Gemeinsames Wort der christlichen Kirchen zu Asyl- und Ausländerpolitik vom 4. Juli 1997 (Auszüge)
Wiederholte Anschläge auf Kircheneinrichtungen in Lübeck sowie damit verknüpfte Drohungen an die Adresse eines Pastors, dessen Gemeinde von Abschiebung bedrohten Ausländern Kirchenasyl gewährten, haben dafür gesorgt, daß dem gemeinsamen Wort der christlichen Kirchen in Deutschland zu den "Herausforderungen durch Migration und Flucht" besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. In unerwarteter Deutlichkeit kritisieren sie darin die "Unfähigkeit de r Politik in diesem Bereich und fordern dazu auf, Einwanderung als Realität zu akzeptieren und entsprechende Integrationskonzepte zu erstellen. Für Aufregung sorgte vor allem auch die Haltung der Kirchen zum Kirchenasyl, von dem Innenpolitiker der Regierungskoalition behaupten, es gefährde den Rechtsstaat. Anfang Oktober äußerte der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz Bischof Karl Lehmann daher, Nacharbeit und Erläuterung seien dringend erforderlich. Die Gemeinsame Erklärung war bereits seit Anfang 1993 als die Änderung des Artikels 16, Abs. 2 GG bevorstand, vorbereitet worden. Wir dokumentieren die beiden zusamenhängenden Abschnitte zu Zuwanderung und Integration sowie den Abschnitt zum Kirchenasyl jeweils ungekürzt. - D. Red.
Gesamtkonzept für die Zuwanderung
(168.) Die in Deutschland geltenden legislativen und administrativen Regeln über Einreise und Aufenthalt von Zuwanderern werden den Anforderungen in Einzelbereichen nicht mehr gerecht. Die gewandelte Stellung Deutschlands in der Staatenwelt zum Ausgang dieses Jahrhunderts verlangt teilweise eine Neubestimmung der Einstellung gegenüber Angehörigen anderer Staaten. Zur Sicherung der notwendigen Bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört es auch, Konsequenzen aus seiner Rolle als Mittelpunkt des Lebens und Arbeitens vieler Nichtdeutscher zu ziehen.
(169.) Das mit der Öffnung Osteuropas sichtbar gewordene Wirtschaftsgefälle und die damit verbundenen Wanderungsbewegungen zwingen zu einer Neuorientierung. Die Hilfe für die Reformstaaten im Osten und Südosten Europas muß durch ausländerpolitische Maßnahmen unterstützt und abgesichert werden. Welche Mittel hierfür am besten geeignet sind, ob Finanz oder Ausbildungshilfe oder aber die zeitweilige Zulassung von Arbeitskräften zum deutschen Arbeitsmarkt, muß mit Rücksicht auf die Interessen dieser Staaten und ihrer Bürger entschieden werden. Die Belange der in Deutschland lebenden Menschen - Einheimische wie Ausländer - dürfen dabei nicht außer acht gelassen werden.
(170.) Die bisherigen Modelle müssen überdacht, neue Wege müssen gesucht werden. Vor allem kann auf eine von Experten schon früher vermißte Gesamtkonzeption für Zuwanderung und Eingliederung jetzt nicht mehr verzichtet werden. Ohne durchschaubare und verläßliche Zuwanderungsregeln gerät Deutschland in Gefahr, das Verhältnis zu den Zuwanderern nur unter tagespolitischen Gesichtspunkten zu betrachten.
(171.) Die Rechtsstellung von Ausländern ist herkömmlich Gegenstand ganz verschiedenartiger Gesetze. Diese waren in den letzten Jahrzehnten aufgrund aktueller Bedürfnisse mehrfachen Änderungen unterworfen, ohne daß jeweils die Auswirkungen auf andere Regelwerke ausreichend geprüft und die notwendigen Angleichungen vorgenommen worden sind. Das Gesamtgefüge ist nurmehr von Spezialisten durchschaubar.
