Deutsche Gründungserzählungen im Leistungsvergleich (Blätter-Gespräch)
In diesen Tagen feiert die erweiterte Bundesrepublik von Amts wegen den 5. Jahrestag des DDR-Beitritts. Wie wenig Einheit "die Einheit" seit jenem 3. Oktober 1990 in den Köpfen gestiftet hat, signalisieren im Herbst 1995 drastisch genug Tonlage und Argumentationsmuster der politischen Verdammungsurteile, auf die Günter Grass mit seinem Versuch einer literarischen Bewältigung des Themas - wahrlich "Ein weites Feld" - gestoßen ist. "Überholen ohne einzuholen" lautete das Rezept, das Walter Ulbricht der DDR verschrieb, als die Aussichtslosigkeit der seinerzeitigen Ost-West-"Aufholjagd" unübersehbar wurde. Was für die Schwierigkeiten der DDR im Umgang mit dem "Wirtschaftswunder" stehen mag, ließe sich reziprok auf das Verhältnis der Bundesrepublik zur "Bewältigung" der NS-Vergangenheit übertragen.
Die "Blätter" haben sich in den letzten Heften mit einer Reihe von Beiträgen um Antworten auf die Frage bemüht, was mit Blick auf die säkulare Zäsur von 1945 - aus der Tatsache folgt, daß nach Selbstaufgabe und "Anschluß" der DDR 1989/90 staatsförmig allein die westliche Variante des Bruchs mit dem "deutschen Sonderweg" fortexistiert.