit dem Völkermord. Um nur einige von vielen zu nennen, waren dies Auschwitz-Birkenau, Chelmno-Kulmhof, Treblinka, Majdanek, Sobibor, Belzec, aber auch Gross-Rosen und Stutthof. Und so vernichtete man circa 3 Millionen polnischer Juden und etwa 3 Millionen Juden, die Staatsbürger anderer Länder waren; sie wurden durch die Nazis in den Vernichtungslagern ermordet, die durch den Terrorapparat von Hitlers Staat zu einem beträchtlichen Teil auf dem okkupierten Territorium Polens errichtet wurden. Zu Opfern des blutigen Terrors wurden ebenfalls über 2 Millionen polnischer Christen. Jeder vierte polnische katholische Priester und jeder vierte polnische Wissenschaftler, jeder fünfte polnische Lehrer wurde Opfer des Verbrechens. Diese Zahlen enthalten nicht die schweren Prüfungen von 2,3 Millionen Menschen, die aus ihren Häusern zwangsumgesiedelt wurden, sowie von über 2,5 Millionen polnischer Zwangsarbeiter und etwa 200 000 polnischer Kinder, die zu Germanisierungszwecken verschleppt wurden, von denen dreiviertel niemals zu ihren Familien nach Polen zurückkehrten. Die Tatsache, daß Polen 1945 nicht als einer der Siegerstaaten anerkannt wurde, war wie heute allgemein bekannt ist - ein politisches Zugeständnis der Westalliierten an Stalin. Die Beschlüsse von Jalta bezüglich Polens waren der Anfang der Teilung Europas in zwei Blöcke. Der polnische Staat wurde um einige hundert Kilometer nach Westen "verschoben", wodurch letztendlich sein Territorium um ein Fünftel verkleinert wurde. Die Westalliierten legalisierten die neue polnische Ostgrenze, was bedeutete, daß die UdSSR praktisch alles erlangte, was sie infolge der Vereinbarungen mit dem Dritten Reich in den Jahren 1939 bis 1940 zugesprochen bekommen hatte. Polen wurden die ehemaligen deutschen Ostgebiete zuerkannt, was teilweise ein Ausgleich sein sollte für die Gebietsverluste zugunsten der UdSSR. Im Endergebnis hatte Polen von 389 000 km 2 Fläche nach dem siegreichen Krieg lediglich 312 000. In dieser Situation wurde die Grenze an Oder und Neiße für die Polen und ihren Staat zu einer Existenzfrage. Auf der Potsdamer Konferenz beschlossen die Siegermächte die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung östlich von Oder und Neiße. Die Westalliierten gingen davon aus, daß die Sowjetunion in Polen freie Wahlen zulassen werde. In Polen erachtete man dies von Anfang an als eine gefährliche Illusion beziehungsweise als eine besondere von "Realpolitik", das heißt "eine gründlich durchdachte Illusion". Die politisch denkenden Polen waren eher auf das Schlimmste gefaßt. Und sie haben sich leider nicht geirrt. Ende Februar 1945 wurden die höchsten Vertreter der polnischen politischen Parteien unter dem Vorwand, Verhandlungen über die Durchsetzung der Beschlüsse von Jalta abzuhalten, nach Moskau eingeladen. Sie wurden dort hinterlistig verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt. Dies waren lediglich die ersten Früchte jener "Realpolitik" gegenüber Stalin. Es ist wahr, daß die UdSSR seit Juni 1941 die gewaltige Last des Kampfes gegen die Deutschen trug und Opfer brachte, die mit den Verlusten der Alliierten unvergleichlich waren. Dies darf nicht vergessen werden. Und deshalb hatte die Stimme Stalins auch mehr Gewicht als die seiner Partner. Zur Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, daß die UdSSR nach Jalta den Staaten Mittel-Ost-Europas ein System aufzwang, das unsere Völker des Selbstbestimmungsrechts beraubte. Und so wurde "Jalta" für Polen - und nicht nur für Polen - zum Symbol für die Sanktionierung des Grundsatzes, daß die Großmächte über die Grenzen und inneren Angelegenheiten anderer Staaten entscheiden, "Jalta" brachte neue Elemente der Feindschaft in die Beziehungen zwischen den Staaten ein, und das ist immer ein Vorbote von Destabilisierung. Ein eigentümliches Paradox in dieser Situation ist, daß "Jalta" auch vorübergehend zur Aufrechterhaltung des internationalen Gleichgewichts beigetragen hat, denn die Verankerung der Bundesrepublik in der westlichen Staatengemeinschaft kam der Errichtung der vertrauenerweckenden Demokratie in diesem Staate zugute. Den Deutschen gelang es in beträchtlichem Maße, ihre im politischen Sinne verstandene "Mittellage" zwischen Ost und West zu verändern. Daher müßten sie auch besser als jeder andere die gegenwärtigen Bemühungen Polens um die Integration mit dem Westen verstehen. Von der "Stunde Null" zu reden hat in Polen erst ab 1989 einen Sinn. Damals ergaben sich nämlich Voraussetzungen und Chancen für die Lösung der