(172.) Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Änderungen des Asylrechts im wesentlichen als verfassungsgemäß bestätigt hat, sind insoweit neue einschneidende Regelungen nicht zu erwarten. Vor der Asylrechtsänderung 1993 sind seitens der Kirchen Mindestanforderungen formuliert worden, insbesondere hinsichtlich eines offenen Zugangs in die Bundesrepublik Deutschland, eines an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientierten Verfahrens und eines wirksamen Abschiebungsschutzes. Diese Mindestanforderungen sind durch die erfolgten Gesetzesänderungen nicht in befriedigender Weise erfüllt worden. Darüber hinaus müssen die Regelungen über Anordnung und Vollzug der Abschiebungshaft sowie die tatsächlichen Haftbedingungen strikt an der Achtung der Menschenwürde und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet werden.
(173.) Inzwischen ist der weitere Zuzug der Spätaussiedler durch Gesetz auf jährlich maximal knapp 250 000 Personen beschränkt. Damit ist die Aufnahme planbar und kommt mittelfristig zum Abschluß. Durch Ausführungsbestimmungen wird der geregelte Zuzug im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gesichert. Das schließt nicht aus, im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für Zuwanderung andere rechtliche Regelungen für den Zuzug deutscher Staatsangehöriger und Volkszugehöriger aus den Aussiedlungsgebieten zu finden.
(174.) Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz wurde unter anderem aus deutschland-politischen Gründen vor der Beendigung der Teilung nicht den Zeiterfordernissen angepaßt. Seine Einbürgerungsbestimmungen sind nicht genügend mit den im neuen Ausländergesetz gewährten Ansprüchen auf Einbürgerung abgestimmt. Diese stehen andererseits mit den Regeln über die Aufenthaltsverfestigung nicht voll im Einklang.
So wird für die Aufenthaltsberechtigung als der höchsten Stufe der Aufenthaltstitel die Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen für 60 Monate verlangt, während die Einbürgerung auch ohne diese Bedingung beansprucht werden kann. Die Reform sollte zugunsten von in Deutschland geborenen Kindern bereits lange rechtmäßig hier lebender Eltern auch Elemente des Territorialprinzips ("ius soli") anstelle der bislang ausschließlichen Orientierung am Abstammungsprinzip ("ins sanguinis") aufnehmen.
(175.) Um die äußerst unbefriedigende Lage der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge angemessen zu gestalten, ist es geboten, die zu ihren Gunsten erlassenen Bestimmungen um eine gerechte Kostenregelung zwischen Bund und Ländern zu ergänzen. Dies ist ein wesentlicher, bisher nicht eingelöster Bestandteil des 1993 für die Asylrechtsänderung gefundenen Kompromisses. Durch einen befriedigenden Schutz der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge kann ein wirksamer Beitrag zum Erhalt des Friedens und zur Lösung des Weltflüchtlingsproblems geleistet werden. Auch hierbei ist ein System europäischer Lastenverteilung unverzichtbar.
(176.) Die Ziele der Ausländerrechtsreform von 1990, Erwartensund Rechtssicherheit zu schaffen und damit die Integration der Ausländer zu erleichtern sowie die Akzeptanz auf seiten der deutschen Bevölkerung zu verbessern, wurden nicht in dem erwarteten Umfange erreicht. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und nicht allein durch gesetzgeberische Maßnahmen zu beheben.
Dennoch erscheint es unumgänglich, die normativen Grundlagen für Einreise und Aufenthalt sowie die Einbürgerung von Ausländern zu Überdenken, anhand veränderter Ausgangsdaten neu zu gewichten und überschaubar zu ordnen.
(177.) Zu diesem Zweck muß das Ausländerrecht aus dem Bereich des Polizeirechts gelöst werden. Es geht nicht an, Ausländer maßgeblich aus der Perspektive der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu betrachten, ihre persönlichen Bedürfnisse dem staatlichen Interesse an der Gefahrenabwehr unterzuordnen und damit den Schutz ihrer personalen Würde hintanzustellen. Die mit dem Zuzug und dem Aufenthalt von Wanderarbeitnehmern und deren Familienangehörigen zusammenhängenden Fragen müssen zuvörderst unter den Gesichtspunkten von Menschenwürde, Arbeitsrechten, Familienschutz und Verhältnismäßigkeit gesehen und einer Lösung zugeführt werden. Nur wenn das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen auch rechtlich als Gegenstand der gemeinsamen Daseinsvorsorge ausgestaltet wird, werden die Ausländer von dem Anschein befreit, sie gefährdeten die einheimische Bevölkerung bereits durch ihre bloße Existenz. Dazu bedarf es einer klaren Wegweisung, mit welchem Ziel, in welchen Formen und unter welchen Voraussetzungen künftig eine Zuwanderung gestattet sein soll und die notwendigen Beiträge beider Seiten - der Ausländer wie der Deutschen - für eine erfolgreiche Integration geleistet werden können.
(178.) Vor allem sollten diejenigen Korrekturen zugunsten von Wanderarbeitnehmem und ihren Familienangehörigen vorgenommen werden, die sich aufgrund der zwischenzeitlichen praktischen Erfahrungen und zur besseren Integration als notwendig erwiesen haben, nämlich Verbesserungen für Wiederkehrer, nachziehende Familienangehörige, Ehegatten, nichteheliche Kinder und ihre Väter sowie Bewerber um eine Aufenthaltsberechtigung ohne fünfjährige Rentenanwartschaften. Die sehr differenzierten Voraussetzungen für die Zulassung des Erwerbsaufenthalts von Arbeitnehmern aus anderen als EU-Staaten, also die Ausnahmen vom Anwerbestopp, müssen durch das Gesetz selbst festgelegt werden. Die auf Assoziationsrecht beruhende Rechtsstellung der türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen bedarf unbedingt der Klarstellung durch Gesetz. Sie kann um der Glaubwürdigkeit der deutschen und der europäischen Ausländerpolitik willen nicht länger dem Ermessen der Behörden und der langwierigen und kostspieligen Prozeßführung im Einzelfall überlassen bleiben.
(179.) Die im Interesse der heimischen Wirtschaft und strukturellen Förderung anderer Länder erlassenen Vorschriften über temporäre Aufenthaltsrechte für Arbeitnehmer sollten ebenfalls in das Gesetz selbst aufgenommen und nicht weiter dem Verordnungsgeber überlassen werden. Die notwendige Flexibilität könnte dadurch sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber einen zahlenmäßigen Spielraum vorgibt und die Verwaltung ermächtigt wird, diesen mit Zustimmung des Bundesrates je nach Wirtschaftslage auszufüllen.
(180.) Ob die geforderten Bestimmungen im mehreren Gesetzen oder in einem einzigen Gesetzeswerk eine Regelung erfahren, ist eher zweitrangig. Wesentlich ist vor allem, daß alle Regelungen jeglicher Zuwanderung jederzeit dem Anspruch auf strikte Einhaltung der Menschenwürde und dem Gebot der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit entsprechen. Diese Prinzipien dürfen auch nicht im Rahmen des Ermessenshandeln von Behörden in Frage gestellt werden. Schließlich sollte der Überlegung nachgegangen werden, ob für Zuwanderung nicht Quoten für zu bestimmende Kontingente festgelegt werden können. Dabei wird nicht verkannt, daß die Einführung von Quoten und möglichen Auswahlkriterien problematisch sein kann.
So dürfen Asylbewerber, Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und deren Zusatzprotokoll von 1967, Staatsangehörige eines Drittstaates, und Personen, die im Rahmen der Familienzusammenführung aufgenommen werden, nicht unter entsprechende Höchstgrenzen fallen, da sie ein unantastbares und unveräußerliches Recht auf einen rechtmäßigen und unbefristeten Aufenthalt haben.
(181.) Auf eindeutige politische Vorgaben aufgebaute gesetzliche Zuwanderungsregelungen konnten nach alldem nicht nur die Rechtslage für Ausländer wie für Deutsche transparenter machen, sondern auch den Anteil der in Deutschland ohne Aufenthaltsstatus lebenden Menschen verringern und damit die Bereitschaft zur Achtung und Anerkennung des Gesetzes stärken. Dabei ist jedoch wichtig anzuerkennen, daß kein wie immer geartetes akzeptables Instrument unerlaubte Zuwanderung gänzlich verhindern kann und daß es für Folgeprobleme solcher Zuwanderung keine abschließenden Lösungen gibt. Dennoch gilt: Je großer der Migrationsdruck in Zukunft sein wird, desto wichtiger werden Rechtsklarheit und -sicherheit in allen Zuwanderungsbereichen.