grundlegenden Dilemmata der polnischen Politik. Seit 5 Jahren betreibt Polen eine selbständige Außenpolitik und ist zu einem vollkommen souveränen Subjekt auf der europäischen Bühne geworden. Es ist somit höchste Zeit dafür, sämtliche politischen Chancen zu nutzen, die sich durch den Umbruch von 1989 ergeben haben. Es sind dies für Polen dieselben Chancen, die Westdeutschland schon 1949 erlangte. Und diesen Unterschied sollte man bedenken. Vor 50 Jahren wurde fast alles nur Mögliche unternommen, um den polnisch-deutschen Antagonismus zu verfestigen. Dies gehörte zu den grundlegenden Zielen der Polenpolitik Stalins, der die Kommunisten zu Architekten des "polnischen Nationalstaates" machte, die die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze und die territoriale Integrität in seiner Nachkriegsgestalt garantierten. Heute leben in diesen Gebieten bereits weitere Generationen von Polen, die angesichts der neuen europäischen Lage einen besonderen Beitrag für die Beziehungen zwischen dem demokratischen Polen und dem vereinten Deutschland, für den Prozeß der Verständigung und der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen leisten können. Der Hitler-Okkupant sprach den Juden das Recht auf Leben ab. Den Polen sprach er das Recht ab, Mensch zu sein, und behandelte sie als "Untermenschen", für die es keinen Platz in der gesamteuropäischen Kultur gab. Das stalinistische Nachkriegssystem verabreichte den Polen - ähnlich wie den Deutschen in der DDR - eine "antinationalistische" Therapie, die sich nicht nur gegen einen Nationalismus, sondern auch gegen die gesamte polnische Tradition, Kultur und historische Identität richtete. Das "doppelt verwundete" Volk mußte Abwehrreaktionen entwickeln, die manchmal auch zu Überempfindlichkeiten führten. In den Beziehungen zu den Deutschen ergab sich eine zusätzliche Schwierigkeit aus den noch nicht vernarbten Kriegswunden und der Infragestellung der Grenze an Oder und Neiße seitens der Bundesrepublik Deutschland sowie aus den Beziehungen zu dem "ersten deutschen Arbeiter und Bauernstaat" - der DDR -, die nicht frei waren von einer Komponente aus Verlogenheit und Mißtrauen. Aus der Sichtweise vieler Deutscher dagegen erschien Polen mit seinen 1945 nach Westen verschobenen Grenzen geradezu als ein Kriegsbenefiziat. Polen wurde zu einem bequemen Objekt, an dem man seine eigenen Kriegsfrustrationen abreagieren konnte, und "dank" Polens konnte man sogar das Bewußtsein des Opfers in der, deutschen Bevölkerung bilden und schüren. Da es keinen offiziellen politischen Dialog gab, konnte man dieses Handeln grenzenlos betreiben, ohne die Fakten sowie die Meinung des Partners zu berücksichtigen. Die Aussiedlungsproblematik dominierte für viele Jahre das Polenbild in Deutschland. Während des Kriegs und nach seiner Beendigung mußten Millionen von Menschen ihre Heimat verlassen. Für viele Polen waren dies die Gebiete jenseits des Bugs und für viele Deutsche die Gebiete Östlich von Oder und Neiße. Diese beiden Gruppen von Menschen konnten nicht miteinander reden; und wenn es dazu gekommen wäre, so hätten sich beide Völker beträchtlich früher verständigen und verstehen können. Aber die polnischen Aussiedler aus dem Osten konnten in diesen Fragen nicht einmal einen Monolog führen. Und wenn sie sich in den polnischen Westgebieten ansiedelten, so kamen sie nicht als Sieger dorthin, sondern sie betrachteten sich als Opfer des Krieges, den sie niemals gewollt und dessen Ausbruch sie nicht verschuldet hatten. Der Umbruch von 1989 schaffte Möglichkeiten für eine offene politische Diskussion. Da man nun über das Schicksal der Aussiedler aus Wilna und Lemberg sprechen darf, ist es auch leichter, die menschliche Dimension des Dramas der Aussiedlungen aus Breslau oder Stettin zu erblicken. Die rechtlich-politische Regelung der Probleme der Vereinigung Deutschlands und seiner Grenzen bewirkte, daß heute ein Gespräch über die "verlorene Heimat" keinerlei Befürchtungen um die Friedensordnung in Europa hervorrufen muß. Polen hat seine politische Souveränität wiedererlangt. Es gelangt auch zu seiner geistigen Souveränität. Ihr Maß ist das Gefühl der moralischen Verantwortung für die ganze Geschichte, in der es - wie immer - helle und dunkle Seiten gibt. Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangsumsiedlungen kennengelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, daß davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölkerung betroffen waren und daß zu den Tätern auch Polen gehörten. Ich möchte es offen aussprechen: Wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben. Wir erinnern uns an die mit großem Mut formulierten Sätze des heute nicht mehr lebenden bedeutenden polnischen Denkers und Essayisten Jan Jozef Lipski, jenes exportierten polnischen Sozialdemokraten, der 1981 voller Bitternis sagte: "Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben, von denen die einen sicherlich sich schuldig gemacht haben, indem sie Hitler unterstützten, die anderen, indem sie seine Verbrechen tatenlos geschehen ließen, andere nur dadurch, daß sie sich nicht zu dem Heroismus eines Kampfes gegen die furchtbare Maschinerie aufraffen konnten, und das in einer Lage, als ihr Staat Krieg führte. Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben; die Aussiedlung der Menschen aus ihrer Heimat kann bestenfalls ein kleineres Übel sein, niemals eine gute Tat." Bezugnehmend auf die Verschwörung gegen den Frieden von Hitler und Stalin im Jahre 1939 fährt Lipski fort: "Sicherlich wäre es ungerecht, wenn ein Volk, überfallen von zwei Räubern, zusätzlich noch alle Kosten dafür zahlen sollte. Die Wahl eines Auswegs, der, wie es scheint, eine geringere Ungerechtigkeit ist, die Wahl des kleineren Übels darf dennoch nicht unempfindlich machen gegen sittliche Probleme. Das Böse ist Böses und nicht Gutes, selbst wenn es ein geringeres und nicht zu vermeidendes Böses ist." Ich identifiziere mich vollkommen mit den Thesen meines verstorbenen Freundes Jan Jozef Lipski, mit dem ich zusammen in der demokratischen Opposition aktiv war. Ich möchte daran erinnern, daß dieser Text damals eine hitzige Diskussion unter den denkenden Polen hervorrief. Ich denke auch, daß es nicht gut war, daß die Zivilcourage des Verfassers dieser Worte damals in Deutschland nicht voll wahrgenommen wurde. Für das "offizielle" Polen, die Volksrepublik Polen, war jede Stimme aus der Bundesrepublik Deutschland ein feindliches oder verdächtiges Signal, und die Ereignisse der ersten Monate und Jahre nach dem Kriege stellten ein politisches und historisches Tabu dar. Eher gefragt war das Feindbild und Jonglieren t historischen Fakten je nach Bedarf der Innenpolitik. Zum Glück jedoch kam es schon einige Jahre nach dem Kriege, nach dem Tod Stalins und Berijas, noch in der Chruschtschow-Ära, sowohl von polnischer wie von deutscher Seite zu parallel laufenden Initiativen für inoffizielle Kontakte zwischen denkenden Menschen guten Willens. Diese Kontakte knüpfte man hauptsächlich in intellektuellen Kreisen an sowie in Kreisen und Gruppen, die ihre geistige Heimat und ihr Engagement in den christlichen Kirchen verankert hatten. Vorreiter waren auf der deutschen Seite schon zu Beginn der sechziger Jahre die Jugendgruppen von "Aktion Sühnezeichen" aus der damaligen DDR und die hartnäckig nach Wegen des Dialogs suchenden Mitglieder der deutschen Sektion von "Pax Christi" aus der Bundesrepublik. In Köln scharte sich ein Kreis von Menschen um die deutsch-französische Zeitschrift "Dokumente", und aus einem dieser gewichtigen Diskussionsforen erwuchs in den sechziger Jahren der "Bensberger Kreis". Beide trugen gewiß zur Entstehung einer Atmosphäre bei, in deren Folge im Mai 1965 die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland entstand, ein für jene Zeit mutiger Versuch einer Analyse der Lage. Und im November und Dezember 1965 folgte der Briefwechsel des polnischen und. des deutschen Episkopats der katholischen Kirche. Nicht alle Initiativen, Institutionen und Personen können aufgezählt werden, die in Deutschland einen Beitrag zur Schaffung von Voraussetzungen für die Verständigung und in besonderem Maße zu einer positiven Korrektur des Polenbildes und der polnischen Angelegenheiten zumindest in einem Teil der deutschen Öffentlichkeit geleistet haben. Von polnischer Seite gehörten zu den ersten nicht offiziellen Emissären des guten Willens und des Dialogs, vor allem mit dem "Bensberger Kreis" und dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Menschen, die mit den Klubs der katholischen Intelligenz in Warszawa, Krak¢w und Wroclaw, den Redaktionen der Zeitschriften "Tygodnik Powszechny", "Znak" und "Wiez" verbunden waren. Gewisse Ergebnisse brachten auch die Kontakte, die manche Intellektuelle, die mit den offiziellen Strukturen der kommunistischen Partei in Polen verbunden waren, mit deutschen politischen Kreisen unterhielten. Zu den wichtigsten Daten seit der Errichtung von Handelsvertretungen 1962 in Köln und Warschau auf der Basis der Gegenseitigkeit gehört unbestreitbar der