Rechtliche Integration
(182.) Eine Gesamtregelung der Zuwanderung bliebe Stückwerk ohne eine verstärkte rechtliche Integration und ohne wirksame Verbesserungen bei der politischen Mitbestimmung und den Bürgerrechten. Die Lage der auf Dauer bei uns und mit uns lebenden Ausländer sollte nicht allem nach den geltenden Rechtsregelungen über die Stellung von Minderheiten betrachtet werden. Es gilt auch, Schwierigkeiten tatsächlicher Art bei der von beiden Seiten erwünschten Integration durch eine darüber hinausgehende Gesetzgebung zu beheben.
(183.) Es ist an der Zeit, alle verfassungsrechtlichen Möglichkeiten für Veränderungen des Einbürgerungs- und des sonstigen Staatsangehörigkeitsrechts auszuschöpfen, um die Eingliederung von Ausländern nicht an Regeln scheitern zu lassen, die der weithin gegebenen Einwanderungsituation nicht mehr gerecht werden. Auch in diesem Zusammenhang sind nicht die rechtstechnischen Mittel ausschlaggebend, sondern das politische Ziel und die Bereitschaft, Einbürgerungsbegehren auch als Bereicherung für das Staatsvolk zu begreifen und zu unterstützen. Zu diesem Zweck sollte die Erweiterung der Anspruchstalbestände ebenso in Betracht gezogen werden wie eine begrenzte Einführung des Territorialitätsprinzips und die Hinnahme einer Mehrstaatigkeit, wenn die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit des Herkunftsstaates für den Betroffenen unzumutbar ist.
(184.) Der Zwang zum Verzicht auf die Herkunftsstaatsangehörigkeit trifft vielfach auf emotionale Barrieren der Betroffenen. Er bedeutet für viele einen Bruch mit der Kultur, mit der Geschichte und Vergangenheit, vor allem aber einen Bruch mit menschlichen und familiären Bindungen.
Denn der bisher geforderte Verzicht auf die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes bedeutet für viele ein erzwungenes Abschneiden von den Wurzeln der Herkunftskultur. Auch die zweite und dritte Generation fühlt sich oft mit ihrer Identität noch in der elterlichen Kultur verwurzelt.
(185.) Unabdingbar bleibt eine sachgerechte Lösung für Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ihre Aufnahme in den deutschen Staatsverband ist spürbar zu erleichtern, um ihre beständige Ausgrenzung und damit einhergehende soziale Diskriminierungen zu vermeiden. Dabei muß das Kindeswohl im Vordergrund stehen. Zwar darf die Staatsangehörigkeit Zuwanderern und deren Familienangehörigen nicht aufgedrängt werden. Aber auf die legitimen Wünsche und die objektiven Belange von Kindern und Jugendlichen muß mehr als bisher Rücksicht genommen werden. Es wäre weder gerecht noch klug, den in Deutschland heranwachsenden jungen Menschen von ausländischen Eltern das staatsangehörigkeitsrechtliche Anderssein tagtäglich vor Augen zu führen und gleichzeitig Hürden bestehen zu lassen, die sie von der Einbürgerung fernhalten. (186.) Nach der Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger bedarf es einer erneuten sorgfältigen Prüfung, auf welche Weise die Teilhabe der Nichtdeutschen an der politischen Verantwortung für das Gemeinwesen gefördert und gestärkt werden kann. Da die Verleihung des vollen Wahlrechts an alle Ausländer an verfassungsrechtlichen Hürden scheitert, sollten andere Möglichkeiten der politischen Partizipation untersucht werden, die über die beratenden Kompetenzen der Ausländerbeiräte und der Ausländerbeauftragten hinausgehen.