Vertrag der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland über die Grundlagen ihrer gegenseitigem Beziehungen vom 7. Dezember 1970, was deutscherseits das Werk der Regierung Brandt und Scheel war. Zu Beginn der Achtziger Jahre, in den Monaten der Entwicklung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc" in Polen und danach mit der Einführung des Kriegsrechts und der Militärdiktatur im Dezember 1981, war die Situation in Polen dramatischen Veränderungen ausgesetzt. Für die 10 Millionen Angehörige zählende Bewegung "Solidarnosc" war damals die Politik der Bundesregierung nicht in vollem Umfang klar und in gewissem Sinne enttäuschend. Die breite Öffentlichkeit in Deutschland dagegen, beide christliche Kirchen, zahlreiche gesellschaftliche Einrichtungen, bedeutende Kreise von Intellektuellen und spontane Bürgerinitiativen gaben ein lebendiges Zeugnis von materieller und moralischer Unterstützung für die Polen in Not. Das enorme Interesse daran, was sich in Polen tat, war in Deutschland nur vergleichbar mit der historischen Welle von Wohlwollen und Interesse, die anderthalb Jahrhunderte früher, in den Jahren 1830 bis 1832, für Angelegenheiten der Polen aufgebracht wurden. Das führte in der Folge ohne Übertreibung zu einem neuen Bild der deutschen Bevölkerung in den Augen der Polen. Zum politischen Durchbruch in den polnisch-deutschen Beziehungen führten jedoch die Tatsachen und Entscheidungen der Jahre 1989/90, und in ihnen erblicken wir den Grundstein und die dauerhafte Basis für gegenwärtige und künftige Beziehungen zwischen unseren Staaten. Ich denke hier an den Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen im November 1989, der durch die denkwürdigen Berliner Ereignisse am 9. November unterbrochen, dann aber fortgesetzt und abgeschlossen wurde. Die polnische Öffentlichkeit begriff die Rückkehr des deutschen Bundeskanzlers nach Warszawa als wichtigen politischen Schritt, der die Bedeutung der Beziehungen zwischen unseren Staaten und Völkern an der Schwelle zu einer neuen Ära in der Geschichte akzentuierte. Gewürdigt wurde auch die Begegnung in Kreisau, und wahrgenommen wurde der Friedensgruß, den Bundeskanzler Helmut Kohl und der Ministerpräsident der polnischen Regierung Tadeusz Mazowiecki während der Heiligen Messe austauschten. Die gemeinsame Erklärung, die von beiden Regierungschefs am 14. November 1989 in Warszawa unterzeichnet wurde, der Vertrag zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze, der am 14. November 1990 in Warszawa unterzeichnet wurde, sowie der Vertrag zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der am 17. Juni 1991 in Bonn unterschrieben wurde, bildeten in unseren Augen in Polen, aber auch in der Einschätzung der Staaten in der Welt den Abschluß der tragisch belasteten Zeit in den gegenseitigem Beziehungen von Deutschen und Polen, eine optimistische Vorankündigung eines neuen Gefüges im Rahmen der gemeinsamen europäischen Ordnung. Der Begriff Europa läßt sich meiner Meinung nach nicht auf den rein geographischen Terminus verengen. In der Geschichte der Völker und Staaten dieses Kontinents hat dieser Begriff eine zivilisatorische Bedeutung angenommen. Er wurde zu einem kollektiven Symbol von fundamentalen Werten und Prinzipien. Europa, das bedeutet vor allem die Freiheit der Person, die Menschenrechte politische und ökonomische. Das ist eine demokratische und von Bürgern getragene Ordnung. Das ist der Rechtsstaat. Das ist die effektive Wirtschaft, die sich auf individuelles Unternehmertum und Initiative stützt. Gleichzeitig ist es die Reflexion über das Schicksal der Menschen und die moralische Ordnung, die den jüdisch-christlichen Traditionen und der unvergänglichen Schönheit der Kultur entspringt. Ein so verstandenes Europa war mit dem geographischen Europa nicht immer deckungsgleich. Zu Anbeginn der europäischen Geschichte war das Athen des Perikles Europa. Heute gehören zu den Erben der europäischen Zivilisation auch weit entfernt liegende Länder auf anderen Kontinenten wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien. Europa betrachten wir demnach als Zivilisationskreis. Die Zugehörigkeit zu Europa, das ist eine im Laufe der Geschichte bewußt vollzogene Wahl und Fixierung der obigen Werte. Die Tatsache, daß diese Werte zum Lebensfundament von Völkern auf anderen Kontinenten wurden, zeugt von ihrer Offenheit, vom Geist der Toleranz und des Dialogs. Die europäische Gesellschaft ist eine "offene Gesellschaft". Europa relegiert keine Völker aus seiner Gemeinschaft