Hilfe und Schutz bedrohter Menschen im Einzelfall ("Kirchenasyl")
(255.) Immer wieder kommt es vor, daß Kirchengemeinden Flüchtlinge und Asylbewerber vorübergehend in kirchlichen Räumen aufnehmen, um sie vor einer drohenden Abschiebung zu schützen. Nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel durch die Betroffenen sehen manche in der Gewährung eines solchen "Kirchenasyls" häufig die letzte Möglichkeit, um in einem konkreten Einzelfall Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden und eine drohende Gefahr für Leib und Leben im Rückkehrland abzuwenden. Die Bemühungen der Zuflucht gewährenden Kirchengemeinden sind dabei regelmäßig darauf gerichtet, bei den verantwortlichen Stellen eine erneute Überprüfung des Falles unter Berücksichtigung aller in Betracht zu ziehenden rechtlichen sozialen und humanitären Gesichtspunkte zu erreichen sowie eine Aufhebung der Abschiebeentscheidung zu erwirken. Tatsächlich hat sich in vielen dieser Fälle auch herausgestellt, daß Abschiebehindernisse vorlagen oder Gefahren für Leib, Leben und Freiheit im Asylverfahren nicht erkannt wurden. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" haben seit 1983 etwa 2 500 Personen in Kirchengemeinden Schutz vor einer unmittelbar bevorstehenden Abschiebung gefunden. In etwa 70% der Fälle von Schutzgewährung von Kirchengemeinden konnten diese rechtliche oder humanitäre Lösungen zugunsten bedrohter Flüchtlinge erwirken. Diese reichten von einer Anerkennung nach Art. 16a GG bis hin zur freiwilligen Rück- oder Weiterreise in Zusammenarbeit mit den Behörden.
(256.) Die kirchlichen Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit im allgemeinen und diejenigen mit der Schutzgewährung durch Kirchengemeinden im Einzelfall im besonderen belegen, daß angesichts der anhaltend großen Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die in Deutschland Schutz suchen, und einer weitgehenden Schematisierung der Anerkennungsregeln sorgfältige Einzelfallüberprüfungen nicht immer vorgenommen werden können. Rechts- und Verfahrensverstöße können deshalb vorkommen. Das Asylrecht stellt auf den unbestimmten Rechtsbegriff der "politischen Verfolgung" ab.
Ob eine solche gegeben ist oder nicht, hängt davon ab, ob sich konkrete Tatsachen feststellen lassen, aus denen der Rückschluß auf eine politische Verfolgung zu ziehen ist. Das setzt voraus, daß das Tatsachenmaterial vollständig ist und verlangt, daß dem Betroffenen ausreichend rechtliches Gehör geschenkt wird. Die auf dieser Grundlage vorgenommenen Bewertungen bleiben wie bei jedem Akt menschlicher Erkenntnis naturgemäß Zweifeln unterworfen. Es ist daher verständlich und auch legitim, wenn Kirchengemeinden in bestimmten Einzelfällen nach gewissenhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich schützend vor einen Menschen stellen zu müssen, um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende Grundrechtsschutz versagt wird.
(257.) Gleichwohl ist und bleibt die Praxis des "Asyls in der Kirche" umstritten, vor allem wenn sie zu Konflikten mit staatlichen Stellen führt. Weder nehmen die Kirchen damit aber für sich einen rechtsfreien Raum in Anspruch noch bestreiten sie dem Staat das Recht, seine Entscheidungen gegebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume durchzusetzen. Es ist von ihrem Selbstverständnis her Aufgabe der Kirchen, immer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen verletzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen ergibt. Die Praxis des sogenannten "Kirchenasyls" ist nicht zuletzt auch eine Anfrage an die Politik, ob die im Asyl- und Ausländerrecht getroffenen Regelungen in jedem Falle die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen und vor Verfolgung, Folter oder gar Tod bewahren. Kirchengemeinden, die sich für die Verwirklichung dieser Menschen- und Grundrechte ersetzen, stellen daher nicht den Rechtsstaat in Frage, sondern leisten einen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens und der Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie verdienen für ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den Grundlagen unseres Glaubens gehören grundsätzlich Unterstützung und Anerkennung. Diejenigen, die aus einem Gewissenskonflikt heraus weitergehen und sich zu einem begrenzten Verstoß gegen bestehende Rechtsvorschriften entschließen, müssen dafür freilich wie bei allen Aktionen zivilen Ungehorsams auch selbst die Verantwortung tragen.