und isoliert sie nicht. Völker, die zum geographischen Europa gehören, können sich höchstens selbst aus der europäischen Zivilisationsgemeinschaft isolieren, so wie dies vor einigen Jahrzehnten die totalitären Staaten Sowjetraßland und das Deutschland Hitlers taten. Aber das gegenwärtige Deutschland, dieser demokratische Rechtsstaat, beweist, daß nicht nur eine Rückkehr in diese Gemeinschaft möglich ist, sondern daß man in ihr auch einen guten Platz einnehmen kann. Das zutiefst demokratisierte Deutschland ist zu seiner konstruktiven Rolle in der europäischen Geschichte und Kultur zurückgekehrt und bildet heute einen tragenden Pfeiler im gegenwärtigen Europa. So sehen die Polen das heutige Deutschland, und in diesem Vertrauen der Polen zu dem demokratischen Staat und dem deutschen Volk ist das Geheimnis einer raschen Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem jetzt unabhängigen Polen verborgen. Die Rückkehr Deutschlands zu Europa markieren bekanntlich solch grundlegende Daten wie 1949 - die Gründung der Bundesrepublik Deutschland -, danach ihre Aufnahme in die NATO - 1955 - und die Mitgründung der EWG 1957. Polen beginnt seine Rückkehr nach Europa nicht aus eigenem Verschulden erst 40 Jahre später, 1989. Es ist schon assoziiertes Mitglied in der Europäischen Union und assoziierter Partner in der Westeuropäischen Union sowie aktiver Teilnehmer des Nordatlantischen Rates der Zusammenarbeit und der Partnerschaft für den Frieden. In Zeiten, als wir im geographischen Europa verblieben waren, gehörten wir - nicht aus eigenem Entschluß - zu einer Zone von anderen Werten und Standards, haben aber unsere europäische Genealogie bewahrt. Die Zugehörigkeit zu den europäischen Werten, die ebenfalls unsere Kennwerte sind, mußte zum Widerstand und zum Aufbegehren gegenüber dem Sowjetismus führen. Diese Zugehörigkeit leitet uns heute strategisch in Richtung Integration mit den europäischen und euro-atlantischen Strukturen. Ein halbes Jahrhundert an Erfahrung aus den Jahren 1939 bis 1989 zwingt Polen dazu, nach solchen multilateralen Strukturen zu suchen, die ihm die Gewähr dafür bieten, den wirtschaftlichen und zivilisatorischen Rückstand aufzuholen und einen würdigen Platz unter den Völkern Europas und der Welt einzunehmen sowie internationale Sicherheit zu erlangen, die keinem der Nachbarn und keinem anderen europäischen Land zum Nachteil gereicht. Für solche Strukturen, die es erlauben, obige Ziele auf der Basis der Wertegemeinschaft und von institutionellen Lösungen zu verwirklichen, erachtet Polen vor allem die NATO, die Europäische Union und die Westeuropäische Union. Polen strebt in die NATO als ein Bündnis, deren Vertragspartner im Gründungsvertrag den Wunsch zum Ausdruck bringen "mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben", und den Willen, "die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten", sowie die Entschlossenheit, "ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen". Das fast fünfzigjährige Bestehen des Bündnisses hat bestätigt, daß diese Feststellungen keine Worthülsen geblieben sind. Polen strebt in die Europäische Union, weil es sich mit ihren fundamentalen Zielen solidarisch erklärt. Auch wir sind geleitet, ähnlich wie die Begründer der Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, "in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen", und genauso wie jene entschlossen, "durch diesen Zusammenschluß der Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen". Und wir antworten auf die Aufforderung zur Teilnahme an ihren Bemühungen als ein Volk, das deren Ideale teilt. Voll und ganz teilen wir auch den Standpunkt der Unterzeichnerstaaten des Vertrages über die Europäische Union von 1992 hinsichtlich der "historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen", die "das Bekenntnis zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit" bestätigen, unter dem Blickwinkel der Vertiefung der Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen" sowie in Sachen Fortsetzung des Prozesses "zur Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas". Die gemeinsame Geschichte von Polen und Deutschen ist eine schwierige Geschichte. Wir müssen möglichst schnell jene Zeit aufholen, die durch Mißtrauen, Verachtung, Feindschaft und Krieg verlorengegangen ist. So verstehe ich den Sendungsauftrag des heutigen demokratischen Polen, seiner Regierung und meinen eigenen Auftrag gegenüber Deutschland. Meine persönliche Lebenserfahrung enthält schmerzliche Erlebnisse und reichhaltige Beobachtungen. Dazu gehören acht Jahre bitterer Praxis in Gefängnissen und Lagern der Nazis und Kommunisten. Bis heute sage ich manchmal selbstironisch, daß die Diktatoren mich schlechtweg nicht leiden konnten, was letztlich auf voller Gegenseitigkeit beruht. Die Leiden der Menschen, deren hilfloser Zeuge ich häufig in den jungen Jahren meines Lebens gewesen bin, die Ausrottung der Elite meines Volkes und der in seinen Ausmaßen und Methoden beispiellose Massenmord an allen Juden regten dazu an, sich dem Bösen ohne Rücksicht auf die geringen Chancen zu widersetzen. Es ist nur vergönnt gewesen, an den Versuchen zur Rettung von mit dem grausamen Tode bedrohten Menschen teilzunehmen. Die Erfahrungen dieser wenigen furchtbaren Jahre, das Wissen um die Konzentrationslager, die Folterstätten und Gaskammern haben für mich ein für allemal die Entscheidung für meinen weiteren Lebensweg mit sich gebracht: gegen Haß, gegen Diskriminierung von Menschen, aus welchen Gründen auch immer - im Blick auf Rasse, Klasse, Nationalität oder Religion-, wie auch gegen intellektuelle Gewalt, wozu die Lüge in der Geschichte gehört und der Mangel an Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Auf diesem Wege habe ich viele Freunde getroffen und seitens vieler Menschen guten Willens nicht nur in meinem Lande, sondern auch in Israel, in den Vereinigten Staaten, hier in Deutschland, in Österreich und anderswo eine solidarische Unterstützung und Vertrauen erfahren. Die Erfahrungen meines Lebens, die Erfahrungen eines Brückenbauers geben mir gewiß das Recht dazu, hier und heute folgenden Appell zu formulieren: für ein rasches Handeln und Nutzen der riesigen Chance, die sich beiden Völkern für die Annäherung, die Harmonisierung der politischen Interessen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil bietet. Es fehlte in Polen nie an Menschen, die die in der Bundesrepublik nach dem Kriege sich vollziehenden tiefen demokratischen Veränderungen erkannt haben, die mit dem Wirtschaftlichen Aufschwung verbunden waren und die eine gut funktionierende freie Marktwirtschaft mit sich brachte. Die Leute aus der polnischen demokratischen Opposition haben schon in den siebziger Jahren eine Chance in der Vereinigung Deutschlands nach demokratischen Prinzipien erblickt, weil sie Europa an Polen und Polen an Europa herangeführt hätte, dessen integraler Bestandteil eben ein vereintes Deutschland gewesen wäre. Wirklichkeit wurde dies nach 1989. Man kann sagen, daß die Überwindung der Teilung Europas auf symbolischer Ebene in Berlin begonnen wurde, als die Berliner Mauer fiel. Dieser Prozeß schreitet voran. Damit er jedoch erfolgreich ist, muß er einige fundamentale Voraussetzungen erfüllen: Erstens muß er auf dem dauerhaften Fundament gemeinsamer europäischer Werte basieren. Vor allem die Akzeptanz dieser Werte sollte über die Zugehörigkeit zu Europa und den Institutionen, die seine Identität definieren, entscheiden. Zweitens: Unter den europäischen Werten erachten wir, die Polen, Offenheit gegenüber jenen Menschen als den wichtigsten Wert, die durch ihre alltägliche von Entbehrungen nicht freie und hartnäckige Arbeit zugunsten von Veränderungen einen Beweis dafür liefern, daß sie bereit sind, der gemeinsamen europäischen Sache zu dienen. Wir meinen, daß der Fortschritt im Bereich der Reformen in den postkommunistischen Staaten eng verbunden sein sollte mit der entsprechenden Intensität des Integrationsprozesses gegenüber diesen Staaten. Drittens: Seitens unserer westlichen Partner, auch Deutschlands, möchten wir klar den Willen erkennen, die europäischen sowie euro-atlantischen Institutionen zu öffnen und zu erweitern. Wir hoffen, daß im Westen nicht wiederum ein enger "Realismus" dominiert im Sinne von "Einflußzonen", "Puffern" oder Anerkennung von "historischen Interessen der Nachbargroßmächte, die in Jalta Triumphe gefeiert haben. Aus dem Obigen ergibt sich eine weitere, vierte Bedingung, nämlich daß der nach Osten ausgerichtete Integrationsprozeß nicht angehalten wird. Wir wollen weder alte noch neue europäische Teilungen. Wir wünschen einen ständigen Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses, zu dem die kürzlich erfolgte und besondere Etappe, die Vereinigung Deutschlands, gehört. Die prowestliche Orientierung der polnischen Politik bedeutet keine Abkehr vom Osten. Die Russische Föderation, die Ukraine und Weißrußland sind und bleiben unsere wichtigen Nachbarn. Das Streben Polens nach Mitgliedschaft in den euro-atlantischen Strukturen bedeutet nicht die Vernachlässigung von Instrumenten zur Schaffung von Solidarität und Sicherheit für alle Völker unseres Kontinents. Das Engagement Polens im Bereich der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist dafür der beste Beweis. Ein Beispiel für die Schaffung neuer Konstruktionen, die die alten Teilungen und Blöcke überwinden, ist die Zusammenarbeit Polens mit Deutschland und Frankreich im Rahmen des sogenannten Weimarer Dreiecks. Diese besondere Form der Zusammenarbeit von Staaten der Europäischen Union mit einem Land aus dem Bereich der ehemaligen sowjetischen Dominanz ist ein Symbol der Versöhnung von drei großen europäischen Völkern. Das frühere Gebiet der großen europäischen Kriege transformiert sich zu einem Pfeiler der Sicherheit des Kontinents. Dies sind nach unserem Verständnis die unverzichtbaren Voraussetzungen für die Verwirklichung der Konzeption Europa beziehungsweise gar der Rückkehr Europas zu sich selbst: zu seinen zivilisatorischen Quellen, zum Geist seiner Geschichte, zum Wesen seiner gegenwärtigen Herausforderungen. Auf dem gemeinsamen Wege zu einem guten Zusammenleben in Europa im zweiten halben Jahrhundert seit den furchtbaren Erfahrungen, denen wir heute unsere Überlegungen widmen, im 21. Jahrhundert, haben wir schon erhebliche Fortschritte gemacht. Eine wichtige Bedeutung hat hier die Gestaltung der Alltäglichkeit, die Entwicklung der Kontakte zwischen den Menschen auf beiden Seiten von Oder und Neiße, das Aufgreifen gemeinsamer Aufgaben und konkreter Projekte in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Ökologie. Diese Alltäglichkeit und Normalität zwischen Deutschen und Polen schätze ich ganz besonders. Ich glaube, wir vergessen manchmal zu leicht, wie weit entfernt wir von einer solchen Normalität noch unlängst waren. Als Leistung von besonderem Gewicht in unseren gegenseitigem Beziehungen betrachte ich die weitgehende Regelung der Minderheitenprobleme. Die Lösungen, die wir im deutschpolnischen Vertrag von 1991 gefunden haben, basieren auf den internationalen Standards und den KSZE-Dokumenten. Ihr Leitmotiv ist das übergeordnete Prinzip der Loyalität eines Angehörigen der Minderheit gegenüber dem Staat, in dem er lebt und dessen Bürger er ist. Dies schafft die richtige Verhaltensebene sowie die Entwicklungsgrundlage für die sprachliche und kulturelle Identität der Angehörigen der Minderheit. Die polnisch-deutschen Regelungen und ihre Umsetzung werden heute von vielen anderen Staaten als gutes Modell zur erfolgreichen Lösung von Minderheitenproblemen betrachtet, handelt es sich doch um ein Problem, das in der Vergangenheit nicht nur vom Hitlerregime auf zynische Weise ausgenutzt wurde. Auch heute gehört es leider zu den konfliktträchtigsten und gefährlichsten Themen auf unserem europäischen Kontinent. Seit 1989 wurde in der Lage polnischer Bürger, die Angehörige der deutschen Minderheit sind, ein unbestrittener deutlicher Fortschritt erzielt. Diese Meinung teilen ebenfalls die Betroffenen. Nach Möglichkeit gewähren polnische Stellen auch materielle Hilfe, insbesondere für Kulturprojekte, beim Sprachunterricht und bei der Unterstützung von Verlagen. Besondere Privilegien in der Wahlordnung zum Parlament erleichterten fünf Vertretern der deutschen Minderheit den Einzug in den Sejm und Senat der Republik Polen. Die gegenwärtige Lage schafft auch bessere Voraussetzungen für Polen und Personen polnischer Abstammung in Deutschland. Besonders wichtig wäre hier die richtige Wahrnehmung von Problemen und Bedürfnissen dieser Gruppe in bundesdeutschen politischen Kreisen. Es geht ebenfalls um eine praktische Hilfe der entsprechenden Stellen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene für die "Polonia" im Bereich ihrer kulturellen Arbeit, beim Polnischunterricht sowie bei der Selbstdarstellung in den Medien. Die bestehenden Probleme sind und werden schrittweise gelöst. Dafür bedarf es auf der einen Seite der Bereitschaft und Offenheit und auf der anderen Seite des Verantwortungsgefühls für die entsprechende Richtung bei der Gestaltung der gegenseitigem Beziehungen seitens aller beteiligten Personen und Einrichtungen in unseren beiden Staaten. Es gibt eine echte Chance dafür, daß jene Personen in Polen und in Deutschland, die ihre Bindungen zum jeweils anderen Land verspüren, künftig zu einer dauerhaften Brücke der polnisch-deutschen Verständigung und Zusammenarbeit werden. Es gibt heute keinerlei grundlegende Streitfragen in den polnisch-deutschen Beziehungen. Wir haben viele Mechanismen zur Lösung laufender Probleme erarbeitet. Wir haben neue Institutionen geschaffen, die die bilateralen Kontakte bereichern, wie zum Beispiel das Polnisch-Deutsche Jugendwerk, polnisch-deutsche Stiftungen, die Europäische Universität "Viadrina" in Frankfurt an der Oder oder die Wirtschaftsförderungsgesellschaft. Es entwickelt sich die Zusammenarbeit der Euroregionen, die Grenzübergänge bauen wir aus, um wenigstens teilweise dem lawinenartigen Anstieg im Grenzverkehr und beim Warentransport gerecht werden zu können. Die vertraglichen Regelungen und das enge Netz von bilateralen Einrichtungen machen unsere Beziehungen stabil und in beträchtlichem Maße unabhängig von politischer Unentschlossenheit und von Erschütterungen. Wir haben jedoch noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Beträchtlich mehr zu tun wäre für die Förderung der Kontakte zwischen der Bevölkerung beider Länder, für den polnisch-deutschen Jugendaustausch - das Jugendwerk -, der die neue Etappe in den gegenseitigem Beziehungen symbolisieren und die Annäherung beider Völker kennzeichnen sollte. Es ist nicht meine Aufgabe, meine Damen und Herren, die Diskussion zu bewerten, die hier seit einigen Wochen um den 8. Mai 1945 geführt wird, insbesondere den Deutschen eine Antwort auf die Frage zu empfehlen, ob dies für sie ein Tag der Befreiung oder der Niederlage, ein Tag der Freude oder der Trauer gewesen ist. Die Antwort auf diese Frage hinge vor allem vom Bewußtseinsstand jener Menschen ab, die damals lebten und handelten. Voll verständlich ist ihr Schmerzgefühl wegen des Verlustes von Angehörigen, jedoch schwer zu respektieren wäre ein Schmerzgefühl wegen des verlorenen Krieges; denn zusammen mit dem durch das Dritte Reich verlorenen Krieg hat auch jenes System verspielt, das für viele Völker Vernichtung und Unglück brachte, ebenfalls den Deutschen selbst. Als einer der Zeitzeugen kann ich die Dramatik der Worte nachempfinden, die vor zehn Jahren durch den deutschen Patrioten und Europäer Richard von Weizsäcker ausgesprochen wurden: "Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden. Während des Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet. Am Ende bleibt nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen. Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden." Diese Worte machen die logische Abfolge von Ursache und Wirkung deutlich. Für viele Opfer jener Zeit und deren Familien ist der 8. Mai bis heute ein Tag der Reflexion darüber, ob der Beginn des Bösen und der Vorbote des Unglücks der 30. Januar 1933 war oder erst die juristisch fixierten Prinzipien der unmenschlichen Diskriminierung von Menschen, nämlich die Nürnberger Gesetze von 1935, oder auch das erste aggressive Vorgehen des Dritten Reiches gegenüber den Nachbarstaaten. Sicher ist jedenfalls, daß die ersten Schüsse des Zweiten Weltkrieges gegen die Polen und den politischen Staat am 1. September 1939 abgefeuert wurden und daß der an diesem Tag entfesselte Krieg auf den Ruinen von Berlin und anderen deutschen Städten am 8. Mai 1945 beendet wurde. Ich habe an diesem Krieg, den ich nicht gewollt habe, selbst teilgenommen, und ich bin, wie ich meine, in der Lage, verschiedene individuelle Argumente und Erfahrungen der Menschen zu verstehen; jedoch auch nach Ablauf eines halben Jahrhunderts fühle ich mich verbunden mit den Opfern von Aggression und Gewalt, mit den Opfern von Unterdrückung und Verbrechen. Ich kann nicht in einem Atemzug Opfer und Täter nennen oder auch jene, die das Böse passiv akzeptiert haben. Ich denke, daß eine solche Unterscheidung im Interesse von uns allen liegt, uns, den Menschen guten Willens, die wir besorgt sind wegen jedweder Brutalität zwischen Menschen und Völkern, wo immer wir sie im heutigen Europa, in der heutigen Welt erblicken. Das Gedenken und historische Reflexion müssen unsere Beziehungen begleiten. Sie sollten dafür jedoch nicht Hauptmotivation sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen. Die Beziehungen unserer Völker und Staaten haben heute eine europäische Dimension erlangt. Unsere Nachbarschaft wird in hohem Maße darüber entscheiden, ob und wann das geteilte Europa zusammenwachsen wird. Die Zusammenarbeit beider Staaten im geeilten Europa gehört heute zu den wichtigsten Zielen und Begründungen unserer bilateralen Beziehungen. Sie verleiht ihnen den Sinn und liefert dafür vielerlei Motivationen mit Blick auf die junge Generation von Polen und die junge Generation von Deutschen, auf die, so walte Gott, glücklichen Menschen des 21. Jahrhunderts.